Wenn sich LiteratInnen oder PublizistInnen historischen Stoffen zuwenden, reagieren sie damit häufig auf aktuelle Phänomene. Dies gilt auch für Paul Lafargues Aufsatz über den „Jesuitenstaat“ von Paraguay. In seiner Einleitung weist Lafargue auf die Bemühungen der katholischen Kirche hin, in der Arbeiterklasse stärker Fuß zu fassen und die ProletarierInnen dem Einfluss des Sozialismus zu entziehen. Mit dieser Absicht thematisiere sie die soziale Frage und verkünde, das Los der ProletarierInnen verbessern zu wollen. Doch wie die christliche Vorstellung einer sozialen Republik aussehe, bleibe unklar. In der Geschichte habe es jedoch ein Beispiel eines christlichen Sozialismus gegeben, nämlich den „Jesuitenstaat“ in Paraguay. Daran könne man studieren, wie sich die Katholiken eine christlich-soziale Gesellschaft vorstellen. Anders als Kautsky, dem es bei seiner Darstellung der in der Einleitung genannten religiösen Strömungen bestrebt war, deren progressiven Charakter, aber auch deren Begrenzungen (die er als Marxist vor allem in den Produktionsverhältnissen der jeweiligen Epochen und der heterogenen sozialen Basis der Bewegungen sah) darzustellen, ist Lafargues Text eine Auseinandersetzung mit einer konkurrierenden Tendenz in der Arbeiterbewegung.
Dabei geht es ihm aber nicht um billige Polemik, er hat die damals zur Verfügung stehende Literatur, sowohl von GegnerInnen wie von VerteidigerInnen des jesuitischen Experiments, gründlich studiert und sieht im „Jesuitenstaat“ „ein soziales Experiment, und zwar eines der interessantesten und ungewöhnlichsten, welche je gemacht worden sind“. Und er betont, dass die meiste zeitgenössische Kritik an diesem Experiment von interessierter Seite kam, nämlich den spanisch-kolonialen Grundbesitzern, die in den ökonomisch erfolgreichen Jesuitenreduktionen eine unliebsame Konkurrenz sahen und deren Plantagen und Arbeitskräfte begehrten. Ebenso durchsichtig sei die Kritik südamerikanischer Bischöfe, denen es nicht gepasst habe, dass die Missionen nicht den Ortskirchen unterstanden und die dort lebenden Indígenas denen keinen Zehnten zu entrichten hatten. Deswegen bezieht er sich in seiner Kritik stark auf Werke aus dem Umfeld der Jesuiten, die bemüht waren, deren Missionsprojekte positiv darzustellen.
Zunächst skizziert Lafargue die Lage in Südamerika und die Verfolgung der Guaraní-Indígenas vor der Ankunft der Jesuiten. Er zeigt, wie Sklavenhändller, vor allem aus dem portugiesischen Kolonialterritorien, dem heutigen Brasilien, Jagd auf die verstreut in Clans und Gemeinschaften lebenden Guaraní machten, um sie einzufangen und als SklavInnen zu halten bzw. zu verkaufen. Diese Praxis haben die ankommenden Jesuiten entschieden verurteilt und die Konzentration der Indígenas in unter ihrer Führung organisierten Missionen proklamiert. Dafür hatten sie sich der Unterstützung der spanischen Krone versichert. Um die Guaraní für ihr Missionsprojekt zu gewinnen, haben die Jesuiten die indigenen Sprachen erlernt, „was vor ihnen noch kein katholischer Geistlicher getan“ hat. Durch ihr „mutiges Eintreten zugunsten der Eingeborenen“ haben sich die Jesuiten „den Haß und die Feindschaft aller europäischen Ansiedler“ zugezogen.
Angesichts der schwierigen Lage der von den Sklavenhändlern verfolgten Guaraní erschien denen ein Leben in den Missionen, „die ihnen Schutz und Lebensmittel boten“, als Alternative. 19 der 26 Missionen sind in den ersten Jahren nach der Ankunft der Jesuiten gegründet worden, teilweise in bereits bestehenden kolonialen Niederlassungen. Als die Raubzüge der Sklavenhändller zurückgingen, hat das Interesse der noch frei lebenden Guaraní – Lafargue spricht häufig von „den Wilden“ – sich in die Missionen zu begeben, deutlich nachgelassen. Der Autor wirft den Jesuiten vor, sie hätten die Indígenas in erster Linie zur Arbeit erziehen wollen, das sei ihnen noch wichtiger gewesen, als sie zu guten Christen zu machen.
Alle Indígenas waren zur Arbeit – entweder in der Landwirtschaft oder in den Handwerks- bzw. Manufakturbetrieben der Missionen – verpflichtet. Wer die von den Jesuiten festgesetzten Produktionsmengen nicht erbrachte, wurde bestraft, z.B. ausgepeitscht. In den Missionen haben die Indígenas „Tabak, grüne Gemüse, rohe und gesponnene Baumwolle, gegerbtes Leder, Schuhe, Wachs und hauptsächlich die Yerba del Paraguay, den Paraguaytee, gewöhnlich Mate genannt, der in Südamerika sehr viel anstatt des Kaffees getrunken wird“, produziert. Diese Erzeugnisse wurden in den Städten verkauft. Die Verkaufserlöse kamen allerdings nur dem Jesuitenorden zugute, wobei Lafargue betont, die jeweils zwei Patres in jeder Reduktion hätten selbst bescheiden, wenn auch abgesondert von den indigenen BewohnerInnen, gelebt.
Die Indígenas sind für ihre Arbeit „zum Wohle Gottes“ nicht entlohnt worden, ihnen wurde pro Familie etwas Land zur Verfügung gestellt, auf dem sie an zwei Tagen in der Woche die Lebensmittel für den eigenen Bedarf anbauen konnten. Doch nicht einmal darüber konnten sie frei verfügen. Mit der Begründung, die Guaraní würden alles sofort konsumieren und seien zu einer Vorratswirtschaft nicht fähig, mussten sie die auf ihren Parzellen produzierten Agrarprodukte abliefern. Davon haben ihnen die Patres dann jeweils eine festgelegte Menge für einen bestimmten Zeitraum zugeteilt.
Ebenso wurden ihnen einige Meter der in den Werkstätten der Reduktion hergestellten Stoffe zugewiesen, aus denen sie ihre – für alle einheitliche – Kleidung nähen konnten. Dazu ergänzt Lafargue: „Alle Indianer gingen barfuß, obgleich es in den Missionen Gerbereien und Schuhmacherwerkstätten gab, deren Erzeugnisse in den Städten verkauft wurden.“ Ebenso wie die Kleidung waren auch die Hütten der Indígenas sehr bescheiden: „Diese wohnen ebenso jämmerlich, als sie schlecht gekleidet waren.“
Das Verlassen der Missionen war nur denjenigen erlaubt, die für den Transport und den Verkauf der in den Reduktionen hergestellten Waren zuständig waren. So waren die Indígenas nur auf ihre Mission beschränkt: „Um ihren Verkehr mit der Außenwelt und ihre Flucht zu verhindern, war jeder Weiler mit tiefen Gräben umgeben, die durch Pfähle und starke Palisaden gedeckt wurden. Den Zugang vermittelten nur ein oder zwei Tore, die von Schildwachen gehütet wurden, und die man nur mit schriftlicher Erlaubnis passieren durfte.“ Während jesuitische Schriften die Befestigung der Reduktionen mit der Gefahr der Angriffe von Sklavenjägern und Plünderungen begründeten, weist Lafargue darauf hin, dass die Mauern und Zäune auch den Zweck gehabt hätten, die Indígenas, die sich nicht länger dem Arbeitsregime unterwerfen und wieder in den Wäldern leben wollten, an der Flucht zu hindern. Auch hätten die Jesuiten Angriffe frei lebender Guaraní-Clans befürchtet.
Die Reduktionen verfügten übrigens über eigene militärische Kräfte. Normalerweise war es den Indígenas in den spanischen Territorien der Kolonien Südamerikas verboten, Feuerwaffen zu tragen, weil die Kolonialmacht – nicht zu Unrecht – fürchtete, Aufstände gut bewaffneter Indígenas nicht überstehen zu können. Die Jesuiten erreichten aber, dass sie zur Verteidigung der Missionen deren BewohnerInnen militärisch ausbilden und bewaffnen durften. Lafargue berichtet, dass durch Aufstände bedrängte Kolonialstädte sogar mehrfach bei den Jesuiten um Unterstützung durch die Guaraní-Truppen der Missionen ersucht und diese auch erhalten hätten. Die Waffen wurden aber nur unmittelbar vor Einsätzen an die Indígenas ausgegeben, ansonsten wurden sie streng bewacht in Magazinen aufbewahrt. Das Vertrauen der Jesuiten in die Loyalität „ihrer“ Streikträfte scheint nicht unbegrenzt gewesen zu sein…
Neben der Arbeit waren die Indígenas angehalten, an den zahlreichen religiösen Veranstaltungen teilzunehmen: „Die ganze Zeit, die nicht der Arbeit und der nötigen Erholung gewidmet war, mußten sie in Gebeten verbringen, damit ihnen nicht eine Minute frei blieb, in der sie über ihre Arbeit hätten nachdenken können.“ Der einzige arbeitsfreie Tag der Woche, der Sonntag, war vollständig mit religiösen Veranstaltungen und Zeremonien gefüllt, was Lafargue zu folgendem Kommentar veranlasste: „Der wöchentliche Ruhetag sollte ganz absichtlich so langweilig als möglich gemacht werden, damit sich die Indianer nach der Arbeit zurücksehnten und sie als eine Zerstreuung betrachteten.“
Es gibt allerdings deutliche Hinweise, dass die Guaraní die kirchlichen Feste und Riten längst nicht so langweilig fanden, wie sie Paul Lafargue erschienen sein mochten. Der gewichtigste ist sicherlich, dass manche Indígena-Gemeinschaften diese auch mehr als zwei Jahrhunderte nach der Vertreibung der Jesuiten noch immer praktizieren, deswegen sogar gelegentlich gegen moderne Priester rebellierten, die einige davon reformieren oder abschaffen wollten (vgl. dazu den Beitrag von Peter Strack in dieser ila). Auch existieren vielerorts noch die von den Jesuiten initiierten religiösen Bruderschaften.
Bei den Darstellungen Lafargues musste ich immer wieder an Berichte aus und über realsozialistische Länder aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts denken. Seien es die Strukturen der landwirtschaftlichen und industriellen Staatsbetriebe, die zu erfüllenden Arbeitsnormen, der Export lokal begehrter Produkte auf externe Märkte, die eingeschränkte Reise- und Bewegungsfreiheit der BewohnerInnen, der absolute ideologische Führungsanspruch der herrschenden Partei (hier die Jesuiten, dort die jeweilige KP), die Absonderung der Funktionäre von der übrigen Bevölkerung, die Omnipräsenz religiöser bzw. politischer Rituale und Mobilisierungen – die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Auch das noch immer häufig verklärte Konzept des „neuen Menschen“, der seine Kraft nicht dem individuellen Vorteil, sondern dem großen Ganzen zur Verfügung stelle, was nichts anderes heißt, dass er/sie ohne Entlohnung oder materielle Vorteile für ein – von der Führung definiertes – abstraktes höheres Ziel arbeitet, kam mir in den Sinn.
Auf der anderen Seite konnten sowohl der „Jesuitenstaat“ als auch die realsozialistischen Wirtschafts- und Staatsmodelle des 20. Jahrhunderts auf elementare Errungenschaften verweisen. Hier wie dort waren die materiellen Grundbedürfnisse garantiert, die Leute waren auch bei Krankheit, Arbeitsunfähigkeit und Alter materiell abgesichert, eine dem Stand der Zeit entsprechende medizinische Versorgung stand allen zur Verfügung, es existierte weder demütigende Armut noch obszöner Reichtum, niemand musste betteln, entwürdigende Arbeit ausführen oder sich für ein paar Brosamen erniedrigen. Auch hier ließe sich die Liste fortsetzen.
Sowohl in den Reduktionen als auch im Staatssozialismus hat eine entschlossene Elite – oder anders ausgedrückt, eine religiöse bzw. politische Bürokratie – versucht, die unter ihrer Kontrolle lebenden Menschen vor der kapitalistischen Ausbeutung zu schützen und ein nichtkapitalistisches Entwicklungsmodell zu realisieren. In beiden Fällen waren diese Staatsexperimente von feindseligen Nachbarn umgeben, denen alles daran gelegen war, sie zu eliminieren. Was sie letztlich auch erreichten, weil sie ökonomisch und militärisch stärker waren, aber auch, weil ihnen die internen Widersprüche der egalitären Experimente in die Hände spielten. Sowohl in den Jesuitenreduktionen als auch in den realsozialistischen Staatsmodellen fehlte es an interner Demokratie, waren die dort lebenden Menschen nicht wirklich Subjekte der Veränderung.
Lafargue zitiert in seinen Ausführungen häufig den Ensayo de la Historia Civil de Paraguay von Don Gregorio Funes, dem Dechanten der Kathedrale von Córdoba, aus dem Jahre 1816. Funes, ein entschiedener Verteidiger der Jesuitenreduktionen, gesteht ein, dass die dortigen Zustände, insbesondere was die Rechte der Indígenas angehe, nicht dem Ideal einer Republik entsprochen hätten, betont dann allerdings: „Nichts wäre törichter gewesen, als eine Freiheit zu gewähren, welche mit dem Charakter und den Lebensbedingungen dieser Indianer unvereinbar war.“ Bevor die Indígenas sich selbst regieren könnten, müssten sie „einige Jahrhunderte sozialer Kindheit“ durchleben. Auch im realen Sozialismus wurden dessen demokratische Defizite von seinen (intelligenteren) Verteidigern sehr wohl benannt, aber es wurde dann umgehend betont, dass die Leute für den Übergang zum Kommunismus, also einem selbstbestimmten Leben, noch nicht reif seien. Diese „vermeintliche“ Unfähigkeit der Regierten zu Freiheit und Selbstbestimmung ist aber stets das Standardargument zur Verteidigung von Herrschaft und Entmündigung.
Es gibt heute sicherlich differenziertere und historisch fundiertere Abhandlungen über den Jesuitenstaat als Paul Lafargues Aufsatz aus dem Jahr 1895. Aber dessen Stärke ist, dass er die Widersprüche des jesuitischen Sozialismus in bemerkenswerter Klarheit aufzeigt. Dass dieser unorthodoxe Marxist damit gleichzeitig eine vorausschauende linke Kritik jener Wirtschafts- und Staatsmodelle leistete, die nach seinem Tod als „real existierender Sozialismus“ praktiziert wurden, ist ebenso faszinierend wie tragisch.