Wegen mangelnden Vertrauens und auf Grund der Gesamtauswertung aller Aktivitäten dieses Jahres“, so lautet die offizielle Begründung für die Entlassung von Julia Evelyn Martínez, der Direktorin des staatlichen Fraueninstituts ISDEMU zur Stärkung und Gleichstellung der Frauenrechte in El Salvador, am 22. Dezember 2010 nach 18 Monaten im Amt.
Das ISDEMU wurde bereits 1996 unter der rechten Arena-Regierung gegründet. Aber erst mit dem Wahlsieg der linken FMLN-Partei und ihres Präsidentschaftskandidaten Mauricio Funes wehte mit der Neubesetzung der Posten ein frischer Wind durch die konservativen und trägen Strukturen des ISDEMU: Nach über einem Jahrzehnt der Spaltung zwischen der staatlichen Institution und den Frauenorganisationen und feministischen Gruppen des Landes arbeiten heute 39 verschiedene Frauen-NRO mit dem ISDEMU zusammen, um die staatliche Frauenpolitik aktiv mitzubestimmen.
Die aktuellen Aktivitäten des ISDEMU wurden auf Grundlage des ersten „Berichts zur Situation der Gewalt gegen Frauen in El Salvador“ entwickelt, der ersten breit angelegten Studie von staatlicher Seite zur allgemeinen Lage und Diskriminierung der Frauen in El Salvador. Der am 25. November 2009 vorgestellte Bericht zeigte alarmierende Statistiken: So hat El Salvador weltweit die höchste Frauenmordrate, die noch dazu jährlich steigt, wobei in fast 80 Prozent der Fälle die Ermittlungen nicht abgeschlossen werden und die Täter unbestraft bleiben. 40 Prozent der Selbstmorde von Frauen während der Schwangerschaft geschehen in Folge von innerfamiliären Vergewaltigungen. Bei 75 Prozent aller Vergewaltigungen wurde das Opfer durch einen Familienangehörigen vergewaltigt, in 76 Prozent der Fälle ist das Opfer unter 19 Jahren alt. „In diesem Sinne lässt sich zusammenfassen: Allein die Tatsache, eine Frau zu sein, stellt bereits einen Risikofaktor in El Salvador dar“, so das Fazit der Präsidentin des ISDEMU und First Lady Vanda Pignato in ihrer Rede am 25. November 2010.
Die Arbeit des ISDEMU und vor allem die Direktorin Julia Martínez traten durch die Medien und die Politik zunehmend mehr ins öffentliche Bewusstsein in El Salvador. Ein Prozess, der allerdings nicht ohne Kontroversen und öffentliche Polemik vonstatten ging: So entzündete sich anlässlich der Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag am 15. September 2010 eine heftige öffentliche Debatte um die Initiative des ISDEMU, in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium die sog. cachiporristas auf Volksfesten und Nationalfeiertagen zu verbieten. Die Tradition der cachiporristas wurde in den 50er Jahren als Variante der ursprünglich US-amerikanischen Tradition der Cheergirls in El Salvador eingeführt. Die cachiporristas, Schülerinnen zwischen 14 und 16 Jahren, die eigens von einer Jury in einer Art schulischem Schönheitswettbewerb ausgewählt werden, tanzen seitdem bei öffentlichen Umzügen, in kurzen Röcken und hohen Stiefeln, begleitet von dem (männlichen) Schulorchester sowie einem Aufgebot an Polizisten, da die jungen Frauen während des Umzugs häufig sexuell belästigt und fotografiert werden.
„Bei dem Verbot geht weder es um die Länge des Rocks noch um Fragen der Moral. Es geht darum, kulturelle Praktiken und Traditionen kritisch zu untersuchen und gegebenenfalls zu ändern, die zu Machismus und dem stereotypen Rollenbild der Frau in unserer Gesellschaft als dekorative Zierde und Sexualobjekt führen. Es handelt sich nicht um eine Einschränkung karnevalesker Feierlichkeiten oder beispielsweise Gay-Pride-Paraden, bei denen nach wie vor das Recht auf freie Meinungsäußerung besteht. Im Fall der cachiporristas handelt es sich um sexistische Praktiken gegen Minderjährige innerhalb öffentlicher, staatlicher Einrichtungen. Und dagegen gehen wir vor“, so Martínez in einem Interview mit der Zeitung El Faro.
Im Zuge der darauf folgenden, extrem polemisch geführten Debatte in der Öffentlichkeit, die sich in erster Linie gegen die Person Martínez richtete und die auch die Mehrheit der Bevölkerung gegen sie aufbrachte, vertagte Präsident Funes im August 2010 die endgültige Entscheidung über das Verbot der cachiporristas schließlich auf 2011 und die Umzüge fanden wie gewohnt statt.
Eine Woche später entzog er Martínez nachträglich öffentlich die Befugnis, mit der sie am 16. Juli 2010 in ihrer Funktion als Direktorin des ISDEMU den „Konsens von Brasilia“ unterzeichnet hatte. Von den 33 Ländern, die an diesem 11. Treffen der UN-Regionalkomission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) teilgenommen hatten, hatten sich bis auf die rechts regierten Länder Costa Rica und Chile alle Delegierten bereit erklärt, sich für eine Revision der Abtreibungsgesetze in ihrem Land einzusetzen. Aufklärung, Sexualkundeunterricht in den Schulen, Zugang zu Verhütungsmitteln und besonders die Straffreiheit für das Klinikpersonal und die Patientinnen nach therapeutischen Abtreibungen standen dabei im Zentrum dieser Absichtserklärung von Brasilia.
Da das ISDEMU per Verfassung als Einrichtung unabhängig von der Regierung ist und daher lediglich Empfehlungen aussprechen oder, wie im Fall der cachiporristas, mit einzelnen Ministerien zusammenarbeiten kann und der „Konsens von Brasilia“ zudem keine rechtsverbindliche Übereinkunft darstellt, war die Unterzeichnung durch Martínez konform mit ihrer Funktion als Direktorin des ISDEMU und keine Übertretung ihrer Kompetenzen.
Funes erklärte allerdings in einer Pressekonferenz Ende August 2010, Martínez sei „in keiner Weise von Seiten der Regierung dazu befugt gewesen, eine Resolution mit Zielsetzungen dieser Art zu unterzeichnen“, und dass sie stattdessen „wie Costa Rica und Chile sich dem hätte verweigern müssen“. Er fügte außerdem noch an, die Regierung von El Salvador habe unverändert Vorbehalte, was das Thema Abtreibung angehe.
Laut einer Umfrage des ISDEMU vom November 2009 sprechen sich 93 Prozent der Bevölkerung El Salvadors gegen das Recht auf Abtreibung aus. 90 Prozent würden allerdings die sog. therapeutische Abtreibung, wenn also nachweislich das Leben der Mutter oder des Kindes bei der Geburt in Gefahr ist oder die Schwangerschaft als Folge einer Vergewaltigung zustande gekommen ist, befürworten.
Mit der aktuellen Haltung der Funes-Regierung zum Thema Abtreibung besteht allerdings auch weiterhin keine Aussicht darauf, dass El Salvador, das eines der strengsten Abtreibungsverbote der Welt hat, seine Abtreibungsgesetze modifiziert. Im Moment wird jede Art von Abtreibung mit 8 bis 30 Jahren Gefängnis bestraft und auch dem Klinikpersonal drohen Gefängnisstrafen, wenn es eine Patientin, die Anzeichen einer möglichen Abtreibung zeigt, nicht bei der Polizei denunziert.
El Salvador verliert mit Julia Evelyn Martínez, die eine Professur an der angesehenen Universität UCA innehat und als „Ökonomin des Jahres 2010“ ausgezeichnet wurde, eine wichtige Persönlichkeit und kritische Stimme in der staatlichen Auseinandersetzung mit dem Problem der Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen. Die Regierung Funes hat mit der Entlassung Martínez’ ein deutliches Zeichen gesetzt, dass sie sich, zumindest in näherer Zukunft und in Bezug auf die Frauenpolitik, nicht gegen die rechtskonservativen und katholischen Kräfte im Land durchsetzen wird. Unpopuläre Themen wie Abtreibung oder der Bruch mit sexistischen, „traditionellen“ Praktiken bleiben daher in El Salvador, wo die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung streng katholisch ist, auch in Zukunft heikle Themen, deren Durchsetzung bislang vor allem am Widerstand der Mehrheitsbevölkerung und der salvadorianischen Medien scheitert.