Der Kriminalromantitel „Sag mir, auf wen ich eigentlich schieße“ ist eine treffende Metapher für soziales und politisches Handeln im zeitgenössischen Bolivien wie auch für die Literatur Gonzalo Lemas. Der Cochabambiner Autor beherrscht den Umgang mit der Unübersichtlichkeit mit offensichtlicher Erzählfreude. Wie es sich für einen Kriminalroman gehört, führen die Suche nach einer entführten oder entflohenen Minderjährigen, die Geschichte von Liebe und Hass zwischen einer zur Bettlerin heruntergekommen Schönheitskönigin und einem etablierten Rechtsanwalt, sowie der alltägliche Kleinkrieg des Kriminalbeamten Blanco gegen den eigenen korrupten Polizeiapparat erst ganz am Ende zu einem Gesamtbild, das Sinn ergibt, obwohl es letztlich mehr Fragen zu stellen scheint, als die verschlungene Romanhandlung zunächst selbst aufgeworfen hat. Fragen hintergründiger, existentieller Natur. Auch wenn am Rande obligatorische politische Intrigen erwähnt werden, sind es die Szenen aus den Labyrinthen des Alltags, Gemengelagen von unbefriedigten privaten Sehnsüchten und der Notwendigkeit, in einer von Unsicherheit und Prinzipienlosigkeit geprägten Welt das tägliche Auskommen zu sichern, die den Text eher unpolitisch erscheinen lassen, womit er sich von den historischen Sozialromanen Boliviens deutlich abhebt.
Auch wenn einige Szenen karikaturesk ueberzeichnet scheinen, ist jedem, der sich näher mit der bolivianischen Justiz befasst hat, klar, dass es sich bei den Schriften des Juristen Lema ebenso wenig um magischen Realismus handelt wie um polemisch gesagt „Alfaguara“ oder McOndo-Literatur: globalisierte Romane, weil sie in Themen, Motiven und Stil auf einen internationalen Markt und den Jetset als Zielgruppe ausgerichtet sind. Anders Lema, der zwar allgemeine Themen bearbeitet, bei dem aber das bolivianische und vor allem das Cochabambiner Lokalkolorit prägend ist. Allerdings kannLema, der gleichwohl ebenfalls beim spanischen Verlag Alfaguara publiziert hat, nicht vom Schreiben leben und will es auch gar nicht, wie er uns erklärt, denn dann würde ihm das Schreiben vielleicht keinen Spaß mehr machen.
Einen Stapel Bücher hat er trotzdem bereits publiziert. Und dass er bisweilen eine veröffentlichte Kurzgeschichte später zu einem Roman ausbaut, entspricht dieser schriftstellerischen Lebensform, bei der nicht nur die knappe Zeit des fußballspielenden Autors, der sich nicht scheut ausländische Besucher im Trainingsanzug zu empfangen, sondern auch der sehr begrenzte Buchmarkt eine Rolle spielen. Nicht nur das Problem der hohen Buchpreise angesichts allgemein niedrigster Löhne und damit zusammenhängend das Problem der Raubkopien, das jüngst sogar dazu geführt hat, dass ein geprellter Autor in La Paz auf den Straßenhändler schoss, der für die informelle Verbreitung seines Werkes sorgte. In Bolivien fehlt auch immer noch ein landesweites Vertriebssystem für Verlage und AutorInnen. Zumindest bei den in kleinen oder im Selbstverlag herausgegebenen Büchern muss Lema sie also persönlich in die Buchhandlungen bringen und irgendwann, wenn die Bücher verkauft sind, mit dem Händler abrechnen oder eben Schullesungen machen. So verkauft Lema vor allem in Cochabamba, La Paz und Santa Cruz, wo er auch beruflich häufiger ist. Nur im aristrokratisch kolonial anmutenden Sucre gehen seine Bücher schlecht, trotz einer großen renommierten Universität. Aber anscheinend greifen die in der formellen Hauptstadt Boliviens in Massen studierenden Ärzte oder auch Lemas Juristenkollegen nicht so häufig zu Belletristik. Vielleicht gibt die Milieubeschreibung von Lemas Schriftstellerkollegen und Psychologen Wolfgango Montes im Roman „Sagrada Arrogancia“ die Erklärung dazu.
Ganz gewiss gilt das Vertriebsproblem für „Sag mir, auf wen ich schieße“, der wie alle Kriminalromane Lemas bei Neftali in La Paz herausgegeben wird, das eigentlich kein richtiger Verlag und auf Handverkauf und Mundpropaganda angewiesen ist. Aber Lema findet Herrn Neftali so sympathisch, dass ein Verlegerwechsel für die Kriminalromane außer Frage steht. Und dass das wie eine Chagall-Kopie aussehende Titelbild von Lemas Ehefrau mit dem Inhalt eigentlich herzlich wenig zu tun hat, mag zwar unprofessionell erscheinen, ficht den Autor aber keineswegs an. „Ist es nicht schön?“, kommt die Gegenfrage, die keinen Zweifel daran lässt, dass hier Gefühle Vorrang haben.
Für Lema steht Vermarktung und steht literarischer Ruhm offensichtlich nicht im Mittelpunkt des Interesses, auch wenn er zugibt, dass er gerne wenigstens einen internationalen Literaturpreis bekommen will. Und mit burschikos unschuldigem Stolz zeigt er gleich nach dem Foto mit dem Wilstermann- Fußballteam auch sein Bild von einem internationalen Schriftstellertreffen als „Kofferträger von Vargas Llosa“. Der war in Cochabamba in der gleichen Salesianerschule wie auch Lemas international bekannterer und etwas marktorientiertere bolivianische Schriftstellerkollege und Literaturprofessor Edmundo Paz Soldan. Auch ohne wie diese beiden von Literatur leben zu können sieht Lema in der Schriftstellerei für sich die beste Möglichkeit, seine Lebensaufgabe zu erfüllen: Die Wahrheit zu sagen. „Die Leute achten uns Schriftsteller, weil wir die Wirklichkeit beschreiben.“ Und das obwohl Lema z.B mit dem Reichenviertel Aranjuez, in dem er selbst ein Eigenheim hat, keineswegs zimperlich umgeht. In „Sag mir, auf wen ich schieße“ macht Inspektor Blanco dort ausgerechnet einen Schriftsteller ausfindig, der anscheinend die als entführt gemeldete Minderjährige missbraucht, auch wenn diese alles leugnet und auf ihrer Flucht vor den Eltern und der Suche nach Geborgenheit wenig später in ähnlicher verfänglicher Situation in einer Ökosekte landet. Wir wissen nicht, wie viele in Aranjuez Lemas Bücher kaufen und dann auch lesen, die nachbarschaftlichen Kontakte sind aber ganz offensichtlich herzlich.
Vier oder fünf Bücher schöngeistige Literatur über die Niederungen des bolivianischen Alltags warten noch darauf in dem weiträumigen Zimmer mit herrlichem Panoramablick auf Cochabamba geschrieben zu werden, wenn sich die Gelegenheit ergibt, meint der Autor. Aber derzeit hat er anderes zu tun. Bei den letzten Kommunalwahlen wurde er zwar nicht zum Bürgermeister der etwa 600 000 Einwohner zählenden Stadt im zentralen Bergland von Bolivien gewählt, ist nun aber Vorsitzender der MAS-Fraktion im Stadtrat, ein Amt, das er gewissenhaft ausfüllt und dass ihm deshalb wenig Zeit zum Schreiben lässt. Nicht wenige waren überrascht, dass der parteilose Gonzalo Lema ausgerechnet vom Kokabauernführer Evo Morales als Bürgermeisterkandidat auserkoren worden war. Erstens hatte Lema nie im politischen Rampenlicht gestanden. Vielmehr hatte er sich über Jahre als Leiter des departamentalen Wahlgerichtshofs für seine Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit Anerkennung verschafft. So überraschte es dann aber nicht mehr so sehr, dass er auch ohne Wahlkampffinanzierung (das einzige Plakat mit Großporträt hat ihm ein Bekannter von der politischen Konkurrenz geschenkt) ein Bündnis der Mittelschichten mit der armen Bevölkerung schmieden und ein gutes Ergebnis erreichen konnte. Mit seinem burschikosen Charme und seiner Geradlinigkeit stand er für eine neue Art von Politik, und die MAS schien für Lema die Partei, die dies möglich machen könnte: „Hier kommen täglich mehr Bauern vom Land an, die Einwohnerschaft wird immer ärmer, ist in jeder Hinsicht immer weiter entfernt vom Machtzentrum der Stadt. Wir haben von Anfang an gesagt, das Geld der Stadt muss in die Peripherie investiert werden, muss dort die Wirtschaft ankurbeln. Das zugrunde liegende Konzept ist das der sozialen Einbeziehung. Cochabamba soll lernen, sich als hybrides, heterogenes Gemeinwesen zu verstehen, das dennoch zusammengehört.“
Ein Jahr lang hatten sich Lema und sein Team intensiv von externen Fachleuten in wöchentlichen Sitzungen in spezifischen Aspekten der Kommunalpolitik fortbilden lassen. Architekten, Stadtplaner, Fachjuristen… und auf der anderen Seite der Mechanismus der Konsultationen mit den Stadtviertelorganisationen, den Verbänden, um gemeinsam zu sachgerechten Lösungen zu kommen. Mit seinem Programm lag Lema schließlich nur 4000 Stimmen hinter dem Kandidaten der alten Machtgruppen. Er hätte dennoch Bürgermeister werden können. Da keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit erzielte, fiel die Entscheidung im Stadtparlament und hier hätte Lema durch Allianzen mit kleineren Parteien eine Entscheidung zu seinen Gunsten erreichen können. Aber weil er sich vor der Wahl darauf festgelegt hatte, dass die Partei mit den meisten Stimmen den Bürgermeister stellen sollte, blockte er jegliches Ansinnen von Parteichef Morales ab, angesichts des knappen Ausgangs vielleicht doch mit den kleinen Parteien zu verhandeln. Den neuen Buergermeister, sagt Lema, habe er dann versucht zu unterstützen, durch Vermittlung bei sozialen Konflikten wie dem Streit um die Buslinienführung, doch der kapsele sich ein in seiner kleinen Gruppe von Beratern, der habe den Kontakt zur Wirklichkeit verloren, treffe zu langsam und zudem falsche Entscheidungen.
Trotzdem bereut es Lema ganz und gar nicht, seine Wahlzusage eingehalten zu haben. Er sei ohnehin in erster Linie der bislang einzige bolivianische Autor, der als Schriftsteller Politik mache. Die legendären Namen von Marcelo Quiroga Santa Cruz, der mit Los deshabitados den Preis der Casa der las Americas gewonnen hat, und Augusto Cespedes, dem Intellektuellen der 1952er Revolution, dessen Der Preis des Zinns bei Lamuv erschienen ist, lässt er nicht gelten. Quiroga Santa Cruz sei ein hochintelligenter und schriftstellerisch begabter Politiker, der sich in das Feld der Literatur begeben habe. Und bei Cespedes äußert Lema sogar Zweifel an der literarischen Qualität. Und so als ob er gemerkt hat, dass wir viele seiner Bücher (sicher auch dank der wirklich nicht aggressiv zu nennenden Vermarktung) erstmals bei dem Rundgang durch seine Schreibstube zu Gesicht bekommen haben und dass wir viel über Politik und Literaturbetrieb, aber wenig über seine Texte geredet haben, schenkt Lema uns zum Abschied ein kleines Büchlein mit Kriminalerzählungen. Die Titelgeschichte „Ein sentimentaler Mann“ handelt wieder vom Kommissar Blanco, nur mit einem anderen Vornamen. Und wieder hat Blanco von den Vorgesetzten den Auftrag bekommen, nach einer Verschwundenen zu suchen. Diesmal eine Ausländerin, deren bolivianischer Ehemann sich als drogensüchtig herausstellt. Doch weder seine Vorgesetzten noch ihre Angehörigen scheinen, obwohl sie mit dem Kommissar eine 10 000 Dollar-Bestechungssumme aushandeln, daran interessiert, dass er den Auftrag erfüllt. Als einzige Spur bekommt Kommissar Blanco ein Foto der Frau mit melancholischen Augen. Und spätestens als er herausfindet, dass die Verschwundene schwanger ist, regen sich bei dem Kommissar Gefühle. Sie beflügeln ihn, weiterzuforschen, obwohl er bedroht und übel zusammengeschlagen wird, schließlich sogar noch in der Zelle der eigenen Institution landet. Mit Unterstützung von Kriminellen gelingt es ihm, für eine Nacht zu entfliehen, um die Verschwundene in der US-Drogenbehörde DEA aufzuspüren. Ohne das inzwischen geborene Baby! Unter Verzicht auf die 10 000 Dollar und mit durchaus rüden Methoden nimmt Blanco am nächsten Tag den Großeltern ein kleines Bündel ab und bringt es der Mutter vor staundendem Publikum zum Flughafen, kurz bevor diese abgeschoben wird. Ein Happy End und die Klärung aller Fragen gönnt Lema uns aber auch in dieser Geschichte nicht. War denn nun das Baby wirklich in dem Bündel?