Eine ganz kleine Insel

Gut 28 Jahre nach meinem ersten Aufenthalt kehre ich nach Grenada zurück. Als die kleine Maschine der ostkaribischen Fluggesellschaft Liat, aus Barbados kommend, auf der Insel landet, lese ich als erstes in großen Lettern auf dem Abfertigungsgebäude Maurice Bishop International Airport. Der Flughafen trägt erst seit wenigen Jahren diesen Namen – eine späte Hommage, die mich sehr freut. Maurice Bishop war der charismatische Führer der Revolution vom März 1979 und danach der Ministerpräsident der Revolutionsregierung gewesen. Am 19. Oktober 1983 wurde er – gerade 39jährig – zusammen mit mehreren Regierungsmitgliedern, Gewerkschaftern und weiteren AnhängerInnen ermordet. Verantwortlich für das Massaker waren der stellvertretende Ministerpräsident Bernhard Coard und der Befehlshaber der kleinen Armee Grenadas, General Hudson Austin. Diese Morde hatten der US-Regierung unter Ronald Reagan den Vorwand für ihre Militärinvasion am 25. Oktober 1983 geliefert. Das war nicht ohne Ironie, hatten die USA doch in den Jahren zuvor durch Medienkampagnen, wirtschaftlichen Druck und Attentate die Destabilisierung der Regierung Bishop betrieben. Nun kam ihnen seine Ermordung gerade recht, um die schon vorher in Seemanövern geprobte Invasion des kleinen Landes mit seinen nur knapp 100.000 EinwohnerInnen zu realisieren. Nach dem US-Überfall war lange Zeit alles tabu gewesen, was an die Revolution von 1979 erinnerte. Nicht einmal die sterblichen Überreste von Maurice Bishop und der anderen Ermordeten wurden zur Bestattung freigegeben.

Seit 2008, als der Liberale Tilman Thomas die Konservativen in Grenada an der Macht ablöste, wird die offizielle Sicht auf die Revolutionsjahre etwas differenzierter. Sie werden nun als Teil der Geschichte des jungen Staates betrachtet, der erst 1974 seine Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Großbritannien erreicht hatte. In diesem Zusammenhang ist auch die Namensgebung des Flughafens zu sehen, schließlich war es Maurice Bishops Regierung, die dessen Bau beschlossen und mit kubanischer Hilfe begonnen hatte. Ronald Reagan und seine ultrakonservativen Lateinamerikaberater behaupteten damals, hier entstünde kein ziviler Airport, sondern ein sowjetisch-kubanischer Militärstützpunkt. Tatsächlich wurde die eben fertiggestellte Landebahn ein einziges Mal militärisch genutzt – von den US-Marines bei ihrer Militärinvasion im Oktober 1983.

In der kleinen Tourismuszone, die sich damals wie heute auf wenige Kilometer herrlicher Strände südlich der Hauptstadt St. George’s konzentriert, sind eine Reihe neuer eleganter Hotels entstanden. Auch in der Revolutionszeit war der Tourismus ein wichtiger Devisenbringer und die Regierung wollte ihn ausbauen – dem sollte auch der neue Flughafen dienen, bis zu dessen Fertigstellung konnte Grenada nur von sehr kleinen Maschinen angeflogen werden. Heute ist die Wirtschaft der Insel in starkem Maße vom Tourismus abhängig, einem eher exklusiven Tourismus mit teuren Hotels, in denen schwarze GrenadierInnen fast ausschließlich weiße TouristInnen, vorwiegend aus Großbritannien, Kanada und den USA bedienen.

Für unseren ersten Besuch in St. George’s steigen wir in eins der nach wie vor wichtigsten Verkehrsmittel, einen Toyota-Kleinbus mit üblicherweise äußerst potenter Musikanlage, die den passenden Reggae-Sound zur spektakulär schönen Inselkulisse liefert. In Europa sind diese Transporter für neun PassagierInnen zugelassen, in Grenada schafft es der Eintreiber regelmäßig, doppelt so viele Menschen hineinzuquetschen.

St. George’s ist eher ein „Hauptstädtchen“ mit gerade mal 10 000 EinwohnerInnen. Wegen seiner Lage, seinem Naturhafen und seinen hübschen und liebevoll gepflegten Häusern – viele davon aus Holz – gilt es als einer der schönsten Orte der Ostkaribik. In der Stadt hat sich auf den ersten Blick seit 1983 relativ wenig verändert. Klar, es gibt viele neue Gebäude – auch deshalb, weil erst 2005 der fürchterliche Hurrikan Ivan 80 Prozent (!) der Häuser auf der Insel zerstört hatte. Neben vielen Wohnhäusern waren in St. George’s auch das Parlamentsgebäude, der Amtssitz des Premierministers, alle drei historischen Kirchen (die katholische, anglikanische und eine protestantische) und die Hafenanlagen zerstört worden. Aber das war der internationalen Presse kaum eine Erwähnung wert. Die zerstörten Häuser wurden im alten Stil wieder aufgebaut, Parlament und Regierungssitz wurden an anderer Stelle neu errichtet. Anstelle des alten Hafenkais entstand ein moderner Containerhafen und daneben ein schicker Yachthafen für wohlhabende Skipper aus aller Welt. Von den alten Kirchen aus dem frühen 19. Jahrhundert wurde nur die katholische mit internationalen Geldern restauriert, die beiden anderen blieben Ruinen.

Aber Niederlassungen von US-Firmen und Filialen von US-Ketten, die ich eigentlich in größerer Zahl erwartet hatte, sah ich kaum. Ein McDonald’s und ein Kentucky Fried Chicken, aber viel ist da nicht. Offensichtlich ist den US-Konzernen die Insel zu klein und die Kaufkraft ihrer BewohnerInnen zu niedrig. Nur ein US-Multi ist in Grenada – wie vielerorts in Lateinamerika und der Karibik – sehr präsent, sogar in den kleineren Provinzstädtchen: Western Union, ein „Finanzdienstleister“, der darauf spezialisiert ist, Geld an Leute zu transferieren, die kein Bankkonto haben. Gegen sehr hohe Gebühren schicken damit in Europa und Nordamerika lebende Menschen aus Afrika, der Karibik und Lateinamerika Euros, Pfund oder Dollars an ihre Familien zu Hause.

Die große Zahl von MigrantInnen – es wird geschätzt, dass mindestens 200 000 GrenadierInnen, also doppelt so viele wie auf der Insel selbst, in Großbritannien, Kanada, den USA sowie in Trinidad & Tobago leben – sind eine Säule der grenadischen Wirtschaft. Sie sind der Grund dafür, dass die InselbewohnerInnen trotz einer sehr hohen Arbeitslosigkeit, wenig ökonomischen Perspektiven und einem europäischen Preisniveau irgendwie über die Runden kommen. Die Geldüberweisungen der Brothers and Sisters in Übersee sind dafür unabdingbar. Zu Zeiten der Revolution war es ein Ziel der Regierung Bishop, den Massenexodus der jungen, gebildeten GrenadierInnen nach Europa und Nordamerika zu stoppen. Man wollte den Leuten Perspektiven auf der Insel eröffnen und ihre Kompetenzen in den Dienst der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes stellen. Die konservativen Regierungen nach der US-Invasion verfolgten die gegenteilige Strategie: Sie suchten in Verhandlungen mit den USA, Kanada und Großbritannien höhere Migrationsquoten für GrenadierInnen zu erreichen. Auch wenn dies durchaus im subjektiven Interesse der migrationswilligen Jugendlichen liegen mag, ist es letztlich eine Politik, die die jungen Leute kontinuierlich außer Landes treibt, damit sie mit ihrer Arbeit in Übersee den sozialen Frieden auf der Insel sicherstellen.

Das Wiedersehen mit St. George’s lässt mich an meinem räumlichen Gedächtnis zweifeln. Dort wo in meiner Erinnerung Wasser war, das von netten kleinen Restaurants gesäumt wurde, stehen neue Häuser, eine Shopping-Mall, ein Busbahnhof für die Kleintransporter und ein riesiger Anlegepier. Auf Nachfragen versichert man mir, hier sei durchaus früher die Seaside gewesen. Mit (das Land zweifellos über Jahrzehnte verschuldenden) Krediten der Weltbank seien vor einigen Jahren einige Hektar aufgeschüttet und ein riesiger Anlegekai gebaut worden, um große Kreuzfahrtschiffe anzuziehen. Am nächsten Tag erblicke ich dann ein solches Ungetüm. Es wäre auch nicht zu übersehen gewesen, denn es überragt die höchstens dreigeschossigen Häuser von St. George’s um ein Vielfaches. Es scheint, als sei über Nacht ein mindestens zehnstöckiges Hochhaus aus dem Meer aufgestiegen.

Vier- bis fünfmal pro Woche legt morgens ein solches überdimensionales Kreuzfahrtschiff in Grenada an. Dem entsteigen dann jeweils rund 3000, manchmal sogar 4000 Leute. Die älteren Passagiere – das ist die große Mehrheit – ergießen sich für einige Stunden über St. George’s, die jüngeren Reisenden werden direkt vom Pier aus mit Booten zum Grand Anse Beach, dem größten „Traumstrand“ der Insel, gebracht und von einem mir bisher unbekannten Berufsstand, den Beach Chair Operators, in Empfang genommen, die ihnen für ein paar Dollar einen Liegestuhl vermieten und sie auf Bestellung mit Drinks aus den umliegenden Strandbars versorgen. Bis die Schiffe gegen Abend ihre Anker wieder lichten und das nächste Eiland ansteuern, wo sich am folgenden Tag das Spiel wiederholt, sind zahllose Händlerlnnen, TaxifahrerInnen, Tagestouren-veranstalterInnen, selbsternannte Tourist-Guides, GetränkeverkäuferInnen und viele andere auf den Beinen und versuchen, den „KreuzfahrerInnen“ irgendetwas anzudrehen. Als erfolgversprechend gilt, sich so zu verkleiden, wie KaribikbewohnerInnen in Reiseprospekten aussehen. Viele Markfrauen tragen an den Tagen ohne Kreuzfahrtschiffe Jeans. An den „Schiffstagen“ aber werfen sie sich in Schale, tragen „typische“ bunte Kleider und wickeln sich dazu passende Tücher um den Kopf. Gegen eine kleine Gebühr können sich TouristInnen auch mit ihnen fotografieren lassen.

Bevor die KreuzfahrerInnen in die Stadt kommen, müssen sie zuerst einmal durch die direkt am Anlegepier gelegene Shopping-Mall mit allerlei Klamotten- und Souvenirläden – selbst der Salzstreuer mit aufgemaltem Greetings from Grenada ist Made in China, wie seine Unterseite dem allzu neugierigen Käufer verrät. Was verkauft wird, bringt der lokalen Wirtschaft fast nichts und nützt nur ein paar Importeuren und den – meist arabischen oder indischen – GeschäftsinhaberInnen. Viel Geld lassen die Schiffsreisenden ohnehin nicht auf der Insel. Diejenigen, die keine Inselrundfahrt mit einem Kleinbus oder den Strandtrip gebucht haben, kehren sogar zum Mittagessen aufs Schiff zurück – schließlich hat man ja all inclusive gebucht – und verpassen so die Gelegenheit, die wirklich hervorragende Küche der Insel zu kosten, in der afrikanische, indische, französische und – glücklicherweise wenige – britische Einflüsse zusammenkommen.

Damit sie wenigstens etwas von dem Aufenthalt der Schiffe haben, setzen die GrenadierInnen auf eine – vorsichtig ausgedrückt – offensive Verkaufsstrategie, um ihre Waren und Dienstleistungen an den Mann und die Frau zu bringen. Wegen unserer Hautfarbe wurden wir an „Schiffstagen“ ebenfalls für „KreuzfahrerInnen“ gehalten und je nachdem, ob ein britisches, US-amerikanisches, kanadisches Schiff, die deutsche „Aida“ oder „Mein Schiff“ von TUI vor Anker gegangen waren, permanent auf Deutsch oder Englisch angesprochen und angehalten, irgendetwas zu kaufen oder uns zu den most beautiful places der Stadt führen zu lassen. Ein freundlicher Hinweis: We are not from the ship genügte und man ließ sofort von uns ab.

Wissenschaftliche Untersuchungen weisen immer wieder darauf hin, dass der Tourismus kaum zum Abbau von Klischees und Vorurteilen beiträgt, weil er in der Regel so organisiert ist, dass er vorgeprägte Bilder bestätigt. Ob das immer so sein muss, weiß ich nicht, für den Kreuzfahrttourismus gilt es sicher. Die Reisenden bekommen bei ihren nur wenige Stunden währenden Stippvisiten überhaupt nichts von den Ländern und den Lebensbedingungen der BewohnerInnen mit, sondern sind nur ZuschauerInnen einer gewaltigen Inszenierung, die „Traumstrände und Lebensfreude in der Karibik“ heißt.

Mich hat natürlich besonders interessiert, ob etwas von der Revolution geblieben war. Bis zum „Selbstmord der Revolution“ (Fidel Castro) im Oktober 1983 hatte ich einige Monate einen beeindruckenden sozialen Prozess erlebt. Der von Bishop und seinen MitstreiterInnen stets im Munde geführte Anspruch Building a new society war nicht nur eine politische Parole. Es war das Lebensgefühl vieler Menschen, auch wenn sie alle viel zu meckern hatten und das auch fleißig taten. Überall, wo sie gebraucht wurden, entstanden mit kubanischer Hilfe Gesundheitszentren. Bildungsangebote für Kinder und Erwachsene hatten einen hohen Stellenwert und wurden im Radio Free Grenada mit Reggae- und Calypsospots beworben. Auf Gemeinde- und Kreisebene wurde direkte Demokratie eingeübt und, lange bevor Ähnliches in brasilianischen und später auch europäischen Städten versucht wurde, gab es 1982/83 das Experiment eines People’s Budget , das heißt, der Staatshaushalt und die öffentlichen Investitionen wurden vor ihrer Verabschiedung in den Gewerkschaften und Berufsverbänden, der National Women’s Organisation und anderen sozialen Zusammenhängen diskutiert.

Doch dann kam der Oktober 1983. Ich kann nicht beurteilen, was im Bewusstsein der Menschen verheerender war: dass die Symbolfiguren der Revolution, über die sie sich mit dem Prozess identifizierten, von den eigenen Leuten ermordet wurden oder dass die US-Besatzer in den ersten Monaten nach der Invasion alles plattmachten, was nach Revolution oder Communism aussah, jedwede Entwicklung rückgängig machten und dazu selbst Maschinen aus den Staatsbetrieben ins Ausland verschifften. Jedenfalls war der Traum von einer neuen Gesellschaft ausgeträumt. Der Versuch einiger Revolutionäre um die Exminister Kenrick Radix und George Louison, die das Massaker vom 19. Oktober 1983 überlebt hatten, mit dem Maurice Bishop Patriotic Movement (MBPM) eine neue linke Kraft zu etablieren, scheiterte. Die MBPM konnte sich nicht in der Bevölkerung verankern und löste sich in den neunziger Jahren auf. Lediglich im Londoner Exil bestand eine kleine Gruppe fort.

Nach meinem Eindruck ist der politische Prozess der Jahre 1979 bis 1983 inzwischen für die meisten GrenadierInnen nur noch Geschichte. Es gibt derzeit keine politischen Organisationen, die in der Tradition der Revolution stehen oder sich dezidiert als links definieren. 28 Jahre sind eine lange Zeit, besonders in einer so jungen Gesellschaft. Am Abend des 24. Dezember sind die Straßen und Plätze von St. George’s voller Menschen, die ganze Stadt scheint auf den Beinen zu sein. Es gibt nirgendwo eine öffentliche Veranstaltung, aber alle haben sich aufgebrezelt und sind unterwegs, um Bekannte zu treffen und zu klönen. Als wir uns spätabends durch ein paar tausend Menschen am total überfüllten Kleinbusbahnhof wühlen, fällt mir auf, dass da höchstens zehn, fünfzehn Leute sind, die die Revolution noch erlebt haben, alle anderen sind danach geboren.

In einem Zeitungsartikel – es gibt in Grenada keine Tageszeitung, aber fünf oder sechs Wochenblätter – wird für 2012 die Gründung und Registrierung einer neuen linken Partei angekündigt, die wahrscheinlich Grenada Liberation Movement heißen werde. Viel mehr wird nicht verraten, man werde die Öffentlichkeit informieren, wenn es soweit ist. Leider gelingt es uns nicht, an diesem Projekt beteiligte Leute ausfindig zu machen, so dass ich nicht einschätzen kann, ob es nur ein kleines Grüppchen ist oder ob das Projekt auf einer breiteren Basis steht.

Die relevanteste oppositionelle Kraft scheinen heute die Gewerkschaften zu sein. Während unseres Aufenthaltes streiken die Beschäftigten von Carib Brewery, der einzigen Brauerei des Landes (im trinidadischen Bestiz). Allein schon die Beliebtheit des dort hergestellten Produktes, aber auch die gute Öffentlichkeitsarbeit der KollegInnen garantieren dem Arbeitskampf eine große Aufmerksamkeit, zumal die Weihnachtsfeiertage vor der Tür stehen. In den Zeitungen und im Radio wird ausführlich berichtet. Die konservativen Sender machen sich zum Sprachrohr des Unternehmens und werfen den KollegInnen vor, den Leuten ihr Feiertagsbierchen verweigern zu wollen. Als der Gewerkschaftsführer Chester Humphrey kurzfristig festgenommen wird und das Unternehmen keine Bereitschaft zum Einlenken zeigt, ruft die Gewerkschaft zum Boykott des Carib-Biers auf, das ersatzweise aus Trinidad per Schiff angelandet wird. Daran müssen wir uns natürlich auch halten(was bei dem ansehnlichen Angebot an Rumpunchs nicht weiter schwierig ist), haben aber in den Kneipen und auf der Straße den Eindruck, dass sich die Solidarität mit den streikenden KollegInnen der Brauerei bei den meisten GrenadierInnen eher in Grenzen hält, zumindest was die Beteiligung an dem Boykott angeht…

Nach fast zwanzig Jahren überwiegend konservativer Regierungen gewann, wie bereits erwähnt, der sozialliberale NDC (National Democratic Congress) die Wahlen im Juli 2008. Der NDC ist weit davon entfernt, eine linke oder auch nur reformistische Partei zu sein und unterscheidet sich wirtschaftspolitisch kaum von der konservativen New National Party (NNP), die nach 1983 meistens regiert hatte – da die Briten Grenada und ihren anderen Kolonien in der Karibik ihr wenig demokratisches Mehrheitswahlrecht aufgezwungen haben, gibt es in den ostkaribischen Kleinstaaten jeweils nur zwei relevante Parteien, eine konservative und eine je nach Insel liberale bzw. sozialdemokratische. Trotz ihrer bürgerlich-liberalen Orientierung setzte die Regierung Thomas gesellschafts- und außenpolitisch neue Akzente. Dazu gehört die erwähnte Veränderung in der Sichtweise auf die Revolutionsjahre – sicher auch aus dem Kalkül heraus, dass sich im Vergleich zu allem, was danach kam, die Bilanz der Revolutionsregierung mehr als sehen lassen kann. Außenpolitisch hat Grenada unter der Regierung Thomas wieder Beziehungen zu Cuba aufgenommen und diejenigen zum Nachbarland Venezuela intensiviert. Mit der bolivarianischen Republik gibt es eine ganze Reihe von Kooperationsprojekten, wie man immer wieder auf Informationstafeln überall auf der Insel lesen kann. Venezuela ist ja auch nur ein paar hundert Kilometer entfernt und es gibt seit kurzem auch eine direkte Flugverbindung.

Wie fast alle Nachbarinseln ist Grenada Mitglied des von der Regierung Chávez initiierten Verbundes Petrocaribe, das den karibischen Staaten Zugang zu verbilligten Öllieferungen ermöglicht. Im Kooperationsbündnis ALBA, dem neben Venezuela, Bolivien, Ecaudor, Cuba und Nicaragua inzwischen auch die Karibikstaaten Dominica, Antigua & Barbuda und St. Vinvent angehören, hat Grenada Beobachterstatus.

In mehreren anderen ostkaribischen Staaten wie etwa St. Lucia, St. Vincent, Dominica sowie Antigua & Barbuda sind heute Parteien an der Regierung, die oder deren Vorläuferinnen Anfang der achtziger Jahren die linke Opposition auf ihren Inseln gebildet und mit der grenadischen Revolution sympathisiert hatten. Inzwischen sind sie sehr gemäßigt und gerieren sich als Sozialdemokraten. Sie unterhalten aber allesamt gute Beziehungen zur Regierung Chávez, deren Wirtschafts- und Ölhilfe sie gerne annehmen. Die verschafft ihnen innen- und außenpolitische Spielräume und verringert ein wenig die Abhängigkeit von Großbritannien und den USA.

Im antikommunistischen Rausch nach der US-Invasion hatte die NNP-Regierung auch die Beziehungen zur VR China abgebrochen und die Regierung Taiwans als Vertretung für ganz China anerkannt. Für die vor einigen Jahren erfolgte Wiederaufnahme der Beziehungen revanchierte sich Peking mit dem Bau des für grenadische Verhältnisse gigantischen Nationalstadions, das 20 000 BesucherInnen oder einem Fünftel der Gesamtbevölkerung Platz bietet. Das alte Stadion, der Queen’s Park, war ebenfalls durch den Hurrican Ivan zerstört worden. 

Zu den zahlreichen Projekten der Revolutionsregierung gehörte auch die Gründung des kleines Verlages Fedon Publishers, benannt nach dem Anführer eines SklavInnenaufstands Ende des 18. Jahrhunderts. Der Verlag veröffentlichte fünf oder sechs kleine Bücher über Geschichte und Gegenwart Grenadas. Es waren keine beschreibenden Sachbücher, sondern sie näherten sich den Themen im Wesentlichen über persönliche Erfahrungsberichte von beteiligten Personen im Stil der in Lateinamerika verbreiteten Testimonio-Literatur. Dazu gab es auch kürzere Erzählungen, Gedichte und Songtexte. Junge AutorInnen, die bereits mit literarischen Veröffentlichungen in Erscheinung getreten waren, wie Merle Collins und Jacob Ross, entwickelten im Erziehungsministerium eine revolutionäre Kulturpolitik. Auch damit war es nach der US-Invasion vorbei, Collins und Ross emigrierten nach London (Collins später in die USA), wo sie thematisch interessante und linguistisch wie formal innovative Erzählungen und Romane (auch über die Revolution, ihre Vorgeschichte und ihr Scheitern) publizierten und sich als AutorInnen einen Namen machten.

In den zwei Geschäften, die in St. George’s überhaupt Bücher verkaufen (ein Schreibwaren- und ein Souvenirladen) suchten wir ihre Bücher vergeblich. Ebensowenig fanden wir die Bücher der schon in den sechziger Jahren nach London ausgewanderten Jean Buffong oder die der in den USA als Kind grenadischer Eltern geborenen Audrey Lorde – allesamt äußerst spannende AutorInnen.[fn]Vgl. z. B. die Romane Angel von Merle Collins (London 1987/Seattle 1988) und Pynter Bender von Jacob Ross (London/New York/ Toronto/ Sidney 2008). Auf Deutsch sind lediglich der Erzählungsband „Ein Lied für Simone“ von Jacob Ross in der Übersetzung von Ludwig Laher (Guthmann Peterson, Wien/Mülheim 1993, 124 S., 11,25 Euro) und Audre Lordes „Mythobiographie „Zami“ in der Übersetzung von Karen Nölle (Unrast Verlag, Münster 2012, 328 S., 18,- Euro) lieferbar.[/fn] Doch die eigene Literatur scheint in Grenada kaum rezipiert zu werden. Schließlich fanden wir im größten Shoppingcenter der Insel in der Tourismuszone eine wirkliche Buchhandlung, die überwiegend Bildbände, internationale Unterhaltungsliteratur für TouristInnen und Bibeln in großer Zahl führte. Immerhin gab es dort zwei Regalbretter mit Caribbean Literature, wo neben den Büchern der Nobelpreisträger V.S. Naipaul und Derek Walcott von den Nachbarinseln Trinidad und St. Lucia auch drei oder vier Bücher grenadischer AutorInnen darauf warteten – wie lange schon? –, von uns gekauft zu werden.

Nach der US-Invasion war Bernhard Coard, Hudson Austin und den anderen PutschistInnen der Prozess gemacht worden. Im Oktober 1986 wurden die AnführerInnen zum Tode verurteilt. Die Todesstrafe war damals in Grenada nicht offiziell abgeschafft, wurde aber seit der Unabhängigkeit 1974 nicht mehr vollstreckt. 1991 wurden die Urteile in eine lebenslange und 2007 in eine 30jährige Haftstrafe umgewandelt. Im September 2009 sind alle am Putsch Beteiligten schließlich aus der Haft entlassen worden. Aus Furcht vor möglichen Racheakten haben sie die Insel verlassen, Bernhard Coard lebt ebenso wie seine Frau Phyllis, die wegen einer Krebserkrankung bereits einige Jahre früher freigekommen war, in Jamaica, wo er vor der grenadischen Revolution an der University of the West Indies gelehrt hatte. Nach 1983 wurde in Grenada und im Ausland viel darüber spekuliert, ob die PutschistInnen tatsächlich stalinistische Hardliner waren oder ob sie – zumindest teilweise – im Sold von US-Geheimdiensten standen. Einen größeren Gefallen als ihren blutig-dilettantischen Putschversuch hätten sie der Reagan-Regierung gar nicht tun können. Insbesondere Hudson Austin gab Anlass zu derlei Spekulationen, hatte er doch eine Vergangenheit in der US-Army. Wenn er wirklich für die CIA gearbeitet hatte, hätte die es ihm schlecht gedankt, schließlich ließ man auch ihn 26 Jahre im Knast.

Bernhard und Phyllis Coard waren sicher keine CIA-MitarbeiterInnen. Ihre Fraktion hatte damals argumentiert, Bishop und die Mehrheit der Regierungsmitglieder seien „kleinbürgerliche Elemente“, die die Bourgeoisie schonten. In Grenada müsste aber die „Diktatur des Proletariats“ errichtet werden. Was angesichts des nicht vorhandenen Arbeiterproletariats freilich die Diktatur der „proletarischen“ Partei NJM bedeutet hätte. Das New Jewel Movement war Anfang der siebziger Jahre von Maurice Bishop, Kerrick Radix und Bernhard Coard gegründet worden. Nach dem Sieg der Revolution hatten sich Bishop, Radix und die meisten anderen Mitglieder der revolutionären Regierung aus der Parteiarbeit zurückgezogen und sie dem Ehepaar Coard und einigen jungen DogmatikerInnen überlassen. Ob der Antrieb der PutschistInnen tatsächlich ihre politische Orthodoxie war oder ob es nicht vielmehr persönliche Machtambitionen waren, ist schwer zu sagen, vermutlich kam beides zusammen.

Am Tag vor Silvester unterhalten wir uns mit einer älteren Lehrerin, die die Beteiligten schon lange vor der Revolution kannte. Sie schätzt Maurice Bishop sehr, aber bis zu den Ereignissen vom Oktober 1983 hatte sie auch von Bernhard Coard viel gehalten. Seine in London entstandene Dissertation How the West Indian Child is Made Educationally Subnormal in the British School System sei bis heute ein Standardwerk über die Benachteiligung von Migrantenkids im britischen Bildungssystem. Coard sei ein großer Educater, an der University of the West Indies hätten die StudentInnen in den siebziger Jahren an seinen Lippen gehangen und selbst im Gefängnis habe er während seiner ganzen Haftzeit Alphabetisierungs- und Bildungskurse für die Knackis organisiert, die hätten dort alle mehr gelernt als in der Schule.
Wäre er doch nur einfach Lehrer geblieben…

Bericht über eine Reise nach Grenada