Mit dem Jahrhundert geboren, Tochter einer deutschen Familie in Banfield, südlich von Buenos Aires, spielte sich Annemarie Rübens’ Leben in zwei Welten ab. Ihre erste war die Dritte Welt, in die Erste kam sie dann, 9 Jahre alt, mit ihren Eltern und vier Geschwistern, verbrachte Jugend, Ausbildung und erste Berufstätigkeit in Deutschland und viel später auch ihr hohes Alter bis zum Tod im Mai vorigen Jahres. So hat sich ihre Persönlichkeit hauptsächlich in der Weimarer Republik geformt, während ihr Wirkungsfeld vor allem auf dem südamerikanischen Kontinent lag, wohin ihre Liebe sie wieder und wieder zog, nach Colonia Valdense, jener kleinen Ortschaft, nahe dem Rio de la Plata in Uruguay.
Nicht wenige Menschen haben eine Lebensanschauung, aber wenige leben danach. Annemarie Rübens gehörte zu denen, bei welchen Gedanke, Wort und Tat in eins gehen. Und auch die dazu nötige Vitalität. „Immer noch und schon ist alles möglich“, steht als erster Satz in ihrem „Tagebuch einer theologischen Carotte“, das sie in den fünfziger Jahren führte.
Ihre Option war für die Unterdrückten und Verfolgten. Doch war ihr Engagement weniger ein politisches, allgemeines, als ein unmittelbar menschliches. Nicht daß sie politisch indifferent gewesen wäre, doch Parteien spielten bei ihr eine Nebenrolle; im Grunde ebenso wie die Kirche, als sie Theologie studierte. Ihr Lebensinhalt war, Partei zu ergreifen für die Rechte der Frau oder Vertriebenen zu helfen, Kindern vor allem, deren Eltern ihrer Herkunft, Religion oder Überzeugung wegen verfolgt waren. Zu predigen, zu erziehen, Menschen zu beeinflussen, im Einklang mit ihren Mitmenschen und mit der Natur zu leben.
Eine Glaubensstreiterin also, doch nicht im herkömmlichen ökumenischen Sinne, wiewohl sie – wie schon erwähnt – auch Theologie studierte und Vikarin wurde, sondern indem sie ihren Glauben an das Gute in Taten umsetzte. Glaube und Wissen, denn nach ihrem Abitur 1920 in Köln hatte sie sich in der Landwirtschaft und im Gartenbau ausgebildet, vier Semester Sozialwissenschaften studiert und in den Sommerferien als Werkstudentin beim Aufbau einer Moorsiedlung nördlich von Hannover gearbeitet.
Soviele Berufe, derartige Vielseitigkeit schienen dem Vater, einem Exportkaufmann, für Annemaries Zukunft denn doch unzuträglich. Auf sein Drängen legt sie sich nun fest. Und da der Vater, selbst Freidenker, aus streng katholischer Familie kam, die Mutter evangelisch war und Annemarie wohl wissen wollte, wer in ihrer Familie den rechten Glauben hätte, studiert sie eben – und bis zum Abschluß – Theologie. In Marburg, in Bonn, in Tübingen. Dazu gehörig: Latein, Griechisch, Hebräisch, Religionssoziologie und Kirchengeschichte. Und daneben noch: Philosophie, moderne deutsche und russische Literatur und Kunst. Glaube und Wissen also.
Bezeichnend für ihre Eigenwilligkeit und ihren Charakter: Als sie zum zweiten theologischen Examen ging, hatte die Muter verlangt, daß sie sich einen Hut aufsetze. Sie sollte einen „ordentlichen Eindruck“ auf die Herren von der Prüfungskommission machen, zumal sie damals schon kurzes Haar trug. Auf dem Weg über die Rheinbrücke in Koblenz aber ließ sie den Hut „einem starken Wind zum Opfer fallen“. Sie wollte ihrer Leistung wegen und nicht wegen Einhaltens von Konventionen ihre Prüfung bestehen.
Sie bestand die erste wie die zweite Prüfung und arbeitete ab 1927 schon als Vikarin für wenig Geld an Kölner Berufsschulen und Altenheimen. Studierte indessen weiter Religionssoziologie für den Doktortitel, Jugendsoziologie in Frankfurt am Main und machte ein Praktikum bei geistig behinderten Jugendlichen in der Anstalt Hepatha in Treysen (Hessen).
Eine unbequeme Vikarin
In jener Zeit beteiligte sie sich an den Auseinandersetzungen über die Rolle der Frau in der Kirche. Die Mehrheit des „Verbandes der Evangelischen Theologinnen Deutschlands“ akzeptierte de facto die 1927 im „Vikarinnengesetz“ für die festgesetzten Beschränkungen des Arbeitsgebiets auf Kindergottesdienste, Bibelstunden und Andachten vor Mädchen und Frauen, auf kirchliche Lehrtätigkeit an Berufsschulen sowie auf Seelsorge, aber auch nur für das weibliche Geschlecht, in Krankenhäusern, Gefängnissen und Altenheimen. Ausdrücklich ausgeschlossen blieben sie vom Pfarramt, dem Gemeindegottesdienst, der Sakramentsverwaltung.
Hier zeigte Annemarie Rübens zum ersten Mal, daß sie nicht bereit war, ungerechte Diskriminierungen, auch wenn sie von der Obrigkeit verordnet waren, hinzunehmen. Zusammen mit drei anderen Vikarinnen, mit denen sie schon während des Studiums in Marburg Freundschaft geschlossen hatte, lief sie Sturm gegen die Männerherrschaft in der Kirche.
Im Bericht über die 4. Tagung des „Verbands“ im Oktober 1928 findet sich ihr Referat zu der Kontroverse. Während andere Theologinnen „wünschen“, fordert sie als ein zustehendes Recht das ganze Pfarramt für die Vikarinnen. Typisch für ihre Denkart ist – weniger bedeutungsvoll als das Subjekt des Disputs – ihre Beweisführung.
a) Annemarie Rübens, „cand. theol.“, beruft sich nicht so sehr auf biblische Zitate als rationelle Überlegungen: auf die Unteilbarkeit des Amtes, das nur als Ganzes einen Sinn macht: Seelsorge, Gemeindeleitung und Wortverkündigung. So wie auch die Gemeinde, Mann und Frau, nur als Ganzes eine Gemeinde bildet.
b) Für den evangelischen Glauben haftet am Träger der Kirche kein besonderer „character indelebelis“. Anders als der Katholizismus, für den es bei der „Gemeindeleitung um ein magisch qualifiziertes Amt handelt“, setzt die evangelische Religion „das allgemeine Priestertum der Gläubigen“ voraus.
c) Auf die psychologische Frage: Ist die Frau imstande, ein Pfarramt zu verwalten, weist sie auf die Fragwürdigkeit eines Gegensatzes oder einer Ergänzung des „Wesens der Frau“ zum Wesen des Mannes“ hin. Aber selbst wenn man dies annähme, so z.B. „daß Kriegsführung, das Todesurteil aussprechen, daß eine Mord der ganzen Eigenart der Frau tiefer und energischer widerspräche als der Eigenart des Mannes … selbst dann ließe sich unbedenklich sagen, daß es nichts im oder am Pfarramt gibt, was dem Wesen der Frau zuwiderliefe.
d) Und schließlich „stehe die Kirche in der Welt“ und unsere Zeit ist weithin qualifiziert und charakterisiert durch den Prozeß der Einordnung der Frau in alle Gebiete des Lebens“.
Und in der Zeitschrift „Die Frau“ schreibt sie 1931: „Unter dem Vorwand, des ,Dienens‘ verlangt man von uns (Theologinnen), daß wir unsere Zeit vor allem dazu verwenden, die Korrespondenz des Pfarrers zu führen, die Päckli für die Sonntagsschulweihnacht einzupacken, die Tassen nach einem Gemeindeabend zu waschen … daß wir Theologinnen uns gegen diese Art des ,Dienens‘ wehren, daß wir überhaupt auf das Wort ,Dienen‘, welches beständig zu dem Versuch verwendet wird, unsere Arbeit ins Belanglose herabzudrücken, nicht mehr gut zu sprechen sind, muß jedem, der einmal in diese Dinge hereingesehen hat, verständlich sein.“
Und an anderer Stelle („Christliche Freiheit“ 1928) „… um zu dieser Arbeit zu gelangen, haben wir nicht Theologie studiert.“ Und: „Hintergrund des Gesetzes ist, sagen wir es gerad heraus, eine gewisse Auffassung von der Minderwertigkeit der Frau …, die auf anderen Lebensgebieten längst erledigte Fabel von der ,Überlegenheit des männlichen Geschlechts‘“.
Jedenfalls traten sie und viele ihrer Freundinnen aus dem offiziellen Verband aus und gründeten einen neuen.
Aber wenn diese Frauen der Kirche schon in der Republik unbequem waren, so wurden sie ihr im III. Reich zu einer unerträglichen Belastung. Einmal mit dem Naziregime arrangiert, konnten diese kritisch denkenden, selbstbewußten Vikarinnen die Kirche nur kompromittieren.
Die vier streitbaren Freundinnen (Annemarie Rübens, Elisabeth von Aschoff, Aenne Schlümer und Ina Gschössl) wurden entlassen. Der unmittelbare Anlaß dazu ist nicht mehr auszumachen, im Sommer 33 scheint es zu heftigen Auseinandersetzungen mit den übergeordneten Amtsträgern gekommen zu sein – die Akten sind verbrannt –, aber vermutlich hatte Annemarie öffentlich für die Juden gebetet.
Ein Dokument des Presbyterium der evangelischen Gemeinde Köln weist daruf hin: „Auf Grund der kirchenbehördlich bekannten Vorgänge hat sich der Gemeindeausschuß genötigt gesehen, in seiner Sitzung am 12. 7. den Beschluß zu fassen, der Vikarin Rübens ihren Dienst in der Gemeinde zum 15. Oktober aufzukündigen und die Genannte ab 15. 7. von diesem Dienst zu beurlauben. Hinsichtlich der Tätigkeit der Genannten als Religionslehrerin an den städtischen Berufsschulen werden wir von der getroffenen Maßnahme der Stadtverwaltung Kenntnis geben.“
In einem Schreiben vom 11. November 1933 des Lizenziats theol. Klingenburg, der sich vergeblich für Annemarie Rübens einsetzte, an den Kirchenkreis Köln geht auch hervor, daß „die Kündigung der Vikarin Rübens bei der Gemeinde Köln, veranlaßt durch die damalige Haltung der Vikarin zur politischen Neuordnung, die Vikarinnen v. Aschoff und Schlümer erklären ließ, daß sie sich mit Fräulein Rübens solidarisch empfänden …“
Bei Annemarie mag noch hinzugekommen sein, daß sie Jahre zuvor in die S.P.D. eingetreten war und vor allem, daß sie ihr Lehrvikariat bei dem sozialdemokratischen „roten Pfarrer“ Georg Fritze in Köln gemacht hatte, einer der wenigen freilich, die überhaupt Frauen als Vikarinnen ausbildeten, der einzige, der den Eid auf Hitler verweigerte und der, von den Kollegen wie die Pest gemieden, wenige Jahre darauf „am kranken Herzen“ starb.
In ihrer eigenen Handschrift aufbewahrt, liegt noch der Text einer Predigt vor, die sie am 2. April 1933 hielt. Trotz aller geschickten Umschreibung, Bibel- und Nietzschezitate und der Übernahme der damals gängigen nationalistischen Phraseologie ist darin doch genügend antifaschistischer, antirassistischer Zündstoff enthalten, daß einem der Kündigungsbeschluß der gleichgeschalteten Kirche verständlich wird.
Eine Predigt wider den Strom
Bezugnehmend auf die Wort aus „Lucas 12.49.“: Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon“, fragt sie, ob heute wirklich „sein Feuer brennt“, die „Welt der Ort der Liebe sei“. Und nachdem sie die Liebe zu „unserem Volk“ bejaht hat, ergänzt sie: „Unsere Liebe muß rein bleiben. Es darf sich mit ihr kein Haß verbinden. Weder der Haß gegen andersdenkende Volksgenossen noch der gegen blutsfremde Volksgenossen, noch gegen fremde Völker … Wir sind nicht bloß Deutsche, wir sind Kinder Gottes. Heute kommt der Warnruf bereits zu spät. Wir haben vergessen, daß wir Kinder Gottes sind. Wir haben vergessen, daß unser Heil nicht in Maßnahmen, sondern in Gesinnungen bestehen muß, daß – um mit dem Freiherrn von Stein zu reden – festes Anhalten an Recht und Wahrheit die beste Politik ist. Die Flut des Hasses gegen die Volksgenossen, die frei sind von nationalistischer Leidenschaft, steigt täglich. Gleicherweise auch die Flut des Hasses gegen unsere jüdischen Volksgenossen. Rausch und Verzauberung herrschen.“
Und dann redet sie einem jeden ins Gewissen: „ … Wir dürfen uns unsere Verantwortung und unsere Aufgabe auch nicht dadurch leichter machen wollen, daß wir sagen, der einzelne Christ, das einzelne Glied der Kirche kann hier nichts tun, die Kirche als ganze muß handeln in ihren Behörden und Organisationen, sie muß von oben her das Wort zur Lage sagen, die Botschaft in die Zeit senden. Gewiß, das müßte sie tun, und sie könnte es tun durch einen allgemeinen Aufruf und durch die besonders eindringliche Verkündigung derer, die zum Amt der Verkündigung des Evangeliums berufen sind.
Wenn sie es aber nicht tut, wenn sie schweigt? Dann dürfen wir weder warten, bis sie etwa das Schweigen bricht, noch dürfen wir uns durch Schweigen verwirren und beirren lassen. Dann ist es an uns, kirchlich zu handeln, denn wir sind ihre freien und verantwortlichen Glieder.“
Nachdem sie derart zum Widerstand aufgerufen hat, gibt sie mit Nietzsche noch konspirative Ratschläge: „ … Wer viel einst zu verkünden hat, schweigt viel in sich hinein. Wer einst den Blitz zu zünden hat, muß lange Wolke sein. Nicht das Reden an sich tut es, wohl das rechte Wort, am rechten Platz, zur rechten Zeit.“
Welches Gemeindemitglied unten im Kirchenschiff mag die Worte von der Kanzel nicht auf den Naziterror bezogen verstanden haben: „ … stehen wir denn nicht gleichsam ohnmächtig am Ufer eines unheimlich geschwollenen Stroms und können nur zusehen, wie die Flut von Haß um uns und vielleicht auch in uns – und das ist das allergefährlichste – täglich steigt?!“
Und als Auflehnung gegen die gleichgeschaltete Kirche und Ablehnung des barbarischen Nationalsozialismus: „ … aber wir wären ja Heiden, wollten wir so der Hoffnungslosigkeit das Wort reden, wollten wir verzweifeln an dem endlichen Sieg der Liebe.“
Provokativ, alttestamentarisch schließt sie mit dem 46. Psalm: „ … Ich will Ehre einlegen unter den Heiden, ich will Ehre einlegen auf Erden. Der Herr Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz.“
Für Menschen wie Annemarie Rübens gibt es im III. Reich keine Wirkungsstätte mehr, nicht einmal Luft noch zum Atmen. Im August 1933 emigriert sie nach Holland. Findet in Nordwijkerhout Aufnahme bei Bram Burger, einem Theologen. Dort arbeitet sie auch in Haus und Garten. Wahrscheinlich auf ihren Vorschlag hin nahmen die Burgers fünf Kölner Arbeiterkinder auf, deren kommunistische Eltern schwer gefährdet waren. Die Betreuung der Kinder übernahm Annemarie und fand sich so wieder in ihrem Element. Doch eines Tages ließ die Gestapo wissen, falls die Kinder nicht sofort nach Deutschland zurückkämen, würden sie es die Eltern vergelten lassen. Der Entschluß, was tun, und der Abschied von den Kindern waren schwer. Annemarie brachte sie zum Bahnhof, Freiheitslieder singend.
Im Jahre 1936 packte sie selbst die Koffer. Zurück an den Rio de la Plata. Da wohnte ihr jüngerer Bruder Hans. Hatte gewohnt! Kurz vor ihrer Ausreise war er unerwartet gestorben. Doch diesmals begann sie nicht so bettelarm wie zuvor in Holland. Mit dem Erbe des Bruders kaufte sie 13 Hektar Land, eine kleine chacra, in Colonia Valdense in Uruguay.
Neuanfang in Colonia Valdense
Colonia Valdense, 120 km nordwestlich der Hauptstadt Montevideo gelegen, 14 km vom herrlichen Strand am Rio de la Plata entfernt, ein Mitte vorigen Jahrhunderts von Waldensern aus dem Piamonte gegründetes Dorf, heute ein kleines Städtchen. Damals … auseinanderliegende Häuschen – ihr Grundstück eine knappe Stunde zu Fuß von der Landstraße, die nach Colonia de Sacramento führt, wo die Fähren nach Buenos Aires übersetzen. Die Ortschaft hatte außer der Volksschule noch ein Lyzeum, es gab einen Arzt und eine Apotheke, viel Landwirtschaft in der Gegend, die Industrie beschränkte sich auf die Fabrikation von Papier, Marmelade und vor allem Molkereien.
Denn das meiste war Weideland für Rinder und Schafe, aber es gab auch Obst- und Getreideanbau. Auch die chacra von Anamaría bestand zum größeren Teil aus Weideland, in freilich ziemlich vernachläßigtem Zustand, hatte auch einen alten Obstbaumbestand und ein kleines Eukalyptuswäldchen. Zwei in Verfall begriffene Häuser.
Nachdem erst einmal drei Häuschen mit Fassungsmöglichkeit für 25 bis 35 Menschen eingerichtet waren, mit fließend Wasser, elektrisch Licht, Kühlschrank und sanitären Anlagen und auch der Bestand an Pferden, Kühen, Hühnern sowie Gemüsebeete und Obstbäume eine Versorgung mit Milch, Eiern und vegetarischer Kost gewährleisteten, sollte hier ein Landheim entstehen. Ursprünglich war es Anamarías Plan gewesen, hier eine Volkshochschule für Deutschsprechende zu errichten, aber dazu fehlten die Mitarbeiter. Auch ein Landschulheim für die deutschen antinazistischen Schulen in Buenos Aires scheiterte am aufkeimenden argentinischen Nationalismus, der die Schulen argentinisierte und die Ausreise ins Ausland erschwerte.
Doch im Jahr 1938 wurde das „Haus Rübens“ zum Treffpunkt der deutschen Emigration am Rio de la Plata, der politischen, aber vor allem der jüdischen und ganz besonders ein Ferienaufenthalt der Emigrantenkinder. Die erste Gruppe kam 1938 von der Pestalozzischule aus Buenos Aires. Bis 1952 war dann ein Kommen und Gehen, und vor allem ein Wiederkommen. Man blieb ein paar Wochen, aber es gab auch Kinder, die für Jahre blieben. Deutsche, österreichische, ungarische, polnische, nur wenig uruguayische. Jüdische, halb- und vierteljüdische. Deutschsprechend die meisten, aber auch jiddisch-, ungarisch- und spanischsprechende Kinder und Erwachsene, die das Konzentrationslager erlebt und die „nur“ Diffamierung kennen gelernt hatten. Belastet alle von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Das „Haus Rübens“ sollte den Kindern – und nicht selten auch den Erwachsenen, die schwer gelitten hatten – Selbstbewußtsein und Lebensfreude wiedergeben, ihnen helfen, sich einzuleben in das neue Land, und in Kameradschaft zusammenzustehen. Koedukation verstand sich von selbst. Inmitten einer noch heilen Natur trieben die Kinder hier Sport, Ballspielen, Rudern, Schwimmen, Reiten, wanderten durch die Gegend, sangen am Lagerfeuer, spielten Theater, lasen gemeinsam. Von sich aus taten viele beim Postholen oder Besorgungenmachen mit, beim Aufräumen oder halfen in der Küche oder im Garten. Für die Erwachsenen gab es Diskussionen über Erziehung, Anleitung zum Gartenbau.
Aus den Jugendliche gewordenen Kindern rekrutierten sich in späteren Jahren die freiwilligen Helfer bei der Arbeit. Verliefen sich dann auch die Lebenswege, so blieb bei vielen doch ein Hauch dieses freien und in Gemeinschaft tätigen Geistes. Manche hätten gewiß ihre Muttersprache verloren, hätte Annemarie sie nicht angeregt, sich ihrer Wurzeln bewußt zu bleiben. Einigen war sie zur „geistigen Mutter“ geworden. Ihr Lieblingslied „Die Gedanken sind frei“ hallte in ihnen nach, kamen sie doch alle aus einem Land, wo die Gedanken nicht frei waren. Hier gründeten sich dauernde Freundschaften und manche junge Ehe. Andere kamen immer wieder, brachten ihre uruguayischen Freunde oder Freundinnen mit. Für alle war hier in der Fremde Heimat entstanden.
Auch uruguayische Nachbarkinder wurden in den Bann von Anamarías Heim gezogen. Z. B. Bruno Malán, heute Tierarzt und Molkerei-Kooperativist, verdankt viel seiner Entwicklung Anamarías Einfluß. Als Junge hatte er ihre Kühe gehütet und sich seine ersten Pesos verdient. Sie unterhielt sich viel mit ihm, gab ihm Bücher zu lesen, regte ihn an, auf die höhere Schule zu gehen.
Zu dieser Zeit nahm auch Annemarie aktiv an der von August Siemsen von Buenos Aires aus geleiteten antifaschistischen Organisation „Das Andere Deutschland“ teil und natürlich bekamen ihre Gäste von derem sozialistischen, freiheitlichen Geist vieles mit. (zur Gruppe „Das Andere Deutschland“ vgl. ila 150)
Sie, die stets von Kindern umgeben war, hatte sich immer ein eigenes gewünscht. 1942 wurde ihr Sohn Thomas geboren. Im Kreis der Besuchskinder wuchs er auf. Jetzt lebt er zwar als Buchhändler in Berlin, aber auch ihn zieht es immer wieder nach Colonia Valdense hin, obwohl dort seit über 15 Jahren schon kein Ferienheim mehr existiert. An einen Mann freilich wollte sich die eigenwillige Annemarie Rübens nicht lebenslang binden.
Als der Strom der Besucher in den fünfziger Jahren abebbte – einige waren nach Deutschland, andere nach Israel verzogen – und Annemarie keine Aufgaben mehr sah, ging sie 1952 in die Bundesrepublik. Dort dachte sie, am Aufbau eines „anderen“ Deutschland mitzuwirken. Anders, weniger untertänig, aufgeschlossener, als sie es in ihrer Jugend erlebt und so wie sie und die Sozialisten um August Siemsen in Südamerika es sich vorgestellt hatten. Fand aber keinen rechten Platz, sah wohl auch keine Perspektiven und kehrte vier Jahre später nach Colonia Valdense zurück. Möglich auch, daß sie im Nachkriegsdeutschland erst recht gemerkt hatte, wie sehr sie inzwischen an der so viel lockereren und menschlich wärmeren uruguayischen Lebensart hing. Wie sehr sie mit Land und Leuten, mit ihrem Colonia Valdense verwachsen war.
Als in den siebziger Jahren die Krise die friedliche, unbesorgte Lebensweise der Uruguayer erschütterte, Gewalt und Mord, verübt von Polizei, Militär, rechten Todesschwadronen und linkr Guerilla – die Tupamaros – immer mehr Oberwasser gewann, als die Demokratie von oben außer Kraft gesetzt und die Einheit der Gewerkschaften und darauf auch die der linken Parteien althergebrachte Privilegien infrage stellte, errichteten die Streitkräfte mit einem Staatsstreich Mitte 1973 eine grausame Militärdiktatur.
Und so wie 35 Jahre zuvor das „Haus Rübens“ Zufluchtsstätte der von Hitler Verfolgten gewesen war, wurde es jetzt die der Kinder der Verfolgten des uruguayischen Terrorregimes. Anamaría war jetzt über siebzig, doch trotz ihres Alters und dem großen Risiko für sie öffnete sie ihr Haus den Kindern der politischen Gefangenen. Kindern, die miterlebt hatten, wie ihr Vater oder ihre Mutter oder beide verhaftet, mißhandelt, ihr Hausrat kaputtgeschlagen worden war und die dann bei Großeltern oder beim Onkel untergekommen waren. Oft in ärmster Umgebung und auf engem Wohnraum, bei Verwandten, die vielleicht auch das Engagement ihrer Eltern mißbilligten und so die Kinder in große Konfusion versetzten: Wer hat nun recht? Mein Vater oder die, bei denen ich nun wohne.
Bei denen, die ihre Eltern einmal im Monat im Gefängnis besuchen konnten, war deren Bild schwer gestört. Vater oder Mutter hatten keinen Namen mehr, waren nur noch Nummern, erschienen mit kurzgeschorenem Haar und in häßlicher Kleidung.
So kamen die Kinder nach Colonia Valdense zu Anamaría. In Gruppen von 4 bis 6 Jahren, von 7 bis 10 Jahren und auch von 11 bis 14. Etwa zwanzig zugleich und blieben meist drei bis vier Wochen. Manche kamen auch nur am Wochenende, andere für mehrere Monate. Hier wollte Anamaría ihnen helfen, ihren Schock, ihre Angst zu überwinden, wieder wie normale Kinder und gemeinsam zu leben.
Fast alle hatten ein ungewöhnlich starkes Schlafbedürfnis. Flucht in Schlaf und Traum, alles Vergessen machte selbst bei schönstem Wetter das Bett zum Lieblingsaufenthalt. Da lagen sie in Kuschellage.
Staunen und Erleichterung, als Anamaría ihnen zu verstehen gab: „Hier könnt ihr alles sagen. Alles, was euch geschehen ist, alles was euch bedrückt.“ Doch dauerte es lange, bis die Kinder sich ihr eröffneten. Aber als sie von Anamaría und ihren Helfern Achtung und Liebe erfuhren, erwiderten sie diese. Auch lernten sie, die sie ja alle in einer so ähnlichen Lage waren, sich untereinander gut zu vertragen, solidarisch zu sein.
Aus ihrem Bericht aus jenen Jahren:
– „Ich erzähle vom harten Leben der Landarbeiterkinder im Norden. Schon im Vorschulalter müssen sie bei der Zuckerrohrernte mithelfen und jetzt, wo Vater und Mutter gefangen sind, haben sie für die Nacht nicht mal mehr ein Hüttendach, und so ziehen sie hungernd, betteln und stehlend durchs Land.
Die Kinder schweigen. Aber ein paar Tage später, ein großer Ausflug – seltenes Ereignis – war geplant. Das dafür nötige Geld kam von einem 13jährigen Jungen – der Großvater hatte es ihm als Geburtstagsgeschenk gestiftet, und der Junge wollte es für den Ausflug geben. So war es geplant. Aber ein paar Tage später kam der 13jährige als Sprecher der Gruppe: ,Wir wollen den Ausflug nicht.‘ – ,Warum?‘ – ,Du hast uns von den Landarbeiterkindern erzählt, wir haben überlegt und wir sind uns alle einig. Hier ist das Geld. Schaff es zu den Landarbeiterkindern.‘“
– „Einmal ist das Mittagessen knapp. Ich simuliere Appetitlosigkeit. Die Kinder sehen mich aufmerksam an. Dann legen sie Messer und Gabeln hin. Feldgeschrei im Chor: ,Wenn du nicht ißt, essen wir auch nicht.‘ Und sie füllen von ihren Tellern auf den meinen.“
– „Man machte ein Experiment. Für einige Wochen kamen Landarbeiterkinder. Der Unterschied zu den Großstadtkindern war ersichtlich: die Hautfarbe war anders, die Gewohnheiten, auch der Dialekt … aber als sie erst ins Gespräch kamen und merkten: ,Ach, deren Eltern sind von den Milicos eingesperrt‘, wurden sie bald Freunde.“
– „Ein zwölfjähriges Mädchen ist Klassenbeste. Die Lehrerin gibt ihr die ,Ehre‘, bei einem Schulmarsch die Fahne zu tragen. Doch das Mädchen rebelliert: ,Ich bin die Tochter eines politischen Gefangenen. Ich trage die Fahne nicht.‘“
– „Ein Junge, 12 Jahre, dessen Vater und Mutter schon lange in Haft sind, fragt um Rat: ,Was kann ich tun? Ich halte es nicht mehr aus. Ich will kämpfen. Ich bin nicht zu klein dafür.‘ – ,Du mußt erst lernen, dann viel begreifen und können, ehe du dich einsetzen kannst, darfst, mußt.‘ Er kann und will nicht verstehen. Zwei Jahre später kommt er wieder ins Landhaus. Vater und Mutter sind immer noch im Gefängnis. Er wohnt jetzt bei den Großeltern, denen es wirtschaftlich sehr schlecht geht und die politische Haltung ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter nicht teilen und deshalb für die Enkelkinder zu sorgen als schwere Last empfinden. Der Junge ist jetzt fast nicht mehr ansprechbar, ganz mutlos, ganz passiv, ganz depressiv, am liebsten schläft er.“
– „Ich lese Briefe der Kinder an ihre Verwandten in der Freiheit. Stelle orthographische Fehler fest, die dem jeweiligen Alter entsprechend nicht mehr vorkommen dürfen. Die Kinder reagieren. – ,Rechtschreibung‘, formuliert ein 14jähriger, ,ist Gefängnis für das Wort.‘“
– „Die kliene M. (6 Jahre) liegt morgens weinend im Bett. ,Ich habe davon geträumt‘, sagt sie, ,weißt du, die bösen Männer schlagen meinen Vater und er ist so häßlich, und sie haben ihn kahlgeschoren,und er ist doch so schön. Sie drücken ihm brennende Zigaretten auf die Haut, ich weiß es. Weißt du, ich fürchte mich so, ich fürchte mich so.‘“
Mit diesen Kindern 24 Stunden am Tag zu leben, ihren furchtbaren, traumatischen Problemen zu begegnen, zu versuchen, ihnen Lebensfreude zu spenden, diese Mission zeichnet, mehr als Wort über sie, Weltanschauung und Charakter der Annemarie Rübens.
1975, auf einer Reise nach Deutschland, um Mittel zum Unterhalt ihres humanitären Unternehmens zusammenzubekommen, erhält sie die Nachricht von einer Haussuchung in einer ähnlichen Tageskinderstätte in Montevideo und der Verhaftung der Helfer dort. Trotz aller Heimlichkeit hatte die allgegenwärtige Geheimpolizei Wind davon bekommen und die Militärdiktatur hatte zugeschlagen. Anamaría selbst stände auch auf der Fahndungsliste. Gute Nachbarn hatten ihr die Warnung zukommen lassen.
So blieb sie in Deutschland. Arbeitete noch in Tübingen in einem Dritte-Welt-Laden mit und auch für Amnesty International und die Solidarität mit den politischen Gefangenen in Uruguay. Im hohen Alter ging sie dann in ein Seniorenstift in Göttingen. Ihr Interesse an Menschen und an Gerechtigkeit in der Welt ist ihr geblieben. Bis zuletzt. Bei den großen Friedensdemonstrationen, bei Ostermärschen, stets war sie dabei.
In einem Seminar über das „Amt der Theologin“ von Hannelore Erhart an der Göttinger Universität nahm sie – mit 87 Jahren! – noch teil und teilte ihre Erfahrungen und Ansichten, von 6 Jahrzehnten zuvor, mit.
Auch zog es sie noch mehrmals nach Colonia Valdense hin, um ihre Wirkungsstätte während vier Jahrzehnten und die lieben Nachbarn wiederzusehen.
Sie, die einen Herzschrittmacher seit langen Jahren hatte, wollte die abgeladenen Batterien nicht mehr erneuern lassen. Wozu noch weiterleben, wenn man keine Mission mehr erfüllen kann, mochte sie denken. Kurz vor ihrem 91. Geburtstag ereilte sie nach langem und erfülltem Leben der Tod.