In „Wo auch immer“ erzählt Ernesto Kroch Geschichte in Geschichten. Dabei schlägt er große zeitliche und geographische Bögen – vom 16. ins späte 18. und ins 20. Jahrhundert, von der Stadt Ouro Preto im brasilianischen Minas Gerais nach Würzburg in der unterfränkischen Main-Region. Roter Faden und verbindendes Element der zwischen Brasilien und Deutschland wechselnden Handlung ist der Kampf von unterprivilegierten Menschen um Würde und bessere Lebensbedingungen sowie das Bestreben der über Jahrhunderte in beiden Regionen dominanten mächtigen Familien und der auf sie zugeschnittenen staatlichen Strukturen, die sozialen Rebellionen gewaltsam zu unterdrücken. So erzählt der Roman von den Versuchen der afroamerikanischen SklavInnen, sich der Zwangsarbeit durch Flucht und den Aufbau selbstverwalteter Gemeinden (Quilombos) zu entziehen, vom Kampf der bäuerlichen und städtischen Bevölkerung in Franken im großen Bauernkrieg gegen Leibeigenschaft, Zwangsabgaben oder den Verlust verbriefter Rechte, vom Aufstand der brasilianischen Inconfidentes gegen die portugiesische Krone und von den jüngeren Kämpfen der ArbeiterInnen für bessere Lebensbedingungen, Arbeitsschutz und demokratische Freiheiten diesseits und jenseits des Atlantik.
Das Leben des 1917 in Breslau geborenen und 2012 in Frankfurt am Main gestorbenen Ernesto Kroch verlief ebenfalls zwischen Europa und Lateinamerika. 1938 kam der junge Widerstandskämpfer nach Gefängnis und KZ-Haft in Nazideutschland nach Uruguay, 1982 floh der erneut im Widerstand aktive Gewerkschafter vor der uruguayischen Militärdiktatur nach Frankfurt. (Siehe auch Lebenswege-Interview in ila 151)
Ernesto Kroch hat mehrfach betont, kein Schriftsteller zu sein. Da war sicher etwas Koketterie dabei. Denn ein Mensch, der zwei Romane, eine ansehnliche Zahl von Erzählungen, eine Autobiographie und mehrere Sachbücher verfasst und vieles davon auch veröffentlicht hat, ist natürlich ein Schriftsteller. Aber seinem Selbstverständnis nach war Ernesto ein schreibender Arbeiter. Dass er 1932 als 15-Jähriger das Gymnasium verlassen und eine Lehre als Maschinenschlosser beginnen musste, weil seine kleinbürgerlich-jüdische Familie in der Weltwirtschaftskrise so verarmt war, dass sie eine weitere schulische oder universitäre Ausbildung nicht finanzieren konnte, hat er nie als soziale Degradierung empfunden. Er hat gerne in der Fabrik gearbeitet und fühlte sich wohl unter seinen Kollegen im Betrieb und in der Gewerkschaft, die ihn im sozialistischen Sinne politisiert haben und wo er nach eigener Aussage auch nach der Machtübernahme der Nazis niemals antisemitische Ressentiments erlebte. Arbeiter und engagierter Aktivist ihrer politischen Bewegung blieb er auch nach seiner Emigration nach Uruguay, wiewohl er in der Fabrik Julio Bentes S.A., bei der er über Jahrzehnte beschäftigt war, später zum Techniker und Entwickler von mit nachwachsenden Rohstoffen betriebenen Dampfkesselturbinen avancierte.
So war Ernesto Kroch, der mit seinem belletristischen Schreiben erst als über 60-Jähriger in seinem zweiten Exil begann, wirklich ein Arbeiterschriftsteller und stand damit in der politisch-literarischen Tradition der proletarisch-revolutionären Arbeiterliteratur der Weimarer Republik. Die grenzte sich von einer deutsch-romantischen Literaturtradition ab, in deren Zentrum vor allem die Befindlichkeit des bürgerlichen Individuums stand. In der proletarisch-revolutionären Literatur sollten nicht mehr der Einzelne (in der Regel war es ein „er“) und seine Probleme, sich in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren, im Mittelpunkt der Literatur stehen, sondern das soziale Kollektiv und dessen Kampf für die Veränderung der Gesellschaft. Die Personen, die in den Erzählungen und Romanen der ArbeiterliteratInnen auftreten, sind in diesem Sinne vor allem RepräsentantInnen ihrer jeweiligen Klasse: die Arbeiter, die zwischen diesen und der Bourgeoisie stehenden Vorarbeiter und Angestellten, die Polizisten, die ihren Daseinszweck in der Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung sehen, und die Kapitalisten, deren Hauptziel die Profitmaximierung ist.
Selbst wenn die proletarisch-revolutionäre Literatur bis 1933 durchaus ihrer LeserInnen fand, war der weitgehende Verzicht auf Individualität der handelnden Personen auch für ihr erklärtes Zielpublikum in der Arbeiterklasse nicht leicht zu akzeptieren. Auch viele ArbeiterInnen suchten sich in der Romanlektüre Personen, mit denen sie sich identifizieren konnten und die jenseits der Klassenkämpfe Sehnsüchte und Konflikte erlebten, die bürgerliche wie proletarische ProtagonistInnen gleichermaßen beschäftigen, wie etwa Abenteuerlust, Liebesdinge oder die Auseinandersetzungen mit autoritären Familienstrukturen.
Wenn auch bei Ernesto Kroch die Romanfiguren RepräsentantInnen ihrer jeweiligen sozialen Gruppe sind, erweitert er die Grenzen der Arbeiterliteratur, indem seine ProtagonistInnen auch individuelle Persönlichkeiten sind, deren Handlungsmotivationen keineswegs nur ökonomisch determiniert sind. So unterstützt etwa im letzten Kapitel „Ouro Preto – 1979“ der Student Alvaro zwar schon länger die Ziele der demokratischen Bewegung gegen die Diktatur, seine Entscheidung, sich an einer gefährlichen Aktion zur Unterstützung eines Streiks im Aluminiumwerk zu beteiligen, ist aber vor allem aus seinem Interesse an der Aktivistin Flavia begründet. (Es wäre interessant, einmal zu untersuchen, in welchem Umfang erotische Interessen Leute bewogen haben, sich bestimmten linken Gruppen und Zusammenhängen anzuschließen. Eigentlich überraschend, dass darüber so wenig geredet und geschrieben wurde/wird).
Jenseits der erzählten Geschichte(n) ist der Roman „Wo auch immer“ auch eine Ästhetik des Widerstandes. Wiewohl Ernesto Kroch ein stolzer und selbstbewusster Proletarier war, hatte er mit Arbeitertümelei und der Verachtung sogenannter Hochkultur nichts am Hut. Kunst war für ihn ein Lebenselixier. Museen, Kirchen, Kinos, Theater und Opernhäuser haben ihn ebenso angezogen wie Bücher. Er wusste die großen Kunstwerke der feudalen und bürgerlichen Epoche aber auf seine Weise zu lesen, nämlich ihren sozialen Gehalt freizulegen. Ein Zeugnis seines Umgangs mit künstlerischen Traditionen ist der seinem Roman nachgestellte Essay, den er in seiner bescheiden-unprätentiösen Art schlicht mit „Anhang“ überschrieben hat. Darin schreibt er über die brasilianischen Bildhauer Antonio Francisco Lisboa, genannt Aleijadinho (das Krüppelchen), und seinen gut 200 Jahre älteren fränkischen Kollegen Tilman Riemenschneider. Konkret beschreibt er Lisboas „Zwölf Propheten“ auf der Freitreppe zur Kirche in Congonha del Campo und Riemenschneiders „Beweinung Christi“ in Maidbronn bei Würzburg. Beide Künstler haben mit den revolutionären Bewegungen ihrer Zeit sympathisiert, Lisboa mit den aufständischen Inconfidentesgegen die portugiesische Krone am Ende des 18. Jahrhunderts, Riemenschneider mit den bäuerlichen und bürgerlichen Erhebungen gegen die parasitäre Kirche und den Adel im 16. Jahrhundert. In den beiden genannten Kunstwerken geben sie – wenn auch verklausuliert – davon Zeugnis, wie Ernesto Kroch zeigt.
Gleichzeitig offenbart der Anhang-Essay ein weiteres Spezifikum des Autors. Biographische Texte über jüdische EmigrantInnen aus Nazideutschland weisen häufig darauf hin, dass auch nach einem langen Leben auf einem anderen Kontinent die deutsche Kultur wichtigster intellektueller Bezugspunkt blieb. Wiewohl für Ernesto Kroch die deutsche Kunst immer bedeutsam blieb, hat er sich genauso auf die kulturellen Traditionen seines neuen Lebensumfelds in Südamerika eingelassen, die für ihn genauso wichtig wurden wie die der alten Heimat. Er kannte und schätzte die Klassiker der argentinischen, brasilianischen und uruguayischen Literatur ebenso wie Goethe und Büchner und Antonio Francisco Lisboa ebenso wie Tillman Riemenschneider. Wie schon bei der oben erwähnten keineswegs freiwilligen Proletarisierung in der Weltwirtschaftskrise sah er auch in der erzwungenen Emigration nach Uruguay die Chance, eine neue Welt kennen und lieben zu lernen.
Es gibt verschiedene Schubladen, in die man Ernesto Krochs Roman „Wo auch immer“ einordnen könnte. Wie oben dargelegt steht er in der Tradition der Arbeiterliteraturbewewgung. Genauso gehört er zur Exilliteratur. Um die Jahrtausendwende geschrieben, ist „Wo auch immer“ einer der letzten Romane des antifaschistischen Exils. Er gehört ohne Zweifel zur deutschen Literatur, alleine schon weil er – anders als andere Arbeiten des Autors – auf Deutsch geschrieben wurde. Er gehört aber ebenso auch zur Literatur seiner Zuflucht und Wahlheimat Uruguay, die immer stark von den Erfahrungen der Einwanderer geprägt war und ist.
Während es heutzutage schick ist, dass literarische Jetsetter ihre ProtagonistInnen durch die Welt schicken, ist Ernesto Krochs Roman zudem globalisierte Literatur im echten Sinne. Vor allem aber ist „Wo auch immer“ ein soziales Buch, das reflektiert, dass Menschen soziale Wesen sind und es an ihnen liegt, ihr Zusammenleben menschlich und sozial zu gestalten.
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