Als ich Willi Israel in Montevideo das erste mal anrief, war das ein nettes Erlebnis. Am anderen Ende der Leitung sprach jemand fast den gleichen Dialekt wie ich. Willi schlug vor, uns im Brecht-Haus zu treffen, dann könne er uns alles zeigen. Das Bertolt-Brecht-Haus war das Kulturinstitut der DDR in Montevideo und besagtes Telefongespräch fand im Dezember 1995 statt, also mehr als fünf Jahre nach dem Ende der DDR. Dass dieses Haus als linker Veranstaltungsort und Bildungszentrum immer noch existierte (und bis heute existiert), hat vor allem mit Willis Engagement zu tun.[fn]Siehe auch ein Lebenswege-Interview mit Willi Israel in ila 204[/fn]
Willi zeigte uns die Räume und begründete dabei, warum er für den Erhalt dieses Hauses kämpfte. Dass die DDR zusammengebrochen sei, sei doch kein Grund, eine Arbeit aufzugeben, die in Montevideo eine lange und gute Tradition habe. Gerade nach dem Scheitern der osteuropäischen Sozialismus-Modelle müsse man die Gründe für dieses Scheitern analysieren und eine Debatte über demokratische und zukunftsfähige Sozialismus-Modelle führen. Dafür brauche es Orte, wo Veranstaltungen und Seminare stattfinden, wo Publikationen geplant und realisiert werden könnten. Ein solcher Ort wolle das Brecht-Haus sein.
Der sympathische Mittsiebziger mit den warmen, etwas traurigen Augen war bei seiner Geburt im Jahre 1922 nicht unbedingt prädestiniert, eine Rolle in der uruguayischen Linken zu spielen. Willi wurde nämlich – wie hundert Jahre vorher Karl Marx – in Trier geboren. Seine Eltern waren angesehene jüdische Bürger, sein Vater hatte im Ersten Weltkrieg in der deutschen Armee gedient. Doch 1933 habe der Vater klar erkannt, dass es für Juden keine Zukunft mehr in Deutschland gäbe. Im Mai 1936 sei die Familie nach Montevideo gekommen. Obwohl er erst 14 Jahre alt war und in Trier das Gymnasium besucht hatte, begann Willi eine Lehre in einer Karosseriewerkstatt. Es sei eine tolle Erfahrung gewesen, dass die uruguayischen Arbeiter ihn, den jungen Fremden, sofort akzeptiert hätten. Was er nicht erzählte, was aber seine Betonung der ihm in Uruguay entgegengebrachten Solidarität implizierte, waren die Demütigungen, denen jüdische Kinder nach 1933 an deutschen Schulen ausgesetzt waren.
Über die KollegInnen im Betrieb kam er mit der uruguayischen Arbeiterbewegung in Kontakt. Als linke EmigrantInnen 1941 das „Deutsche antifaschistische Komitee“ gründeten, war er auch dabei. Trotz des Holocausts wollte er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurück nach Deutschland. Er wollte in die sowjetische Zone und dort beim Aufbau des Sozialismus mitarbeiten. Aber weder er noch die anderen Mitglieder des Komitees, die bei der sowjetischen Botschaft in Montevideo Visa für die SBZ beantragt hatten, hätten diese je erhalten. So entschied er, in Uruguay zu bleiben und dort für die Sozialismus zu kämpfen. Er trat der Kommunistischen Partei bei und begann, ab 1950 hauptamtlich in deren Apparat zu arbeiten, später wurde er Redakteur der parteieigenen Tageszeitung „El Popular“.
Wegen dieser politischen Aktivitäten geriet Willi nach dem Militärputsch 1973 ins Visier der Repressionsorgane. Er wurde verhaftet, war mehrere Monate im Gefängnis und wurde, obwohl längst uruguayischer Staatsbürger, ausgewiesen.
Nun kam er doch noch in die DDR. Gerade mal 20 Exil-UruguayerInnen seien da gewesen, eine verschwindend kleine Zahl im Vergleich zu den 2000 ChilenInnen, die nach dem Putsch gegen Allende dort Aufnahme gefunden hatten. Weil über Uruguay in der DDR kaum etwas bekannt war, hätten sie versucht, ein bisschen Solidaritätsarbeit zu machen. Doch zunächst habe man ihm zu verstehen gegeben, dass er nicht befugt sei, politisch tätig zu sein. Erst als Honecker in Moskau den uruguayischen KP-Chef Arismendi getroffen hatte, sei plötzlich alles möglich gewesen. Sie hätten das monatliche Informationsbulletin „Desde Uruguay“ (unter Willis Redaktion) herausgeben und sogar eine tägliche (!) zehnminütige Informationssendung über den DDR-Auslandsrundfunk ausstrahlen können. Stolz erzählt er, er habe später erfahren, dass diese Sendungen in Montevideo tatsächlich gehört, ja sogar auf Kassetten kopiert wurden und bis in die Kerker gelangten.
Willi lebte von 1975 bis 1985 in der DDR. Sechs Tage nach dem Amtsantritt der ersten zivilen Regierung nach der Diktatur kehrten er und seine Frau nach Montevideo zurück. Sie wollten in Uruguay leben. Für die KP konnte er nicht mehr arbeiten, sie war dabei, sich in Fraktionskämpfen aufzureiben. So habe er seine Kräfte darauf konzentriert, das in der Diktatur verwüstete Brecht-Haus wieder in Gang zu bringen.
Der Zusammenbruch des Sozialismus in Europa 1989 habe ihn natürlich getroffen, er sei damals aber überzeugt gewesen, dass sie in Uruguay auf einem anderen, besseren Weg waren. Wir, das hieß für Willi das Linksbündnis Frente Amplio. Von der KP hatte er sich immer weiter entfremdet.
Umtriebig suchte er für das Brecht-Haus neue Partner, bemühte sich in der Bundesrepublik um Unterstützung für Projekte und Veranstaltungen. Er knüpfte Kontakt zum (inzwischen abgewickelten) Solifonds der Grünen, zum „Solidaritätsfonds Demokratische Medien in der Dritten Welt“ der IG Medien, später zur Rosa-Luxemburg-Stiftung. Noch in diesem Mai war er wegen Gesprächen mit Geldgebern für Projekte des Brecht-Hauses in Berlin gewesen und voller Optimismus und Tatendrang zurückgekehrt.
Willi starb, wie er gelebt hatte. Im Engagement für seine Sache. Am 18. Juni war er wie jeden Vormittag im Brecht-Haus, mittags ging er in seine Wohnung und setzte sich an den PC, um Korrespondenz zu erledigen. Dabei brach er zusammen. Schlaganfall. Er kam noch ins Krankenhaus, doch die Ärzte konnten ihm nicht mehr helfen.
Ein uruguayischer Linker aus Trier
Zum Tod von Willi Israel (1922-2002)
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