Über das Ziel und die Aufgabe eines Staatswesens gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Mittel- und Nordeuropa und in Lateinamerika sehr unterschiedliche Auffassungen. In Frankreich, Britannien, Belgien, den Niederlanden, der Schweiz, Österreich, den skandinavischen Staaten und mit einiger Verspätung auch in Deutschland hatte sich ein bürgerliches Staatsverständnis durchgesetzt, das die Integration aller sozialen Sektoren der Gesellschaft anstrebte. Natürlich konzentrierten sich politische Macht und ökonomische Ressourcen in den Händen des besitzenden Bürgertums. Dieser Zustand wurde durch staatliche Gewaltorgane wie Polizei, Justiz und Militär gegen soziale und politische Revolten abgesichert. Aber nicht nur durch sie: Gleichzeitig bauten diese Staaten Sozial- und Schulsysteme auf, die auch ArbeiterInnen gewisse soziale Sicherheiten (z.B. Kranken- und Rentenversicherung) und Bildungszugänge eröffneten. Natürlich geschah dies nicht aus Menschenfreundlichkeit des Bürgertums, sondern hatte zum einen die Funktion, den Erhalt der Arbeitskräfte zu sichern und sie – soweit es für die Unternehmen notwendig war – zu qualifizieren, gleichzeitig aber auch die ProletarierInnen und ihre Kinder zu kontrollieren und zu disziplinieren.
Die Konsequenz war, dass auch die Unterschichten begannen, sich mit „ihrem“ Nationalstaat zu identifizieren. Die wichtigsten Organisationen der ArbeiterInnenbewegung (Gewerkschaften, sozialdemokratische und später auch kommunistische Parteien) begriffen zunehmend den Staat als Feld der Auseinandersetzung. In seinem Rahmen sollten die Kräfteverhältnisse zugunsten der Besitzlosen verändert werden, der kommunistische Flügel der Bewegung proklamierte die Übernahme des Staates durch die proletarische Revolution.
In Lateinamerika und Spanien herrschte dagegen ein ganz anderes Staatsverständnis vor. Es war nicht der auf Inklusion und Kontrolle abzielende bürgerliche Staat, sondern der oligarchische Staat, der einzig die Funktion hatte, die unmittelbaren Interessen der großen Landbesitzer und Handelshäuser abzusichern. Auch wenn die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts Jakobinermützen auf ihren Fahnen und später sogar in den Staatswappen führten, hatten sie keineswegs das gleiche Staatsverständnis wie die revolutionären BürgerInnen Frankreichs. Die kreolischen Eliten wollten zwar die Vorherrschaft der spanischen Krone loswerden und ihr keine Steuern und Abgaben mehr entrichten, an einen integrierenden Nationalstaat dachten sie dagegen nicht. Die armen Bevölkerungsschichten, in vielen Ländern die indigenen UreinwohnerInnen, sollten weiterhin rechtlos bleiben und zum Wohl des Patrón arbeiten. Ihre Lage verschlechterte sich nach der Bildung der neuen Staaten sogar häufig noch, weil sich die nun alleine herrschende Großgrundbesitzeroligarchie in großem Stil indigenes Land aneignete.
Die nach der Unabhängigkeit entstehenden oligarchischen Staaten verfügten deshalb nur über einen rudimentären, einzig die unmittelbaren Bedürfnisse der kreolischen Eliten bedienenden Apparat: soviel Verwaltung, wie zur Organisation von Handel und Export unverzichtbar war, sowie Polizei und Militär, die eingesetzt werden konnten, wenn die Indígenas und Campesinos nicht parierten. Finanziert wurde das alles durch Abgaben der Indígenas, Campesinos und städtischen ArbeiterInnen. Eine Ausnahme bildete Paraguay, wo Rodríguez de Francia zwischen 1814 und 1840 eine Entwicklungsdiktatur mit stark sozialstaatlichen Elementen durchsetzte.
Eine erstarkende ArbeiterInnenbewegung mit einer Kombination aus Repression und sozialen Maßnahmen zu bekämpfen, wie dies Bismarck in Deutschland praktizierte, war damals in Lateinamerika unvorstellbar. Gelder für öffentliche Wohlfahrt zur Verfügung zu stellen wäre den lateinamerikanischen Machthabern Ende des 19. Jahrhunderts nicht in den Sinn gekommen.
Als sich infolge von Einwanderung, Verstädterung und dem erwähnten Landraub die Sozialstruktur veränderte und das ländliche und städtische Proletariat auch in Lateinamerika (und mehr noch in Spanien) anwuchs, begannen sich diese Leute zu organisieren, um ihre Interessen zu verteidigen. Anders als in Europa bot ihnen der oligarchische Staat keinerlei Anknüpfungspunkte, ihre sozialen Forderungen zu artikulieren und durchzusetzen. Mit dem Staat hatten sie nichts zu tun, sie erlebten ihn einzig als parasitär und repressiv. Entsprechend zielten ihre revolutionären Forderungen nicht nur auf die Zerschlagung der Macht der Großgrundbesitzer, Kaufleute und Unternehmer, sondern genauso vehement auf die Abschaffung des Staates, für den es aus ihrer Erfahrung keinerlei Existenzberechtigung gab. Entsprechend wurden in Lateinamerika nicht SozialistInnen und KommunistInnen mit ihren staatsgebundenen Emanzipationsentwürfen zur wichtigsten Kraft in der frühen ArbeiterInnenbewegung, sondern die radikal antistaatlichen AnarchistInnen bzw. AnarchosyndikalistInnen. Zwar gab es vielerorts auch sozialistische und später kommunistische Organisationen, doch blieben die gegenüber den AnarchistInnen lange in der Minderheit.
Nicht nur die ArbeiterInnen, Indígenas und Campesinos wandten sich gegen die oligarchischen Staaten Lateinamerikas. Auch die entstehenden und langsam wachsenden Mittelschichten sahen sich durch sie nicht repräsentiert. Die städtischen BürgerInnen (Kaufleute, wohlhabende Handwerker, kleine Manufakturbetreiber, Ärzte, Juristen, städtische Intellektuelle, Techniker, Verwaltungsmenschen, untere Offiziersränge im Militär u. a.) wollten Veränderungen. Abgesehen von manchen – häufig neu eingewanderten – kleinen HandwerkerInnen waren sie aber keineswegs bereit, sich mit den Unterschichten gemein zu machen. Aus den Reihen der städtischen Mittelschichten rekrutierten sich die Reformbewegungen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Modernisierung der lateinamerikanischen Staaten in Angriff nahmen.
Die bürgerlichen Reformer und die Wege, wie sie die Staatsapparate übernahmen, waren sehr unterschiedlich. Teilweise kamen sie durch Wahlen an die Regierung wie die Reformpräsidenten José Batlle y Ordóñez (Uruguay; Regierungszeiten 1903-07 und 1911-15), Pedro Aguirre Cerda (Chile; 1938-41), Hipólito Yrigoyen (Argentinien; 1916-22 und 1928-30) bzw. mit einem ganz anderen Hintergrund auch Juan Domingo Perón (Argentinien 1946-55), teilweise durch Militärputsche wie etwa Getulio Vargas in Brasilien (1930-45 und 1950-54). In Mexiko (1910) und Bolivien (1952) bedurfte es bewaffneter Revolutionen und Bündnissen mit den Unterschichten, um die Alleinherrschaft der Oligarchie zu brechen und andere bürgerliche Sektoren an der Macht zu beteiligen.
So unterschiedlich die hier genannten Prozesse auch waren, sie hatten gemein, dass die aus ihnen hervorgegangenen Regierungen dem Staat die führende Rolle bei der Modernisierung ihrer Länder zuwiesen. Damit verbunden war ein Angebot an die Gewerkschaften und anderen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, sich an diesem Projekt der staatsgelenkten Entwicklung zu beteiligen. Teilweise wurden wichtige Forderungen der ArbeiterInnenorganisationen wie der Acht-Stunden-Tag, Mutterschutz u. a. erfüllt, teilweise wurden Sozialsysteme eingeführt oder ausgebaut. Allerdings galten die Angebote an die ArbeiterInnenorganisationen nur dann, wenn diese kooperierten, sprich die Modernisierungsstrategien der Regierungen unterstützten. Standen sie dazu in konsequenter Opposition – wie die AnarchistInnen – setzten auch die bürgerlichen ReformerInnen Polizei und Militär gegen soziale Proteste ein.
Dadurch kam es zu einem grundlegenden Wandel der Kräfteverhältnisse innerhalb der ArbeiterInnenbewegung. Binnen weniger Jahre verloren die AnarchosyndikalistInnen, die an ihrer konsequenten Ablehnung des Staates festhielten, massiv an Einfluss. Stattdessen wurden sozialistische und kommunistische (z. B. in Chile und Uruguay) oder (links)nationalistische (z.B. in Argentinien, Brasilien, Bolivien) zu den dominierenden Kräften. Sie konnten den Leuten kurz- und mittelfristige Perspektiven zur Verbesserung ihrer sozialen Lage in Aussicht stellen. Damit erschien nun auch den meisten sozialen Organisationen in Lateinamerika die Ausweitung ihres Einflusses innerhalb der Staatsapparate – und nicht mehr deren Zerschlagung – als Voraussetzung der Emanzipation der ArbeiterInnen und sozial Deklassierten. Auch die KommunistInnen machten sich diese Sichtweise zu eigen und begründeten dies theoretisch damit, dass in Lateinamerika zunächst eine „bürgerlich-demokratische Phase“ und ein „Bündnis von Arbeiterklasse und nationaler Bourgeoisie“ auf der Tagesordnung stünden. Selbst die in den 60er-Jahren allerorten entstehenden Guerillagruppen sahen den künftigen revolutionären Staat als Motor der Entwicklung, auch wenn sie den Reformismus der Kommunistischen Parteien zurückwiesen. In dieser Hinsicht war der argentinische Revolutionär und zeitweilige cubanische Wirtschaftsminister und Zentralbankchef Ernesto „Che“ Guevara ein regelrechter Staatsfetischist.
In der politischen Konjunktur der 60er- und 70er-Jahre lösten sich die meisten anarchistischen und anarchosyndikalistischen Organisationen in Lateinamerika auf bzw. schrumpften auf wenige Mitglieder zusammen. Diejenigen, die an ihren libertären Ideen festhielten, engagierten sich häufig in sozialen und Kommuneprojekten.
Während sich die Linke also auf den Entwicklungsstaat orientierte, wurde dieser von der Rechten angegriffen und schließlich als politisches Projekt vernichtet. In den 70er-Jahren putschten sich fast überall Militärdiktaturen an die Macht. Sie bekämpften nicht nur die Linke, sondern beendeten auch die bis dahin praktizierte staatliche Entwicklungs- und Industrialisierungspolitik. Stattdessen setzten sie die Ökonomien der Konkurrenz des Weltmarkts aus. Die internationalen Konzerne aus den Metropolen waren zwar schon in den lateinamerikanischen Staaten präsent, aber ihre Investitionen sollten bis dahin Produktionsanlagen und Arbeitsplätze in den Bereichen schaffen, in denen einheimische Unternehmen nicht über die notwendigen Kapazitäten und das erforderliche Know-How verfügten. Die Militärdiktaturen ermöglichten ihnen nun, ihre Produkte ungehindert nach Lateinamerika zu exportieren und bestehende Unternehmen niederzukonkurrieren.
Dieser Prozess wurde in den 80er- und 90er-Jahren von ihren zivilen Nachfolgeregierungen fortgesetzt. Die hegemoniale Ideologie des Neoliberalismus propagierte den schlanken Staat. Die öffentliche Daseinsvorsorge (Kranken- und Rentenversicherung) wurde vielerorts zerschlagen und die lukrativen Bereiche wurden privatisiert. Unternehmen in Bereichen, die bis dahin als strategisch galten und in staatlicher Hand waren (wie Telekommunikation, Energie- und Wasserversorgung, Verkehrswege), wurden ganz oder teilweise an in- und ausländische Großkonzerne verscherbelt. Die Mittel für öffentliche Bildung und Universitäten wurden in vielen Ländern eingefroren oder gekürzt, während private Firmen privilegierten Zugang zum Erziehungswesen erhielten, um dort teure Eliteschulen und -universitäten zu betreiben und damit gut zu verdienen. In gewisser Weise fand eine Re-Oligarchisierung statt, als deren Profiteure kamen zu den alten Großgrundbesitzereliten die Banken und Finanzierungsgesellschaften sowie die multinationalen Konzerne hinzu.
Auch wenn die von Repression stark gebeutelte Linke und die Gewerkschaften in ihren Abwehrkämpfen die nationalistische Konzeption des Entwicklungsstaates verteidigen, gewinnen in den letzten Jahren politische Optionen an Einfluss, die nicht länger die Kontrolle über die Staatsapparate als strategisches Ziel ansehen. Sowohl bäuerliche und indigene Bewegungen als auch Organisationen in den städtischen Armenvierteln, bei denen von den staatlichen Entwicklungsversprechen nie etwas ankam bzw. wo der Neoliberalismus endgültig die Hoffnung zerstörte, der Staat könne irgendwann einmal etwas für sie tun, setzen heute zunehmend auf autonome Selbstorganisation. Sie wollen ihre Dörfer, Gemeinschaften und Barrios selber verwalten, eigene Strukturen (Infrastruktur, Schulen, Kooperativen) aufbauen und deren Organisations- und Verwaltungsstrukturen kontinuierlich neu aushandeln. Selten weisen sie dabei – wie die ZapatistInnen in Chiapas – die Kooperation mit staatlichen Stellen völlig zurück, teilweise werden öffentliche Gelder für LehrerInnen, medizinisches Personal oder Infrastrukturmaßnahmen sogar explizit eingefordert. Deshalb betonen sie in ihren allgemeinpolitischen Forderungen häufig auch die Selbstbestimmung über die nationalen Ressourcen, was ja faktisch eine staatliche Kontrolle bedeutet. Aber lokal und regional versuchen sie ihre Autonomie auszubauen und, soweit das möglich ist, durch entsprechende Vereinbarungen abzusichern, um mehr Freiheit bei der – kollektiven – Gestaltung ihrer Lebens- und Arbeitsorganisation zu haben.
Mit den anarchistischen und anarchosyndikalistischen Organisationen des frühen 20. Jahrhunderts (die sich teilweise in bescheidenem Rahmen auch neu konstituieren) haben diese städtischen und ländlichen Bewegungen formal wenig gemein, auch wenn sie das Streben nach Autonomie und einem selbstbestimmten guten Leben inhaltlich vereint.
Ob sich diese Tendenzen in Richtung autonomer Selbstorganisation jenseits staatlicher Strukturen ausweiten oder ob sie stagnieren, ist derzeit schwer einzuschätzen. Die Regierungsübernahme durch linke oder Mitte-Links-Koalitionen in zahlreichen Ländern hat sicher die Erwartungen, man könne über den Staat die Lebensbedingungen der Unterprivilegierten verbessern, neu genährt. Soziale Fortschritte sind vielerorts ja durchaus erkennbar. Aber wie nachhaltig diese Prozesse sind und ob man darüber wirklich zu einem „guten Leben“ kommt, ist noch lange nicht beantwortet.