Ein ungeborenes Kind ist mehr wert als das Leben einer Frau

Welches sind die aktuellen Arbeitsschwerpunkte von Las Mélidas?

A.O.: Wir wollen die Lebensbedingungen der Frauen verbessern, tragen dazu bei, dass sie ihre Rechte kennen, und sorgen für Empowerment und Autonomie der Frauen. Eines unserer Programme klärt über das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper auf, darin werden die sexuelle und reproduktive Gesundheit sowie die sexuellen und reproduktiven Rechte der Frauen behandelt und es wird Gewaltprävention betrieben mit dem Schwerpunkt häusliche Gewalt. In weiteren Programmen machen wir die Frauen mit ihren politischen und zivilen Rechten vertraut und fördern die Organisierung von erwachsenen und jugendlichen Frauen. Außerdem bieten wir Fortbildungen zu rechtlichen und anderen Fragen an, mit denen die Frauen ihr Wissen und ihre Kenntnisse weiterentwickeln. Schließlich haben Las Mélidas das Ziel, mehr Frauen in öffentliche Ämter zu bekommen. Des Weiteren gibt es ein Programm zu fairem Wirtschaften. Außerdem wirken wir bei der Verabschiedung der lokalen Haushalte in Gemeinden mit und bringen eine Gender-Perspektive ein, damit mehr Mittel für Frauen und Frauenförderung zur Verfügung stehen.

El Salvador ist eines der wenigen Länder, in denen Abtreibungen ohne jegliche Ausnahmen verboten sind, nicht nur per Gesetz, sondern sogar in der Verfassung verankert. Wie sehen die aktuellen Kämpfe für eine Entkriminalisierung aus?

M. H.: Abgesehen davon, dass die Abtreibungsmöglichkeiten in El Salvador absolut eingeschränkt sind, ist es das einzige Land, wo es eine ausgeprägte strafrechtliche Verfolgung und Kriminalisierung der Frauen gibt. In Chile ist die Gesetzgebung ähnlich. Dort gibt es zwar auch Frauen mit Anklagen, sie sitzen aber nicht im Gefängnis. Sie bekommen Bewährungsstrafen oder es wird zu ihren Gunsten geurteilt. Dieses Gesetz führt in El Salvador dazu, dass vor allem arme Frauen, die eine Fehlgeburt oder Komplikationen bei Frühgeburten außerhalb der Krankenhäuser haben, mit folgender Situation konfrontiert sind: Das Kind stirbt während oder vor einem Geburtsvorgang, die Frau wendet sich mit blutendem Unterleib an die Krankenhäuser – die öffentlichen, wohlgemerkt, denn Behandlungen in Privatkliniken sind unerschwinglich. Sie braucht dringend medizinische Hilfe, wird aber sofort verdächtigt, illegal abgetrieben zu haben. Noch in der Notaufnahme wird sie in Handschellen gelegt und direkt ins Gefängnis gebracht. Wenn später festgestellt wird, dass es eine Fehlgeburt war und keine gewollte Abtreibung, dann wird nicht etwa der Fehler anerkannt, nein, die Staatsanwälte machen eine andere Straftat daraus: Statt wegen „Abtreibung“ wird sie nun wegen Totschlags angeklagt! Und dafür gibt es in El Salvador Gefängnisstrafen von 30 bis 50 Jahren. Deshalb haben wir Frauen im Gefängnis mit 30, 35 ja sogar 40 Jahren Haftstrafe. Bei zwei Frauen haben die Kinder die Frühgeburt sogar überlebt, und die Mütter mussten trotzdem ins Gefängnis. Bei Mirna war es so, dass sie stark blutete und sich in einem Schockzustand befand. Sie wurde angeklagt, weil sie „nichts unternommen“ hätte, um das Kind aus der Latrine, in die es gefallen war, rauszuholen und zu retten, dabei hatte es doch überlebt. Dahinter steht der Druck, dass wir Frauen das Mandat der Mutterschaft erfüllen müssen, koste es, was es wolle.

Auch wenn die Frau im Gefängnis landet und gar nicht aktiv Mutter sein kann!

M.H.: Genau das ist ja in Mirnas Fall passiert – sie war zwölfeinhalb Jahre von ihrer Tochter getrennt. Zu solchem Wahnsinn kommt es, wenn diese Gesetzgebung angewandt wird. Hinzu kommt, dass in El Salvador die Schwangerschaften von Jugendlichen zunehmen. Bei über einem Drittel der Krankenhausgeburten sind die Frauen minderjährig, viele davon Jugendliche zwischen neun und 14 Jahren. Schwangerschaften in dieser Altersgruppe gelten per Gesetz als Ergebnis einer Vergewaltigung. Dennoch erkennt sie das Gesundheitssystem in den allermeisten Fällen nicht als solche an. So haben wir zehn- oder elfjährige Mädchen, denen gezeigt wird, wie sie ihren Säugling stillen. Infolgedessen steigt die Selbstmordrate unter jugendlichen Schwangeren. Heute räumt das Gesundheitsministerium ein, dass die zweithäufigste Todesursache bei jugendlichen Müttern Selbstmord ist.

Wie steht es um Aufklärungsunterricht an den Schulen?

M. H.: Unter der Regierung Funes sind gute Unterrichtsmaterialien erarbeitet worden, aber die aktuelle Regierung, genauso wie die vorherige, nutzt sie nur in Pilotprojekten, d.h., nur wenige DozentInnen konnten sich damit weiterbilden und deren Zahl wird klein gehalten – aus Angst vor fundamentalistischen Gruppen. Dazu gibt es eine Vorgeschichte: Im Jahr 1999, damals noch unter der rechten ARENA-Regierung, hatten das Gesundheits- und das Bildungsministerium Unterrichtsmaterialien für Sexualkunde erstellen lassen mit dem Titel „Von Jugendlichen für Jugendliche“. Diese Materialien bekam der damalige Erzbischof von San Salvador, Saénz Lacalle, der beim Opus Dei ist, zu lesen, woraufhin er immensen Druck ausübte, damit sie nicht eingesetzt werden. Leider setzt die aktuelle – linke – Regierung diesem Problem immer noch nichts entgegen. Stattdessen tut sie sich mit der Vereinigung Christlicher Kirchen El Salvadors zusammen, das sind Evangelikale, die ein Erziehungsprogramm zur „Vermittlung von Werten“ vorantreiben, das dem in der Schublade verstaubenden Sexualkundeprogramm in sehr vielen Punkten widerspricht.

In El Salvador gibt es eine erschreckend hohe Zahl von feminicidios, Frauenmorden. Gibt es eine Debatte darüber?

M.H.: Das neue „Gesetz für ein Leben ohne Gewalt“ erkennt das Verbrechen des feminicidio und auch die Gewalt, die dahintersteht, an; selbst der Selbstmord, den Frauen begehen, weil sie aus geschlechtsspezifischen Gründen dazu getrieben wurden, wird als suicidio feminicida anerkannt. Dabei werden drei Punkte genannt: Der feminicidio ist die extremste Form von Gewalt gegen Frauen, es handelt sich um eine Kettenreaktion, bei der Hass eine zentrale Rolle spielt, und diesbezüglich herrscht absolute Straflosigkeit. Das alles steht im Gesetz. Zur Praxis: Nur sehr wenige feminicidios sind strafrechtlich verfolgt worden, weil sie meistens nicht als solche anerkannt werden. Und selbst wenn vor Gericht stichhaltige Beweise geliefert werden, lassen sich die RichterInnen nicht auf diese Typologie ein. Hinzu kommt das Problem der allgemeinen kriminellen Gewalt, deren Hauptopfer junge Männer aus den ärmeren Schichten sind. Diese Art von Gewalt verdeckt den Anstieg der feminicidios in den Statistiken. El Salvador rangelt sich mit Honduras, Guatemala und Jamaica um den ersten Platz mit der höchsten Rate von Frauenmorden weltweit. Trotzdem taucht der feminicidio nicht als schwerwiegendes Problem in der Debatte über Sicherheitspolitik auf. In der Stadt Cojutepeque zum Beispiel hat ein Mann seine Ehefrau und seinen Sohn umgebracht. Für einen feminicidio gibt es eine hohe Haftstrafe, höher als die für Mord. Trotzdem verhängte der Richter nur eine Strafe von 23 Jahren und sagte, die Strafe für den Mord am Sohn entfalle, weil nicht klar sei, ob nicht die Frau den Tod des Kindes verursacht habe, bevor sie selbst umgebracht worden sei! Der Widerstand, diesen Straftatbestand anzuerkennen, ist also enorm. Das Leben der Frauen ist nach wie vor sehr wenig wert und auch nicht schützenswert. Ein anderes Beispiel: Ein Unternehmer, der seine Frau umgebracht hat, kam sogar straffrei davon, obwohl die Sachlage klar war. Da von Streit die Rede war, galt der Frauenmord schließlich als crimen pasional, „Verbrechen aus Leidenschaft“. Wenn wir das mit den Strafen vergleichen, die den Frauen wegen Abtreibungen aufgebrummt werden, sehen wir, welches Recht geschützt werden soll. In El Salvador ist ein ungeborenes Kind mehr wert als das Leben einer Frau.

Angesichts dieser misogynen Gemengelage. Was gibt euch die Kraft weiterzumachen?

M.H.: Es gibt ja auch Fortschritte: Etwa die Verabschiedung von Gesetzen, die die Frauenrechte anerkennen, einige öffentliche Institutionen, die die Gender-Perspektive in ihre Arbeit aufgenommen haben, aber vor allem das Bewusstsein der organisierten Frauen, der jungen Frauen, und die Gewissheit, dass wir unter Ungerechtigkeiten leiden, die sich aber beseitigen lassen! Mit politischem Willen und sozialem Bewusstsein können wir diese Realität verändern! Ich definiere mich seit 25 Jahren als Feministin und kämpfe seit 38 Jahren für eine gerechtere Gesellschaft. Ich will in einer echten Demokratie leben. Wir Frauen haben es verdient, in einer Gesellschaft zu leben, wo wir nicht Bürgerinnen zweiter Klasse sind. Ich habe vier Töchter und drei Enkeltöchter – ich kämpfe auch für sie, und für alle anderen Mädchen.

Letztes Jahr habt ihr die Kampagne zur Freilassung der 17 gestartet (siehe Beitrag in ila 377). Wie ist der aktuelle Stand?

M.H.: Wir haben am 1. April 2014 den Antrag auf Begnadigung für die 17 angeklagten Frauen eingereicht. Wir haben erreicht, dass zwei Begnadigungsanträge vom Obersten Gerichtshof angenommen wurden. Der Fall von Mirna ist noch nicht abgeschlossen, der Fall von Guadalupe hingegen schon. Sie war im Alter von 18 Jahren zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt worden, von denen sie bereits siebeneinhalb abgesessen hatte. Bei diesem Urteilsspruch hat der Gerichtshof anerkannt, dass ein juristischer Fehler vorlag und dass übergeordnete Gründe der Gerechtigkeit und Gleichbehandlung gebieten, dem Gnadengesuch stattzugeben. Die anderen Fälle sind zwar ähnlich und einige RichterInnen geben zu, dass die Strafen übertrieben sind, aber: Als Guadalupe begnadigt wurde, schrien die FundamentalistInnen, dass eine Mörderin freigelassen worden wäre. So gaben die RichterInnen keinem weiteren Gnadengesuch statt. Zu den 17 Frauen der Kampagne – von denen zwei begnadigt wurden – kommen sechs weitere verurteilte Frauen hinzu, so dass wir gerade 21 Frauen verteidigen. Deshalb heißt die Kampagne jetzt Las 17 y más („die 17 Plus“). Unsere Strategie hat mehrere Elemente: In einigen Fällen legen wir Berufung ein, haben dabei aber das Problem, dass dieselben RichterInnen darü­ber entscheiden, die zuvor die Frauen verurteilt haben. In anderen Fällen versuchen wir eine Strafumwandlung zu erreichen, bei Isabel Cristina hatten wir zum Beispiel damit Erfolg, ihre Strafe wurde von 30 Jahren Gefängnis auf drei Jahre geändert. Oder wir wenden uns an das Interamerikanische Menschenrechtssystem. Dort haben wir zwei Klagen gegen den Staat El Salvador vorgebracht, die erste zum Fall Manuela, einer Bäuerin, die im Gefängnis an Lymphdrüsenkrebs starb. Sie war zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt worden, dabei hatte sie die Fehlgeburt aufgrund ihrer Krebserkrankung. Der zweite Fall war 2013 und bezog sich auf die 21-jährige Beatriz, die an einer Autoimmunerkrankung litt und deren Fötus einen schweren Gehirnschaden und null Überlebenschancen hatte. Auch die Mutter hätte die Geburt nicht überlebt. Der von den Ärzten empfohlene Kaiserschnitt war erst nach der Entscheidung des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes, ihr Schutzmaßnahmen zuzusichern, möglich. Angelehnt an diese beiden Fälle suchen wir gerade zusammen mit anderen internationalen Organisationen Fälle heraus, bei denen die Rechtsfigur des „Per saltum“ angewandt werden kann, das heißt, einige Instanzen zu überspringen und sich direkt an die höchste Instanz zu wenden, weil die Frauen bereits im Gefängnis sind. Außerdem versuchen wir, sie im Gefängnis zu unterstützen, weil sie dort vom Wachpersonal und den Mitgefangenen als „Kindsmörderinnen“ wie der letzte Dreck behandelt werden. Diese Arbeit und auch die internationale Solidarität vermitteln den Frauen das Gefühl, nicht allein zu sein. Gleichzeitig versuchen wir dem Staat klarzumachen, dass er ein Problem hat, wenn diese Frauen im Gefängnis sind. Jetzt, wo El Salvador im UN-Menschenrechtsausschuss sitzt, ist es nicht ratsam, dass das Land systematisch Frauenrechte verletzt.

Bei den jungen Frauen beobachte ich ein steigendes feministisches Bewusstsein; häufig übertreffen sie uns, weil sie viel kreativer sind! Bei Beatriz und auch den 17 waren es die jungen Frauen, die am stärksten auf die Straße gegangen sind. Die jungen Frauen haben auch weniger Angst, sich als Feministinnen zu bezeichnen. All das macht Hoffnung.