Es war irgendwann im Dezember 1992. In der Sala Zitarrosa, Montevideos schönstem Konzertsaal, war ein Konzert von Daniel Viglietti angekündigt. Als wir nach Uruguay kamen, war es bereits restlos ausverkauft. Wenn unser Freund David Cámpora keine Karten organisiert hätte, hätten wir keine Chance gehabt, welche zu bekommen. David war Anfang der 70er-Jahre bei den Tupamaros, der uruguayischen Guerilla, war dann verhaftet worden und viele Jahre im Gefängnis, ehe er nach Köln ausreisen konnte, wo seine Familie schon seit einigen Jahren lebte.
Das Publikum war sehr gemischt, ebenso viele ältere Leute wie junge und ganz junge. Als er sich im Saal umschaute, meinte David, im Publikum kämen locker 1000 Jahre Knast zusammen, das heißt, viele der Besucher*innen waren wegen ihrer Militanz bei den Tupamaros und anderen linken Gruppen während der Militärdiktatur im Gefängnis. Das Konzert war ein unvergessliches Erlebnis. Von seinen alten Liedern brauchte Daniel Viglietti nur die ersten zwei, drei Akkorde auf der Gitarre anzuschlagen, und alle wussten Bescheid und begannen zu singen. Als er A desalambrar (Reißt die Zäune nieder) sang, hatten viele Menschen Tränen in den Augen. Das Lied war die inoffizielle Hymne der Tupamaros, es stand für die Hoffnung auf die Revolution und ein besseres Uruguay, ein Traum, für den nicht wenige der Anwesenden vieles gegeben und erlitten haben. Zur Zeit des Konzerts hatte Uruguay wieder eine zivile, aber konservative Regierung, es deutete noch wenig darauf hin, dass die Linke keine 15 Jahre später an die Regierung gewählt würde und dass weitere vier Jahre später mit Pepe Mujíca ein Tupamaro Präsident würde.
Daniel Viglietti sang nicht nur seine alten Lieder, er hatte auch viele neue dabei, bei denen ihn ein junger Musiker auf einer Querflöte begleitete. Als er die sang, war es im Saal so still, dass man buchstäblich eine Stecknadel hätte fallen hören.
Als wir Daniel zwei Tage später trafen, hatte er als Treffpunkt ein Café namens „Rheingold“ vorgeschlagen. Beim Eintreten schauten wir uns etwas erstaunt um, weil das Publikum, vorsichtig ausgedrückt, nicht sehr fortschrittlich aussah. Er meinte lächelnd, die Besitzer seien deutsche Reaktionäre, im Nachbarraum hinge sogar ein Bild des 1940 im Río de la Plata versenkten Panzerkreuzers „Graf Spee“, aber der Kuchen sei unschlagbar gut.
Wir sprachen über das Konzert. Ihm war es sehr wichtig, nicht nur auf seine alten Lieder reduziert zu werden. Die Zeiten hätten sich geändert, er habe sich entwickelt und deshalb müsse er auch neue Geschichten erzählen. Nicht verändert habe sich freilich sein Ziel. Er kämpfe weiter für grundlegende Veränderungen in Uruguay, auch wenn die Zeit des bewaffneten Kampfes vorbei sei. Der Nachmittag ging rasend schnell vorbei, als wir uns verabschieden, war es, als ob wir uns schon ewig gekannt hätten und gerade mal wieder begegnet wären.
In gewisser Weise stimmte das ja auch, zumindest in die eine Richtung. Er kannte uns vorher nicht, aber wir kannten ihn, vor allem seine Lieder, schon lange. Ende der 70er-Jahre, ich war damals noch nicht dabei, hatte die ila zusammen mit der Kölner Kinderhilfe Lateinamerika ein großes Konzert mit Daniel organisiert. Er war damals in Paris im Exil und reiste durch ganz Europa, um seine Lieder zu singen, vor allem aber, um die Menschen zur Solidarität mit den politisch Verfolgten aufzurufen. Wie vielen politischen Künstlern ging es ihm trotz seiner zahlreichen Auftritte ökonomisch schlecht, weil alle wollten, dass er aus Solidarität ohne oder für sehr wenig Gage spielen sollte.
Er wurde damals oft etwas pathetisch als „die Stimme Lateinamerikas“ im Exil bezeichnet. Es gab sicher viele demokratische Stimmen aus Lateinamerika, aber die von Daniel war zweifellos eine der gewichtigsten.
Als die Militärdiktatur noch an der Macht, aber bereits stark geschwächt war, kehrte er im September 1984 nach Uruguay zurück. 1986 kam er anlässlich einer Konzertreise wieder nach Europa und auch nach Deutschland. Damals konnten Christine und Claudio Moser für die ila ein Interview mit ihm führen. Er erzählte von dem begeisterten Empfang bei seiner Rückkehr, als er und andere Exilierte vor 30 000 Zuschauer*innen in einem Fußballstadion auftraten. Er betonte aber vor allem die Bedeutung der jungen Musiker*innen, die während der Diktatur angefangen hatten, widerständige Lieder zu singen und im Land die Sehnsucht nach Freiheit zu artikulieren.
Er schaffte es relativ schnell, wieder in Uruguay anzukommen und seine künstlerischen und politischen Zusammenhänge zu finden. In seinem Land war das sicher einfacher als in Argentinien oder Chile, weil es die uruguayischen Militärs trotz aller Repression nicht geschafft hatten, die linken Strukturen nachhaltig zu zerschlagen.
Er blieb auch international populär, gab immer wieder Konzerte in anderen Ländern Lateinamerikas und auch in Europa. Am 25. Februar 2017 spielte er bei einer Veranstaltung zum 70. Geburtstag der Tageszeitung „Junge Welt“ im Kino International in Berlin. Er trat dort zusammen mit dem Schauspieler Rolf Becker auf, seit Jahrzehnten einer der engagiertesten deutschen Künstler. Becker rezitierte seine Liedtexte oder Teile davon auf Deutsch, dann setzte Daniel mit seinem Gesang ein. Der kongeniale Auftritt der beiden hat das Publikum so begeistert, dass der Verlag 8. Mai entschied, eine Live-CD davon zu produzieren. Sie sollte Ende November 2017 erscheinen. Niemand ahnte, dass Daniel dann nicht mehr leben würde, er starb überraschend am 30. Oktober nach einer Routineoperation. Die inzwischen erschienene CD Otra Voz Canta wurde zu einem Vermächtnis für seine deutschen Fans. Uns bleiben die Erinnerungen an einen großen Kämpfer und Künstler, vor allem bleiben uns aber seine Lieder.
Die CD Otra Voz Canta (Hinter meiner Stimme) von Daniel Viglietti und Rolf Becker ist für 14,90 Euro beim Verlag 8. Mai erhältlich: www.jungewelt-shop.de