Als wir am 24. Dezember von einem Spaziergang aus dem nicht sehr weihnachtlichen Zentrum von Buenos Aires zurückkamen, erzählte uns unsere Gastgeberin Cristina traurig, Osvaldo Bayer (die Aussprache des Nachnamen liegt in Argentinien zwischen Bascher und Baischer) sei gestorben. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Schon wenige Stunden nach seinem Tod hatten sich etliche Bekannte aus der Menschenrechtsarbeit bei ihr trauernd gemeldet. Auch beim Abendessen mit Freund*innen war sein Tod das erste Thema. Erst glaubte man nicht, dass dieser wichtige Argentinier in Deutschland überhaupt bekannt war, Weit gefehlt, sagte ich. In den 70er- und 80er-Jahren, als Osvaldo als Flüchtling in Bonn und Berlin war, hätten wir viel mit ihm zu tun gehabt, er sei eine der wichtigsten Stimmen des argentinischen Exils in Europa gewesen. Die argentinischen Freund*innen wussten viel über Osvaldos publizistische und politische Tätigkeit und kannten seine Bücher, aber dieser Abschnitt aus seinem Leben war ihnen weitgehend unbekannt. Woher sollten sie auch in der bleiernen Zeit der Militärdiktatur mitbekommen haben, dass der große argentinische Publizist im klitzekleinen Hinterhofbüro der ila in der Bonner Römerstraße zusammen mit jungen deutschen Studierenden und Arbeitern die Öffentlichkeitsarbeit gegen die Diktatur und die nächsten Schritte der Kampagne „Fußball ja – Folter nein“ (zur Fußball-WM 1978 in Argentinien) diskutiert und geplant hatte.
Als Osvaldo Bayer 1976 als 49-Jähriger aus Argentinien fliehen musste, war er dort längst ein bekannter Autor. Vor allem sein mehrbändiges Werk La Patagonia Rebelde (dt. „Aufstand in Patagonien“, Frankfurt/M. 2010) über die brutale Niederschlagung eines Landarbeiterstreiks 1921/22 im argentinischen Süden, hatte in Argentinien eine neue Art der Geschichtsschreibung „von unten“ etabliert, die einer ganzen Generation junger Aktivist*innen einen anderen Blick auf die Geschichte ihres Landes eröffnete.
Osvaldo, dessen Großvater Sepp Payr (Osvaldos Vater hatten den Familiennamen geändert, weil Payr in Argentinien niemand aussprechen konnte) im 19. Jahrhundert als junger Mann vom Kalterer See in Südtirol nach Argentinien ausgewandert war, hatte Anfang der 1950er-Jahre in Buenos Aires und Hamburg Geschichte studiert. Ob er bereits in Deutschland auf die Geschichte von Kurt Gustav Wilckens gestoßen war oder erst später, zurück in Argentinien, auf ihn aufmerksam wurde, weiß ich nicht. Jedenfalls widmete er dem deutschen Anarchisten aus dem schleswig-holsteinischen Bad Bramstedt, der im Januar 1923 in Buenos Aires Oberst Héctor Varela, den Verantwortlichen für das Massaker an den Landarbeitern in Patagonien, getötet hatte, fast den gesamten letzten Band von La Patagonia Rebelde. Es hatte ihn offensichtlich tief beeindruckt, dass es dieser junge Aktivist, der erst kurz vorher nach Argentinien gekommen war, nicht hinnehmen wollte, dass der Massenmörder Héctor Varela unbehelligt und hochdekoriert in Buenos Aires lebte.
Den Anarchist*innen gehörte Osvaldos ganzes Herz. Als ich ihn einmal in dem Rheinstädtchen Linz, unweit von Bonn, traf, wo er zeitweilig mit seiner vor zwei Jahren verstorbenen Frau Marlies lebte, erzählte er mir stolz, er sei eines der letzten Mitglieder der historischen Gewerkschaftszentrale FORA[fn]In den 90er-Jahren haben junge argentinische Anarchosyndikalist*innen die FORA neu gegründet. Die neue Organisation sieht sich in der politischen Tradition der historischen FORA, personelle Kontinuitäten gibt es kaum.[/fn], zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine der wichtigsten anarchosyndikalistischen Organisationen in der Welt.
Als Osvaldo nach dem Ende der Diktatur nach Argentinien zurückkehren konnte, war er dort keineswegs vergessen. Endlich wieder in Buenos Aires, setzte er das fort, was er im Exil mit großem Engagement getan hatte, nämlich für die Durchsetzung der Menschenrechte zu kämpfen und beharrlich nach dem Schicksal der „Verschwundenen“ zu fragen. Die Zusammenarbeit mit den Müttern der Plaza de Mayo, die Aufklärung über das Schicksal ihrer während der Diktatur verschleppten Kinder forderten, hatte er schon von Europa aus begonnen. In Buenos Aires wurde diese Verbindung noch enger. Er wurde einer der wichtigsten publizistischen Fürsprecher der Madres. Seine wöchentlichen Kolumnen in der linksliberalen Tageszeitung „Página 12“ griffen unablässig die Forderung von „Wahrheit und Gerechtigkeit“ auf, das heißt Aufklärung über das Schicksal der „Verschwundenen“ und juristische Verfolgung der Täter. Dabei kam er immer wieder auch auf Elisabeth Käsemann zu sprechen, die 1977 von den argentinischen Militärs verschleppt und ermordet worden war. Sie war für ihn in gewisser Weise eine Wiedergängerin von Kurt Gustav Wilckens. Auch sie war eine junge Deutsche, auch sie hatte ihr Leben in Argentinien verloren, weil sie himmelschreiendes Unrecht nicht hinnehmen wollte, nicht indem sie einen Massenmörder tötete wie seiner Zeit Wilckens, sondern indem sie mit anderen in einer klandestinen Werkstatt Papiere für untergetauchte Genoss*innen oder solche, die dringend außer Landes mussten, fälschte.
Durch sein kontinuierliches politisches, publizistisches und in den letzten 25 Jahren auch filmerisches Engagement wurde Osvaldo Bayer in Argentinien immer mehr zur moralischen Autorität, von den wirtschaftlichen und militärischen Eliten gehasst, von den demokratisch gesinnten Teilen der Gesellschaft verehrt und als Vorbild geschätzt.
Dabei kam ihm sehr zugute, dass er zwar immer im Zentrum der politischen Auseinandersetzungen, aber gleichzeitig außerhalb der linken Grabenkämpfe stand, vor allem jenseits des ewigen argentinischen Konfliktes zwischen Trotzkist*innen und linken Peronist*innen. Seine Richtschnur war nicht die Analyse der politischen Kräfteverhältnisse und der sich daraus ergebenden Perspektiven und (Un-)Möglichkeiten und erst recht nicht das, was politisch opportun, sondern schlicht das, was für ihn richtig oder falsch war. Bestimmend für solche Überzeugungen und Werte war wiederum seine anarchistische Grundhaltung. In diesem Sinn war er ein radikaler linker Moralist.
Genau dadurch war er in der Lage, Menschen aus ganz unterschiedlichen Gesellschafts- und Altersschichten, gerade auch sehr viele junge Leute, anzusprechen. Nicht nur für letztere war er eine positive Vaterfigur. Eine argentinische Freundin meinte, nach seinem Tod fühlten sich viele Argentinier*innen irgendwie als Waisen.
Dabei sah sich Osvaldo mitnichten als Prediger oder Sinnstifter in einer neoliberal geprägten Gesellschaft, der die Wertmaßstäbe abhanden gekommen waren. Er hatte eine sehr klare Sicht auf die ökonomischen und politischen Strukturen, ließ nie einen Zweifel daran, auf welcher Seite er stand. Er hielt stets auch der mittelständisch geprägten argentinischen Linken den Spiegel vor und ermahnte sie, sich nicht auf die Nabelschau im eigenen sozialen Milieu zu beschränken. Eher sollten sie reflektieren, was die Fragen und Probleme derjenigen sind, die „unten“ sind, der stetig wachsenden Zahl der Argentinier*innen, die unter der Armutsgrenze leben. Den sozialen Bewegungen aus diesen Sektoren, ihrer Selbstorganisation und ihren Widerstandsformen galten seine Sympathie und sein Engagement.
Den Regierungen von Néstor und Cristina Kirchner hielt er zugute, dass sie eine sozialere Agenda hatten als jede ihre Vorgängerinnen seit den 80er-Jahren und vor allem, dass sie den Weg für die juristische Aufarbeitung der Diktatur und die Bestrafung der Täter freigemacht hatten. Das würdigte er auch öffentlich, weswegen gelegentlich der Eindruck entstand, seine Nähe zu den Kirchners sei größer, als es sich für einen guten Anarchisten ziemt. Aber genauso wenig wie jemand, der die Rolle Angela Merkels im „Flüchtlingssommer» 2016 verteidigte, gleich in die Nähe der CDU rückte, war Osvaldo zu einem Linksperonisten konvertiert.
Für die ila war er über fast vier Jahrzehnte ein treuer Begleiter. Nicht nur in der ersten Zeit seines Exils, auch als er später nicht mehr im Raum Bonn, sondern überwiegend in Berlin und dann wieder in Buenos Aires lebte, blieben wir in Kontakt und er unser Autor. Ich erinnere mich noch gut an seinen Beitrag unmittelbar nach der argentinischen Besetzung der Malvinen, der britischen Kolonie im Südatlantik, im April 1982. Im ila-info 55 vom Mai 1982 schrieb er dazu: „Das traurige Spektakel um die Malvinen (oder Falkland-Inseln), das seit Anfang April d. J. von zwei ‚westlichen’ Ländern dargeboten wird, macht aufs Eindringlichste klar, wie tief die moralische und materielle Krise der kapitalistischen Länder ist. England und Argentinien – Musterschüler des Chicagoer Monetarismus (wie der ökonomische Neoliberalismus damals genannt wurde – die Red.) – beide in einer katastrophalen Wirtschaftskrise steckend, sehen offenbar keine andere Möglichkeit als das Spiel mit dem Krieg.“ Und er wies darauf hin, dass dieser Krieg auch durch die Lieferung deutscher Waffen an die argentinische Diktatur möglich wurde: „Den Beitrag größter Ironie in dieser Tragikomödie liefern ausgerechnet die beiden Länder, welche die Diktatur der Generäle wirtschaftlich und politisch am meisten unterstützt und ihr die meisten Waffen verkauft haben. Es sind England und Deutschland, die erst jetzt entdeckt haben, daß es in Argentinien eine Diktatur gibt, die die Menschenrechte und ebenso das internationale Recht verletzt.“
Natürlich war Osvaldo auch bei unserer ersten Jubiläums-ila dabei, der von „prominenten“ Autor*innen gestalteten Nr. 100 im November 1986, in der er unter dem Titel „Die Mütter und die Demokratie“ über sein großes Thema jener Jahre, nämlich „Argentiniens unbewältigte Vergangenheit“, schrieb.
Zu den schönsten Texten, die in den bisherigen 42 Jahren in unserer Zeitschrift erschienen sind, gehört sein Nachruf auf den im Januar 1997 in Buenos Aires verstorbenen Schriftsteller Osvaldo Soriano. Zu dessen Tod erschienen in den Feuilletons zahlreiche Beiträge, die das literarische Schaffen Sorianos würdigten. Dazu schrieb Osvaldo Bayer in der ila fast gar nichts, obwohl er die Bücher seines 15 Jahre jüngeren Freundes liebte. Er erzählte stattdessen in der ersten Hälfte des Abschiedstextes eine Episode aus Sorianos Exil, die so klang, als sei sie einem von dessen wunderbar humorvollen Romanen entnommen. Während der Militärdiktatur lebte Soriano zeitweilig in Brüssel, wie viele Geflüchtete, unter prekären Bedingungen. Er war als Autor in Europa noch nicht so bekannt, dass er vom Schreiben hätte leben können. Weil die Stadtverwaltung von Brüssel festgestellt hatte, dass es bei den Enten und Gänsen in den öffentlichen Parks einen gewissen Schwund gab, den sie auf illegale Jagd zurückführte, betraute sie einige Geflüchtete mit der Aufgabe, täglich die Enten und Gänse in den städtischen Grünanlagen zu zählen. Einer der Zähler*innen war Osvaldo Soriano, der froh war, diesen Job bekommen zu haben, der ihm ein bescheidenes Auskommen sicherte und gleichzeitig Zeit zum Schreiben ließ. Doch dann stellte er fest, dass die Zahl des Federviehs in seinem Zählbezirk konstant blieb, die Sorge der Stadt dort also unbegründet war. Damit war sein Arbeitsplatz akut gefährdet. Mit einem peruanischen Compañero vereinbarte er daraufhin, dass dieser des Nachts die ein oder andere Ente oder Gans erlegen sollte. Der Nutzen war gleich doppelt: Sorianos Job war gesichert und in der Latino-Community gab es des Öfteren fröhliche Essen mit frischem Geflügel.
Diese autonome Selbsthilfe war so ganz nach Osvaldos Bayers Geschmack (ich hoffe, dass ihm unsere veganen Leser*innen das verzeihen). Natürlich ließ er seinen Nachruf dabei nicht bewenden. Im Anschluss an die Entengeschichte berichtete er über Sorianos umfangreiche politische Aktivitäten im Exil, die gar nicht hoch genug einzuschätzen wären: „Wenn es einen Intellektuellen gab, der vom Ausland aus darum kämpfte, dass die Schande der Diktatur zu Ende ging, dann war es Osvaldo Soriano.“ Und er schloss seinen Beitrag mit dem schönen Satz: „Wenn wir an dich denken, Namensvetter, ist es, als verspürten wir ein frohes Lächeln.“
Einen Artikel, den wir gerne gehabt hätten, konnte er leider nicht schreiben. Als wir unseren Schwerpunkt „Anarchismus in Lateinamerika“ (ila 354, April 2012) planten, war Osvaldo natürlich als Autor für den Beitrag zu Argentinien gesetzt. Er sagte auch sofort zu, allerdings würde er erst knapp vor dem Redaktionsschluss liefern können, weil er gerade eine Rundreise mit seinem Film Awka Limen vorbereite. Der Film beschreibt ein weiteres Massaker in der argentinischen Geschichte, die sogenannten „Wüstenfeldzüge“, mit denen zwischen 1878 und 1885 große Teile der indigenen Bevölkerung Patagoniens ausgerottet wurden, um das Land für weiße Viehzüchter „frei“ zu machen. Für die Vorstellungen und Publikumsdiskussionen habe er noch einiges vorzubereiten, aber während der Rundreise habe er tagsüber Zeit. Dabei hatte er jedoch die langen Routen zwischen den verschiedenen Städten unterschätzt und auch, dass er mit seinen 83 Jahren nicht mehr der Jüngste war, der jeden Abend eine Veranstaltung bestreiten und tagsüber in wackligen Fahrzeugen schreiben konnte. Früher war so etwas für ihn normal gewesen, in seiner Disziplin und seinem Arbeitsethos war der alte Anarchist durchaus „preußisch“. Bei Redaktionsschluss meldete er sich, entschuldigte sich mehrfach, dass der Artikel noch nicht fertig sei und bat um Verlängerung. Das aber war mit Layout- und Drucktermin nicht vereinbar. Er bedauerte sehr, ausgerechnet bei diesem Thema nicht dabei zu sein.
Osvaldo Bayer hat einen großen Teil seines Lebens und Schreibens dafür eingesetzt, dass diejenigen, die in anderen Zeiten für eine gerechtere Gesellschaft gekämpft haben, nicht vergessen werden und dass die Erinnerung an sie das politische Bewusstsein der heute Kämpfenden befruchtet. Nun ist es an uns, diese Arbeit fortzusetzen.
In der ila 153 (März 1992) haben wir in der Reihe „Lebenswege“ ein ausführliches Gespräch mit Osvaldo Bayer veröffentlicht. Außerdem Auszüge aus seinem Essay „Bundesrepublik Deutschland: Das Bild eines lateinamerikanischen Exilierten“ von 1979.