Ein radikaler Christ

Die Nachricht kam am 12. Februar: Am 8. Februar sei Martin Huthmann in Jaciara/Rondonópolis in Brasilien an den Folgen einer Lungenentzündung verstorben. Ich konnte zuerst gar nicht glauben, was ich da auf meinem PC las. Sicher, Martin war inzwischen ein alter Mann, im Dezember hatte er seinen 87. Geburtstag gefeiert. Aber es gibt Leute, bei denen man sich irgendwie nicht vorstellen kann, dass sie sterben. So einer war Martin.

Letztes Jahr im Februar war er mal wieder aus Brasilien nach Deutschland gekommen, unter anderem um sein 60-jähriges Priesterjubiläum zu feiern und Leute aus seiner Bonner Zeit zu treffen. Sein fortgeschrittenes Alter sah man ihm nicht an. Wie immer, wenn er hier war, wohnte er in seinem alten WG-Zimmer im Oscar-Romero-Haus, in dem auch die ila seit mehr als 32 Jahren ihr Büro hat. Wenn Martin nicht da war, war das „Huthmann-Zimmer“ immer der Raum im Haus, wo Leute lebten, die kurzfristig und vorübergehend eine Unterkunft brauchten.

Martin war in Berlin aufgewachsen, nicht gerade einer Hochburg des Katholizismus. Dennoch wurde die katholische Kirche für ihn die Institution, die sein ganzes Leben prägte, obwohl er oft mit ihr im Widerstreit stand. Bereits als Kind wäre für ihn klar gewesen, dass er Priester werden würde, sagte er mir einmal in einem Interview (siehe das Lebenswege-Interview in ila 178, September 1994). In der Nähe der Wohnung seiner Eltern habe es eine SS-Kaserne gegeben, und schon als Zehnjähriger habe er zumindest geahnt, was dort passierte. Dagegen hatte er die nahe gelegene Kirche als Ort des Schutzes und der Freiheit erlebt. Ein prägendes Erlebnis sei für ihn die Reichspogromnacht 1938 gewesen, als er auf dem Heimweg einen Jungen mit einem Judenstern verloren auf der Straße sah.

In den frühen 50er-Jahren studierte er katholische Theologie und wurde am 24. Februar 1958 im Kölner Dom zum Priester geweiht. Schon während des Studiums hatte er sich im Priesterseminar sehr unwohl gefühlt und das galt zunehmend auch für die ganze Atmosphäre in der Kirche, die sich in ihrer Autorität gefiel und in Selbstzufriedenheit erstarrt war. Er trat der Priestergemeinschaft Jesus Caritas bei, deren Mitglieder zum großen Teil in sozialen Brennpunkten arbeiteten.

Nachdem er als junger Priester zunächst in einer bürgerlich-mittelständischen Gemeinde tätig war, ging er Anfang der 60er-Jahre als Militärpfarrer zur Marine. Das sei eine sehr wichtige Zeit für ihn gewesen, betonte er öfter. Er fuhr mit den Schiffen jeweils für mehrere Wochen raus. Das Militärische habe ihn nie interessiert, wichtig seien die Gespräche mit den Besatzungen gewesen, jungen Wehrpflichtigen und Matrosen, die mit ihm über das sprachen, was sie bedrückte und worum sie sich sorgten. Bei der Marine habe er erstmals das wahre Leben kennengelernt. Er sah es als seine Berufung an, „einfach da zu sein“ auch für die der Kirche Fernstehenden.

Nach zehn Jahren als Militärpfarrer und einer kurzen Tätigkeit als Kaplan am Bonner Münster fragte ihn das Erzbistum Köln, ob er Pfarrer in der Bonner Katholischen Studentengemeinde (KSG) werden wolle. Er willigte ein, allerdings hatte bei der Besetzung der Stelle auch der Gemeinderat der KSG ein Mitspracherecht. Der war, Anfang der 70er-Jahre, keineswegs davon begeistert, dass ein ehemaliger Militärseelsorger in die Studentengemeinde kommen solle. Er musste dem Gemeinderat Rede und Antwort stehen und am Ende sei die Entscheidung nur sehr knapp zu seinen Gunsten ausgefallen.

Der Eintritt von Martin leitete eine tiefgreifende Veränderung in der Bonner KSG ein. Das soziale und dann auch das sozialpolitische Engagement nahmen immer größeren Raum ein, ebenso wie die Solidaritätsarbeit mit der Dritten Welt, vor allem mit Lateinamerika. Dabei war es keineswegs so, dass Martin die linken Ideen in die KSG getragen hätte. Er war zwar ein tief religiöser und persönlich konsequenter, aber noch kein politischer Mensch. Es war eher so, dass die Studierenden für eine politischere Ausrichtung der KSG eintraten und Martin als Pfarrer ihnen folgte und ihre Initiativen unterstützte. Eine besondere Bedeutung für die Gemeinde und für ihn persönlich bekam das Zeugnis von Oscar Romero, dem Erzbischof von San Salvador, der 1980 von rechten Todesschwadronen ermordet wurde.

Die Texte und Reflexionen Romeros brachte Martin häufig in die Gottesdienste der KSG ein, die stets gemeinschaftlich vorbereitet und gestaltet wurden. Als ich 1980 nach Bonn kam, war ich schon länger in linkschristlichen Zusammenhängen aktiv gewesen, so etwas wie diese Gottesdienste hatte ich aber noch nie erlebt. Es waren keine Rituale, sondern intensive Momente von Kollektivität und Spiritualität, die Kraft gaben, für unseren Traum von einer gerechten Gesellschaft zu kämpfen und uns von Niederlagen und Ignoranz nicht unterkriegen zu lassen.

Der Leitung des Erzbistums Köln wurde indessen immer suspekter, was in der Bonner KSG passierte. Als der leitende Hochschulpfarrer, Gottfried Weber, die Gemeinde verließ, begann die Kirchenleitung mit der Liquidierung der KSG. Neben den schon vorher kritisierten (sozial-)politischen Initiativen missfielen dem Bischöflichen Generalvikariat in Köln und der Bonner CDU das starke Engagement der KSG und speziell von Martin in der Friedensbewegung. Das wurde schließlich zum Anlass genommen, 1982 die Studentenpfarrer Martin Huthmann und Paul July abzusetzen. Martin sollte noch bis zur Bestellung eines Nachfolgers für ein halbes Jahr in der Gemeinde bleiben. Wenige Wochen später stellte der KSG-Gemeinderat einer Homosexuellen-Initiative einen Raum für eine Diskussionsveranstaltung zur Verfügung. Das Erzbistum Köln fand das skandalös und verbot die Veranstaltung in den kircheneigenen Räumen. Daraufhin verlegte der KSG-Gemeinderat die Diskussion in die Evangelische Studentengemeinde (ESG), blieb aber weiterhin Mitveranstalter. Das Erzbistum verlangte von Martin, sich von diesem Vorgehen zu distanzieren. Als er das ablehnte, wurde ihm mit sofortiger Wirkung die Leitung der KSG entzogen. Kurz darauf wurde die KSG ganz geschlossen und erst ein Jahr später als konservativ ausgerichtete „Katholische Hochschulgemeinde“ wieder eröffnet.

Da Martin während seiner Tätigkeit am Bonner Münster sein Leben mit den Menschen teilen wollte, verließ er die komfortable Kaplanswohnung und zog zusammen mit Studierenden und einem Ex-Knacki in das Haus Victoriastraße 27 (heute Heerstraße 205), das ihm von der Stadt Bonn zur Verfügung gestellt wurde. Das Haus war ehemals Frauengefängnis, 1944/34 eine Gestapo-Dienststelle und zuletzt Obdachlosenasyl gewesen. Seit es leer stand, verfiel es zusehends. Die Studis und Martin machten es wieder bewohnbar. Es wurde jahrelang renoviert. In dieser Zeit sah man Martin meistens im Blaumann auf der Baustelle. Der Dachboden wurde so gestaltet, dass er gleichzeitig als Raum für kleinere Veranstaltungen und als Kapelle für die Basisgemeinde genutzt werden konnte.

Nach seinem Rausschmiss aus der KSG waren Martin und viele derjenigen, die mit ihm in der KSG gearbeitet hatten, der Meinung, dass es in Bonn ein Wohn- und Initiativenprojekt brauche, auf das Staat und Kirche keinen Zugriff hätten. Da das Haus in der Heerstraße 205 der Stadt gehörte und der Nutzungsvertrag zudem vorsah, dass es verwaltungstechnisch dem Erzbistum Köln unterstand, ging das nur über den Weg, das Haus zu kaufen. Martin stellte sein Erbe für das Projekt zur Verfügung und bat bundesweit um Spenden. Durch ihren Kampf mit dem Erzbistum Köln waren Martin und die KSGler*innen überregional bekannt geworden und es fanden sich tatsächlich genügend Spender*innen, die die notwendige Summe zusammenbrachten, um das Haus von der Stadt zu erwerben. Wieder wurde renoviert. Die untere Etage wurde zu Büroräumen umfunktioniert, zwei Stockwerke zu Wohnungen für zwei WG-Projekte. Ohne dass es einen formalen Beschluss gab, war immer klar, dass das neue selbstverwaltete soziopolitische Zentrum Oscar-Romero-Haus heißen musste.

Martin hatte über Jahre seine ganze Kraft für den Aufbau des Hauses eingesetzt. Als der Kauf über die Bühne und die Renovierung weitgehend abgeschlossen war, zog er nach Brasilien. Ein Mitbruder seiner Priestergemeinschaft brauchte Unterstützung bei der Seelsorge in Jaciara, einer Kleinstadt im Bundesstaat Mato Grosso do Sul.

Am 21. Oktober 1983 beteiligte er sich noch an der Blockade des Bonner Verteidigungsministeriums durch Aktivist*innen der Friedensbewegung. Am nächsten Tag verließ er Deutschland. Von da an wirkte er als Gemeindepfarrer in Jaciara. Er arbeitete mit einem Netz von Basisgemeinden, baute mit Gemeindemitgliedern mehrere Kirchen, die, ähnlich wie der Dachboden im Oscar-Romero-Haus, sowohl für religiöse Veranstaltungen als auch für Treffen von sozialen Bewegungen genutzt werden, unterstützte die Landlosenbewegung MST und ökologische Initiativen. Mehr als 35 Jahre hielt er auch regelmäßig Gottesdienste im Gefängnis von Jaciara. Als er 2006 mit 75 Jahren als Pfarrer offiziell in den Ruhestand trat, blieb er in Brasilien und arbeitete weiter mit den Basisgemeinden für eine solidarische und gerechte Gesellschaft.