Eine leidenschaftliche Geschichtenerzählerin

Als die „Schwedische Akademie“, die den Träger bzw. die Trägerin des Literaturnobelpreises auswählt, 2018 aufgrund interner Probleme ankündigte, in dem Jahr keine*n Preisträger*in zu küren, initiierten etwa hundert schwedische Künstler*innen und Intellektuelle die Verleihung eines alternativen Nobelpreises. Im Internet wurde per Crowdfunding für das Preisgeld gesammelt und dort konnten die Schwed*innen auch ihre Stimme für eine*n von 47 vorgeschlagenen Autor*innen abgeben. Gewählt wurde mit großem Vorsprung die von der Karibikinsel Guadeloupe stammende Maryse Condé.

Die damals 81-Jährige hatte seit den 1970er-­Jahren zahlreiche Roma­ne veröffentlicht, de­ren Handlung entweder in der Karibik oder in Afrika, wo die Autorin lange gelebt hatte, angesiedelt war. Im deutschsprachigen Raum ist sie vor allem durch den Segu-Zyklus bekannt geworden, eine Serie von Romanen, die das Leben im vorkolonialen Afrika des 18. Jahrhunderts thematisierte. Damit entführte Maryse Condé ihre Leser*innen in eine Welt, deren Existenz in den Geschichtsbüchern des Nordens schlichtweg geleugnet wurde. Dort begann die afrikanische Geschichte erst mit der Besetzung durch europäische Kolonialarmeen.

Maryse Condé war zeitlebens eine Linke und blieb das auch, als sie mit revolutionären und antikolonialen Kräften in Afrika schlechte Erfahrungen machte und deren Korruption und Machtmissbrauch erlebte. Daran übte sie scharfe Kritik.

Obgleich sie sich selbst nie als Feministin bezeichnete, nahm sie in ihrer Literatur eine strikt weibliche Perspektive ein. Sie entwickelte starke Frauenfiguren und dekonstruierte männliche Macht- und Gewaltstrukturen bei den Kolonialisten ebenso wie bei den Kolonisierten.

Ich habe ihre Bücher immer mit großem Spaß und Erkenntnisgewinn gelesen. Im Aufbau ihrer Texte war sie eher konservativ. Sie sind weitgehend chronologisch und gradlinig erzählt, formale Experimente waren nicht ihr Ding. Aber sie war eine präzise Beobachterin, die auch und gerade die Zwischentöne wahrnahm und wunderbar verbalisieren konnte. Vor allem aber war sie eine große und leidenschaftliche Geschichtenerzählerin. Am 2. April 2024 ist Maryse Condé in Südfrankreich gestorben.