Ende Januar 2023 starb in Bonn Josef Senft. Jo, wie ihn seine Bekannten und Freund*innen nannten, war über viele Jahre eng mit dem Oscar-Romero-Haus verbunden, dem selbstverwalteten Wohnprojekt und soziopolitischen Zentrum in der Bonner Nordstadt, zu dem auch die ila seit 1987 gehört.
Ich lernte Jo Ende der siebziger Jahre kennen. Damals war er Verantwortlicher des „Projektbereichs Dritte Welt“ der „Arbeitsgemeinschaft katholischer Studenten- und Hochschulgemeinden“ (AGG). Die AGG und insbesondere „sein“ Projektbereich waren vielleicht diejenige kirchliche Institution in der Bundesrepublik, die am stärksten die Impulse der lateinamerikanischen Befreiungstheologie aufnahm. Dazu gehörte ganz zentral die Reflexion darüber, was die politischen und ökonomischen Verhältnisse bei uns mit der sozialen Not und Unterdrückung in Lateinamerika zu tun hatten. In Seminaren, Veranstaltungen und Publikationen wurden Strukturen in Kirche und Gesellschaft kritisch hinterfragt und diskutiert, wie eine solidarische christliche Praxis aussehen könnte.
Das waren genau die Fragen, die mich als Jugendlicher beschäftigten. Ich hatte gerade begonnen, mich in der katholischen Jugendarbeit zu politisieren. Bei den Seminaren der AGG, die von einer Kommission von Student*innen partizipativ vorbereitet wurden, deren Atmosphäre aber sehr stark von Jo geprägt war, der zwar immer eher leise und zurückhaltend, aber gleichzeitig sehr präsent war, lernte ich viel Neues. Manchmal war ich auch verunsichert und begann Sichtweisen, die mir bis dahin als selbstverständich erschienen waren, in Frage zu stellen. So hatte ich zwar meine Widersprüche zur katholischen Kirche, dachte aber, dass ihre sozialen Projekte, insbesondere in der sogenannten „Dritten Welt“, vorbildlich seien, um Armut und Not zu bekämpfen. Auf den Seminaren wurde dagegen kritisch über die Arbeit ihrer Hilfswerke diskutiert, weil sie allzu oft gesellschaftliche Machtverhältnisse ignorieren würden. Anstatt Menschen zu unterstützen, sich für ihre Rechte zu organisieren, würde vielfach nur assistenzialistische Hilfe geleistet. Auf Basis dieser Diskussion entstanden Broschüren und Bücher wie „Materialien zur Kritik der Kirchlichen Entwicklungshilfe“ oder „Misereor – Zum Politischen Standort eines kirchlichen Hilfswerks“. Auch wenn die Hilfsorganisationen die Kritik zurückwiesen, wurde sie intern sehr wohl diskutiert. So wurde dort manches aufgenommen und verändert.
Ein anderes wichtiges, maßgeblich von Jo vorangetriebenes Projekt war der Kampf gegen den Export deutscher Atomkrafttechnologie an die brasilianische Militärdiktatur. Die vor allem von der AGG und dem „Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz“ (BBU) getragene Kampagne war die erste gemeinsame Initiative der Internationalismus- und der Anti-AKW-Bewegung.
Die Seminare und Diskussionen der AGG haben meine weitere Politisierung und mein Engagement entscheidend geprägt – auch weil ich mich dort, obwohl politisch noch sehr unerfahren, vom ersten Moment an ernstgenommen fühlte. Wie ich in Gesprächen merkte, ging das den meisten Teilnehmenden so. Das war vor allem das Verdienst von Jo, der sich für die Erfahrungen aller Anwesenden interessierte, ihre Argumente aufnahm und ihre Zweifel respektierte. Das zeichnete ihn auch aus, als er später fast drei Jahrzehnte als Hochschullehrer für Religionspädagogik und Sozialethik an der Universität Köln unterrichtete. Seine großen Stärken waren auch dort seine Offenheit, seine undogmatische Herangehensweise an Themen und seine Fähigkeit zum Dialog.
Neben seinem Engagement an der Uni und in der Familie intervenierte er auch immer wieder politisch, vor allem zu internationalistischen und ökologischen Themen oder gegen Krieg und Militarismus. Seine politische Heimat war lange das Sozialistische Büro, das mit seiner Monatszeitschrift „links“ von 1969 bis Ende der neunziger Jahre eines der wichtigsten Foren der unanhängigen Linken in der Bundesrepublik war. Dabei agierte er stets aus seinem christlichen Glauben heraus. Über viele Jahrzehnte gehörte er zu den festen Mitgliedern der Basisgemeinde im Oscar-Romero-Haus.
Seit wir uns Ende der siebziger Jahre kennengelernt hatten, sind wir uns immer wieder begegnet, etwa auf Veranstaltungen oder Demos im Köln-Bonner Raum. Und natürlich im Oscar-Romero-Haus. Als umtriebiges Mitglied seines Beirates engagierte er sich auch für dessen ökologische Umrüstung. 2005 organisierten wir zusammen mit der ila und Bewohner*innen des Hauses eine Aktionswoche zum 25. Jahrestag der Ermordung Oscar Romeros. Noch im letzten Jahr hatten wir mehrfach Kontakt, weil die inzwischen relativ kleine Basisgemeinde ihre monatlichen Gottesdienste in den Sitzungsraum der ila verlegte. Dabei erzählte er mir, dass bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert worden sei. Zunächst schien eine Therapie anzuschlagen, doch dann verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rapide. Am 24. Januar 2023 hat er seinen Kampf gegen den Krebs verloren.