Wie im vorangegangenen Beitrag zu Edgar Reitz’ Film „Die andere Heimat“ dargestellt, wanderten zwischen 1823 und 1862 mehrere Tausend Menschen aus dem Hunsrück (im heutigen Rheinland-Pfalz) nach Brasilien aus, vor allem in die südlichen Bundesstaaten Rio Grande do Sul und Santa Catarina. Die Migration wurde von der brasilianischen Regierung gefördert und die Eingewanderten erhielten Land und anfangs auch etwas Unterstützung. Kaum eineR von ihnen sprach Portugiesisch, was damals auch in Brasilien keineswegs überall durchgesetzt war. Gerade in Rio Grande do Sul hatten viele Leute – ähnlich wie in Paraguay – lange das von den Jesuiten auf der Basis indigener Sprachen geschaffene Guaraní bzw. Tupí-Guaraní gesprochen und benutzten im 19. Jahrhundert eine Mischung aus diesem und Portugiesisch. Dies und der Umstand, dass es zu dieser Zeit in der Region kaum öffentliche Schulen gab, ist nach Ansicht der brasilianischen Journalistin Camila David der Grund dafür, dass sich das Hunsrückische und andere deutsche Dialekte in Südbrasilien bis in die Gegenwart erhalten haben.

Wenn die Eingewanderten ihre Kinder in Schulen schicken wollten (im Hunsrück war nach der Zugehörigkeit der Region zum revolutionären Frankreich und später zu Preußen der allgemeine Schulbesuch die Regel), mussten sie diese selbst gründen und unterhalten. Die Unterrichtssprache war dann meistens Deutsch. In den Kirchengemeinden und zahlreichen Vereinen der MigrantInnen wurde Hunsrückisch gesprochen. Dass Getulio Vargas in seiner ersten Herrschaftsperiode zwischen 1930 und 1945 Deutsch als Unterrichts- und Publikationssprache verbot, schwächte das Hochdeutsche in Brasilien, weniger das Hunsrückische. Denn in den ländlichen Gemeinden und den Familien wurde weiter der Dialekt benutzt.

Um einen Eindruck zu geben, wie im Hunsrück in der Mitte des 19. Jahrhunderts gesprochen wurde, zitiere ich zwei Strophen aus einem Gedicht von Peter Josef Rottmann (1799-1881), dem wichtigsten Hunsrücker Mundartdichter im 19. Jahrhundert. In parodistischer Anlehnung an “Hektors Abschied” aus Schillers „Räubern“, versucht in Rottmanns „Der Abschied” die junge Liesekett (Abkürzung für Elisabeth Katharina), ihren Hannes von der Auswanderung nach Brasilien abzuhalten:

Liesekett: Willst Dau, Hannes, noh Bresilje, ziehe,
wo Deich Schlange unn die Affe krieje?
Ach, dann stehrbt Dei Liesekett
Wer soll meich dann bei die Spielleit fahre,
Wann eich naunder meine Kerl verleere
Geh, eich wullt, dat Deich der Deiwel hätt!

Hannes: Tobisch Mensch! Watt brauchste so se brille?
‘diß nau ähmol annerscht nit mei Wille,
Unn eich honn Der’t jo schunn lang gesaht:
Wannet so viel Annerleit broweere,
kann eich’t aag, eich honn Neist se verleere,
Wie’t em Ann’re geht, so geht meer’t grad.

Ich habe zwar keine Erfahrung in der Übertragung von Gedichten, aber da nur wenige ila-LeserInnen Moselfränkisch sprechen dürften, hier eine einfache Übersetzung:

Liesekett: Willst du, Hannes, nach Brasilien, ziehen,
wo dich Schlangen und die Affen kriegen?
Ach, dann stirbt deine Liesekett!
Wer soll mich denn zur Tanzmusik fahren,
wenn ich nun meinen Freund verliere,
Ach, ich wollte, dass dich der Teufel holt.

Hannes: Dummes Mädchen! Warum weinst du so?
Ich will es nun mal nicht anders,
Und das habe ich dir schon lange gesagt:
Wenn es so viele andere Leute versuchen,
kann ich das auch, ich habe nichts zu verlieren.
Wie es einem anderen geht, so geht es mir auch.

So sprach man im 19. Jahrhundert in der Kreisstadt Simmern, wo Rottmann lebte. Wie alle Dialekte wies (und weist) das Hunsrückische regionale und lokale Unterschiede auf.
Da die HunsrückerInnen in Brasilien – wie die meisten MigrantInnen-Communities – zunächst stark auf die eigene Gruppe bezogen waren, sprachen sie ihren lokalen Dialekt weiter. Aber Sprachen entwickeln sich, sowohl in der Herkunftsregion wie in der Diaspora. Während hierzulande immer mehr hochdeutsche Wörter Eingang in den Hunsrücker Dialekt fanden bzw. finden, hielten in Brasilien Begriffe und Wörter aus dem Portugiesischen und anderen Migrantensprachen Einzug in den Sprachgebrauch der Eingewanderten. Portugiesische Wörter werden in der Regel eingedeutscht und Verben deutsch konjugiert. Im Laufe der Zeit entwickelte sich so das „Riograndenser Hunsrückisch“, eine Bezeichnung, die der brasilianische Sprachwissenschaftler Prof. Cleo Vilson Altenhofen von der Bundesuniversität Porto Alegre prägte.

Über die Zahl derjenigen, die diesen Dialekt heute in Brasilien sprechen, gibt es unterschiedliche Angaben. Sie reichen von einigen Zehntausend bis zu zwei Millionen, wobei die letzte Zahl sicher sehr hoch gegriffen ist. Es ist natürlich die Frage, was man unter „sprechen“ versteht. Es gibt in Rio Grande do Sul weiterhin Gemeinden, in denen Hunsrückisch die Umgangssprache ist. Die Zahl der dort Lebenden dürfte sich im fünfstelligen Bereich bewegen. Daneben gibt es aber viele Hunsrückstämmige, die in Dörfern und Städten leben, wo Portugiesisch Verkehrssprache ist, das Hunsrückische im famliliären Rahmen oder in Vereinen jedoch weiter gepflegt wird. Und es gibt BrasilianerInnen, die etwas Hunsrückisch verstehen und auch einige Worte sprechen, weil sie es bei den Großeltern und Verwandten gehört haben.

Nach Ansicht von BeobachterInnen gibt es heute eine gewisse Renaissance des Hunsrückischen in Brasilien. 2004 gründeten die Pädagoginnen Solange Hamester Johann und Mabel Dewes in der Stadt Santa Maria do Herval in Rio Grande do Sul die „Option für Hunsrückisch“. Sie erreichten, dass in ihrer Stadt und inzwischen weiteren Gemeinden Hunsrückisch zur zweiten Amtssprache wurde und in den Schulen gelehrt wird. Dafür entwickelten sie eine neue Orthografie, die sich eher Menschen mit portugiesischem Sprachhintergrund erschließt und sich deutlich von hiesigen Verschriftlichungen Hunsrücker Mundart unterscheidet. Solange Hamester Johann schreibt beispielsweise in einem kürzlich veröffentlichten Text des Proyëkt Hunsrik: „Is nët ploos ti xprooch woo sich ferënert, sin aach tii woo ti xprooche penutse, mitsamer, ëne mit em anere am xprëche, woo ti xprooche ënere“ [fn] www.brasilalemanha.com.br/novo_site/materia/solange-ahai-934-text-linkwistik-tiskriminiirung/102#sthash.ZnLzNpKU.dpuf [/fn] (Es ist nicht nur die Sprache, die sich verändert, sondern auch die, die die Sprache benutzen, das heißt alle, die miteinander sprechen, verändern die Sprachen.)

Die Verschriftung von Dialekten ist immer ein kontroverses Thema, weil Mundarten gesprochene Sprachen sind und jede Verschriftung nur eine Annäherung bedeuet. So ist auch die von Solange Hamester Johann entwickelte Orthografie nicht unumstritten. In jeder lebenden Sprache entsteht auch Literatur. Bei Dialekten ist das vor allem orale Literatur wie Lieder, Verse, Sprichwörter, die mündlich weitergegeben werden. Im Riograndenser Hunsrückisch gab es auch immer wieder Verschriftungen, etwa von Gedichten, die in Kalendern oder lokalen Zeitungen erschienen.

Im Jahr 2001 veröffentlichte der Autor Alfredo Gross in Porto Alegre das Buch „Hunsrücker Mundart in Brasilien – Dialektgedichte und Schriften in Deutscher und Portugiesischer Sprache“. Er verwendet dabei eine deutlich am Hochdeutschen orientierte Schreibweise:

Die Leit, wo wohne in der Stadt,
wisse net, wie die Lagatt,
die Leit vum Land dut schikaniere:
Foppe, an de Nas rumfihre.

Auch hier eine einfache Übersetzung:

Die Leute, die in der Stadt wohnen,
wissen nicht, wie die Eidechse
die Leute vom Land schikaniert,
sie foppt und an der Nase herumführt.

Lagatt ist übrigens kein hunsrückisches Wort, sondern kommt vom portugiesischen lagarta.

Seit 2008 gibt es die Site www.hunsrickisch.blogspot.com zur Língua Alemã Hunsrickisch, auf der regelmäßig literarische Arbeiten (Gedichte und kurze Prosatexte) verschiedener AutorInnen erscheinen. In der seit den 70er-Jahren bei Mundartliteratur geübten Unterscheidung zwischen einer eher an Tradition und Vergangenheit orientierten Heimatliteratur und einer an den Problemen der Gegenwart orientierten Regionalliteratur sind die hunsrückischen Texte aus Brasilien fast alle der ersten Kategorie zuzuordnen. Themen sind das Landleben, lokale Feste, Liebesglück und -leid u.ä. Das ist kaum verwunderlich: Wenn sich Menschen aus Migranten-Communities zu aktuellen politischen Fragen der Ländern äußern, in denen sie leben, tun sie das gemeinhin in den dortigen Landessprachen.