Seine Stimme ist laut, seine Hand behaart. Und er ist ihr Arbeitskollege, belagert sie penetrant. Die Protagonistin der Kurzgeschichte „Leidenschaft“ von der Kolumbianerin Helena Araújo, die seit 1971 in Lausanne lebt, flüchtet in eine Dienstreise vor ihrem aufdringlichen schweizerischen Verehrer. Fast atemlos erzählt sie von ihrem fruchtlosen Versuch – „der ewige Ernst“ schließt sich nämlich der Reise an. Jeder Absatz wird mit einem Ausruf oder einer Frage eingeleitet, sodass die Erzählung als eine Art innerer Monolog daherkommt. Zwischendurch wird es noch hochpolitisch – auf einer Konferenz von Pax Christi über Kolumbien – und das Ende überrascht. Mehr sei hier nicht verraten.
Dies ist nur eine der 14 Kurzgeschichten, die in der Anthologie Vivir en otra lengua versammelt sind. Sie stammen ausnahmslos von lateinamerikanischen SchrifstellerInnen, die ihre Heimat verlassen mussten (die meisten) bzw. wollten und die in Europa Zuflucht, ein neues Zuhause, neue Herausforderungen und vor allem eine neue Sprache fanden. Herausgeberin und Autorin Esther Andradi betont im Vorwort, dass sie bewusst keine AutorInnen in die Sammlung aufgenommen hat, die sich in Spanien niedergelassen haben. Denn das spanische Spanisch sei zwar auch eine andere Sprache, und doch handele es sich hierbei um eine „Verbannung innerhalb derselben Sprache“.
Die erste Erwartung an diesen Band von „Verbannungsliteratur“ geht denn auch in die Richtung, dass in den Geschichten Migrationserfahrungen thematisiert werden, dass es um Befremden und mehrsprachige Kommunikation, um Missverständnisse oder interkulturelle Verwicklungen geht. Doch das ist mitnichten so. Die Migrationsgeschichten stellen eher die Ausnahme dar, so zum Beispiel das märchenhafte En el país de las maravillas des Bolivianers Víctor Montoya, der seit 1977 in Schweden lebt.
Schließlich ist ein Großteil der lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts im Exil entstanden. Insofern beschränkt sich auch dieser Band nicht auf das Befremden in der Fremde, sondern weist eine große Bandbreite an Themen auf: Neben leicht surrealen, an Fabeln erinnernden Kurzgeschichten wie Un hombre y un perro des Kolumbianers Luis Fayad oder El llegado de Bruno des Chilenen Omar Saavedra Santis geht es in mehreren Texten um Krieg, auch die Kolonialisierung darf nicht fehlen, und es gibt Erzählungen, die Familiengeschichte oder den Alltag im Stadtteil in den Mittelpunkt stellen. Elogio del olvido der Argentinierin Luisa Futoransky ist weniger Kurzgeschichte denn ein persönlicher Essay über das Erinnern und das Gedenken – ein für Lateinamerika eminent wichtiges Sujet – sowie über die Frage, welches Erinnern bzw. Vergessen hinsichtlich einer Flut von Gedenkveranstaltungen wirklich wichtig ist.
Das Verhältnis der hier versammelten SchriftstellerInnen zur jeweiligen Aufnahmesprache könnte unterschiedlicher nicht sein. Einige pflegen eine ausgeprägte Hass-Liebe zu ihr, wie etwa der Panamaer Luis Pulido Ritter zum Deutschen, und für die überwältigende Mehrheit ist klar, dass sie nur in der Muttersprache schreiben können: „Stets kehrt man zur ersten Liebe zurück“, heißt es im Tango und auch im Vorwort zu Vivir en otra lengua. Doch es gibt auch erstaunliche Ausnahmen: Der Ecuadorianer Ramiro Oviedo hat zum Beispiel Gedichte auf Französisch verfasst, und es gelang ihm nicht, sie ins Spanische zu übersetzen, er musste das Original verändern, damit ihm die Übersetzung gelingen konnte. Folglich ist für ihn das Leben und Schreiben in der Sprache des Aufnahmelandes eine Bereicherung für sein Werk. Es ermöglicht ihm eine neue Schreibweise. Je nach literarischem Genre verwendet er eine bestimmte Sprache. Das (ecuadorianische) Spanisch ist für ihn „rauer, männlicher, näher am Leben“ und insofern geeigneter für seine Erzählungen als das Französische, das „verspielter“ ist, mit dem er imitieren und sich theatralischer ausdrücken kann. „Es ist immer gut, mit einem Ersatzreifen durch die Welt zu fahren“, bringt Oviedo sein Verhältnis zu seinen Sprachen auf den Punkt. Andere schreiben nicht nur Gedichte, sondern einzelne Erzählungen, wie beispielsweise Omar Saavedra Santis, oder ganze Romane in der Sprache des Aufnahmelandes, so die in Köln lebende Peruanerin Teresa Ruiz Rosas. Mit ihrer preisgekrönten und wirklich packenden Kurzgeschichte De Frío y en Silencio ist sie im Sammelband vertreten.
Einige der hier veröffentlichenden LateinamerikanerInnen sind nie wieder in ihr Heimatland zurückgekehrt, und dennoch schaffen es alle, eine ungetrübte Verbindung zur Muttersprache aufrechtzuerhalten. Für die Argentinierin Rosalba Campra – die allerdings regelmäßig nach Argentinien fährt – ist es gar eine „Befreiung“, eben nicht ständig in der Muttersprache zu „baden“ und allen neuen, teils kurzlebigen und die Sprache verkürzenden Modebegriffen ausgesetzt zu sein.
Knapp die Hälfte der Texte ist bisher nirgendwo anders veröffentlicht worden, wobei dem einen oder anderen ein noch leicht fragmentarischer Charakter auch anzumerken ist. Insgesamt hat Esther Andradi jedoch eine schöne Sammlung kompiliert und mit biografischen Kurznotizen versehen. Vivir en otra lengua macht neugierig, auch andere Werke der hier vertretenen AutorInnen zu entdecken.
Esther Andradi (Hrsg.), Vivir en otra lengua. Literatura Latinoamericana escrita en Europa, Alcalá Grupo Editorial, Alcalá la Real (Jaén), 2010