Die politisch-ökonomische Macht teilen sich in Guatemala vor allem drei Akteure: Da ist erstens das „traditionelle Kapital“ der alten Oligarchie, welche das Land seit Dekaden beherrscht (und sich 1954 mit dem CIA und anderen Kräften aus den USA zum Staatsstreich gegen Präsident Arbenz verbündete). Dieser Sektor erlebt spätestens seit der Regierung Portillo und nun auch unter Colom eine Schwächung zugunsten des aufstrebenden Unternehmersektors, dessen ökonomischen Akteure sich vor allem durch Geschäfte mit dem Staat bereichern (und Hauptprofiteure der Privatisierungen der vergangenen Dekade sind). Dazu kommt ein dritter Sektor des Kapitals, der direkt mit der Organisierten Kriminalität verbunden ist. Diese „Parallelmacht“ hat in der letzten Dekade zunehmend Positionen in den politischen Institutionen gewonnen, sowohl auf nationaler (Abgeordnete) als auch auf kommunaler Ebene (Bürgermeister). Die Existenz dieser zwei neuen aufstrebenden Sektoren hat dazu geführt, dass sich große Teile der politischen Kaste vom traditionellen Kapital „emanzipiert“ haben und sich direkt mit einem der zwei aufstrebenden Sektoren verbanden. Dazu entwickelten sie individuelle Mechanismen der Akkumulation, insbesondere über öffentliche Aufträge in „ihren“ Gemeinden. Mehr als 100 der 158 Abgeordneten des Nationalparlamentes verfügen über ein Unternehmen oder eine NRO, welche Arbeiten im Auftrag des Staates durchführen.
In einem Punkt unterscheiden sich diese verschiedenen Sektoren der nationalen Bourgeoisie Guatemalas übrigens nicht: Sie teilen den Rassismus, der konstituierende Grundlage des Kapitalismus in Guatemala ist und die indigene Bevölkerungsmehrheit von sozialer, politischer und ökonomischer Teilhabe und Teilnahme ausschließt.
Als Wunschkandidat des traditionellen Kapitals galt lange Zeit Harold Caballeros, ein evangelikaler Prediger mit engen Verbindungen zur religiösen Rechten in den USA. Lange sah es so aus, als ob sein Plan zur Kandidatur mit Nineth Montenegro als Vizepräsidentschaftskandidatin scheitern würde, denn ein Pastor darf nicht als Präsident kandidieren. Wenige Wochen vor der Wahl erhielt der Ex-Pastor dann aber doch seine Einschreibung, zu spät, um noch Hoffnung auf einen Sieg zu haben. Bei den Wahlen landete er mit 8,57 Prozent auf Platz fünf. Harold Caballeros wird nun vor allem als Option für die kommenden Wahlen gehandelt.
Nur vier Wochen vor der Wahl entschied das Oberste Verfassungsgericht, dass die Kandidatur der ehemaligen First Lady Sandra Torres verfassungswidrig sei. Auch in Guatemala – wie in verschiedenen anderen Ländern Lateinamerikas – darf ein Präsident nicht direkt nach Ende der Amtszeit wieder antreten. Gleiches gilt für enge Familienangehörige. Um ihre Kandidatur zu ermöglichen, vollzog das Ehepaar Colom-Torres im April 2011 die Ehescheidung. Aus dem Grund der Trennung machten sie keinen Hehl, was bei nicht unbeträchtlichen Teilen ihrer UnterstützerInnen für Unmut sorgte. Was für einige ein schlauer politischer Schachzug war, empfanden viele als Respektlosigkeit vor der Verfassung. In der Regierung Colom war Torres fraglos eine der stärksten Figuren, ohne ein demokratisch legitimiertes Amt innezuhaben. Sie trug die Verantwortung für das Sozialprogramm „Soziale Kohäsion“, dem sozialen Standbein dieser Regierung. Dieses bewahrte auf der einen Seite viele Tausende Menschen vor dem Hunger und linderte Not, auf der anderen Seite sollte es Torres helfen, eine Unterstützerklientel im ganzen Land aufzubauen. Dem Programm fehlt Transparenz und entgegen dem Namen brachte es durch die Begünstigung von einigen soziale Spaltung in viele Gemeinden.
Die Regierungspartei des scheidenden Präsidenten Alváro Colom, UNE, war vor den Wahlen eine Allianz mit der Partei des ehemaligen neoliberalen Präsidenten Oscar Berger, GANA, eingegangen. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Gruppen im Parlament nun eine gemeinsame Fraktion bilden. Die Allianz ist beendet und jede wird für sich über einen Stimmenpakt mit Pérez Molina oder Baldizón verhandeln.
Nach dem Ausscheiden von Sandra Torres aus dem Wahlrennen hatten sich die Umfrageergebnisse für den Ex-General Pérez Molina interessanterweise verschlechtert. Erstmals in der Wahlkampagne sank er unter 40 Prozent, was mit dem Ende der Polarisierungskampagne der Massenmedien gegen die angebliche Annäherung von Torres an Hugo Chávez zu erklären ist. Pérez Molina war Geheimdienstoffizier zu Zeiten des „internen bewaffneten Konfliktes“ in Guatemala. Politisch stand er stets Expräsident Ramiro De Leon Carpio nahe und er fungierte als Unterzeichner der Friedensverträge von 1996. Er wird aber auch mit Massakern während der Kriegsjahre in Verbindung gebracht. Politisch verspricht er vor allem ein Vorgehen „mit harter Hand“ gegen das Verbrechen. Damit meint er aber vor allem Kleinkriminelle und Jugendbanden; Korruption, Straflosigkeit und Übernahme des Staatsapparates durch die Organisierte Kriminalität gehören nicht zu seinen Themen. Im Gegenteil: BeobachterInnen befürchten einen schleichenden Abbau der Arbeit von CICIG nach seinem möglichen Wahlsieg. Nach außen gibt sich der Ex-General indes als ein Mann der Zivilgesellschaft mit liberalem Antlitz.
Sein Herausforderer im zweiten Wahlgang, Manuel Baldizón, ist Kandidat der prinzipienlosen UNE-Abspaltung LIDER. Der Politiker fällt vor allem durch seinen übertriebenen Rhetorikstil und das Fehlen einer klaren politischen Positionierung auf. Er setzt sich indes für die Wiedereinführung der Todesstrafe ein und verspricht allen ArbeitnehmerInnen ein zusätzliches Jahresgehalt. Er stammt aus der Region Petén und wird mit dortigen dunklen Geschäften und der Organisierten Kriminalität in Verbindung gebracht.
Auf Platz Drei landete mit 16,38 Prozent Eduardo Suger. Als Informatiker stand der aus der Schweiz stammende Zivilist dem Terrorregime durch die Entwicklung von Computertechnik zur Aufstandsbekämpfung zur Seite. Das Symbol seiner Partei CREO ist in einer Abwandlung der deutschen Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold gehalten und der stilisierte Händedruck im Wappen lässt sich unschwer als abgewandelter „Hitlergruß“ interpretieren. Dazu passt dann auch seine Vorstellung von „Volksgemeinschaft“: In einer TV-Debatte schlug er vor, dass die Parlamentsabgeordneten nach der Wahl allesamt aus ihren Parteien austreten sollten, um so nur der „nationalen Sache“ verpflichtet zu sein. Auch wenn seine Anhänger sicher für den Ex-General Pérez Molina stimmen werden, gibt es immer noch Unbekannte im Rechenspiel für den zweiten Wahlgang. Es ist nicht auszuschließen, dass UNE und/oder GANA zur Wahl von Baldizón aufrufen, um „das Militär zurück an der Macht“ zu verhindern. Diese Frage wird derzeit sogar innerhalb der linken Frente Amplio diskutiert. Das ist sehr zweifelhaft, denn in vielen politischen Fragen ist Baldizón sogar noch reaktionärer als der Ex-General einzustufen.
Am 1. Mai 2011 hatten vier Parteien und mehr als 60 soziale Organisationen ein neues, breites Wahlbündnis – die „breite Front“ Frente Amplio – der Linken in Guatemala aus der Taufe gehoben. Nicht viel hätte gefehlt und die drei Parteien, die das Bündnis trugen (die linken URNG und ANN sowie die indigene WINAQ) hätten bei den Wahlen den Parteistatus verloren. Aber da am Ende einer langen Wahlnacht dann doch noch der WINAQ-Politiker Amilcar Pop über die landesweite Liste ein Abgeordnetenmandat erringen konnte, kommt die Frente Amplio nun auf drei. Damit behalten die Parteien ihren Status. Als weitere Abgeordnete ziehen die URNG-Politiker Carlos Enrique Mejía (Wahlliste San Marcos) und Walter Felix (Wahlliste Huehuetenango) in das Parlament ein. Landesweit gewannen in nur vier von 333 Gemeinden linke KandidatInnen die BürgermeisterInnenwahl, zudem wird das Bündnis einen Abgeordneten in das zentralamerikanische Parlament entsenden.
Von den Massenmedien war die einzig linke Wahlalternative unter den zahlreichen Parteien weitgehend ignoriert worden. Das Ergebnis von 3,3 Prozent für Rigoberta Menchú spiegelt die Anstrengungen der parlamentarischen Linken in diesem Jahr bei weitem nicht wider.
Die Kandidatur der Frente Amplio beinhaltet indes wichtige Faktoren für die fortschrittlichen Kräfte in Guatemala.
1. Die Kandidatur der indigenen Partei WINAQ
In jahrelanger Basisarbeit ist es der indigenen Organisation WINAQ und ihrer Gründerin Rigoberta Menchú gelungen, die notwendigen Voraussetzungen für die Einschreibung als Partei herbeizuführen. Nach Angaben von Menchú verfügt die Partei über mehr als 75 000 Mitglieder. Historisch ist aber alleine schon die Kandidatur von Bedeutung, denn es war das erste Mal in der Geschichte Guatemalas, dass eine indigene Partei bei Wahlen antritt.
2. Umstritten ist indes die Politikerin Rigoberta Menchú. Die Kampagne für ihren Friedensnobelpreis, den sie 1992 erhielt, wurde vor allem von der damaligen Befreiungsarmee URNG geführt. Nach dem Erhalt der prestige- und finanzträchtigen Auszeichnung kehrte sie URNG und sozialen Organisationen den Rücken. Während und nach ihrer Zeit als UN-Beauftragte für die Rechte indigener Völker ging sie Allianzen mit der Rechten ein, z.B. Mexikos Präsident Salinas, und 2007 kandidierte sie für die bürgerliche Partei Encuentro por Guatemala. Zudem arbeitete sie mit dem unternehmerfreundlichen Präsidenten Oscar Berger zusammen. Innerhalb der Linken gibt es deshalb viele, für die Menchú keine wählbare Alternative darstellt, auch wenn sie ihre Wendung nach rechts mittlerweile korrigiert hat und diese heute als Fehler bezeichnet. In ihrem Selbstverständnis als Partei stellt sich WINAQ außerhalb des Links-Rechts-Schemas, da dieses nicht der Cosmovision der Mayas entspreche. Ihre natürlichen Verbündeten sieht aber in den fortschrittlichen, linken Kräften, welche sich die Überwindung des Rassismus auf die Fahnen geschrieben haben.
3. Getragen wird das Bündnis Frente Amplio neben WINAQ von der traditionellen Partei der Linken, der URNG. Die „Nationale revolutionäre Einheit Guatemals“ ging 1996 aus dem 1986 gegründeten gleichnamigen Dachverband der Guerilla hervor. Bei den Wahlen im Jahr 2007 war die URNG-Abspaltung ANN (Neue Nationale Allianz) eigenständig angetreten. Inhaltlich hatte sie sich in der Nähe der UNE von Alvaro Colom positioniert und vertrat eine kritische Unterstützung seiner Präsidentschaft, was die URNG zurückwies. Beide Parteien errangen ein einziges Parlamentsmandat und entgingen so nur knapp dem Entzug des Parteienstatus. In Gründung befindet sich die Partei MNR (Bewegung Neue Republik), deren Vorsitzender Anibal García als Vizepräsident für die Frente Amplio antritt. García errang bei den vergangenen Wahlen einen Parlamentssitz für Encuentro por Guatemala (2007 mit Nineth Montenegro und Rigoberta Menchú als Spitzenkandidatinnen). Im Parlament fiel der agile Anwalt durch detailliert ausgearbeitete Gesetzesinitiativen auf, zeigte sich von seiner konservativen Fraktion aber enttäuscht. Mit einer Gruppe vor allem jugendlicher Mitstreiter verschrieb er sich einem links-sozialdemokratischen Kurs und gründete die MNR.
Auch konnte die Kandidatur nicht auf die Unterstützung wirklich aller fortschrittlichen Kräfte in Guatemala zählen. Außer der Frente Nacional de la lucha (FNL) hatten viele Basisgruppen, zum Beispiel einige feministische aus dem Zusammenhang Sector de Mujeres, beschlossen, eine Kampagne zur Abgabe ungültiger Stimmen durchzuführen. Rund 12 Prozent der Wählenden stimmten ungültig.
Ein wichtiger Schritt für den Aufbau einer solchen neuen Formation der guatemaltekischen Linken ist die Präsentation eines gemeinsamen Regierungsprogramms. Dieses wurde indes von SpezialistInnen geschrieben und es fehlt ein breit angelegter, demokratischer Diskussionsprozess um das Dokument, welcher nicht nur die Parteibasis, sondern auch die Zivilgesellschaft einbezieht. Durch eine solche breite Debatte könnte die „Front“ auch für Schichten interessant werden, die sich von den traditionellen Parteien abgewendet haben; und derer gibt es viele in Guatemala.
In ihrem „Regierungsprogramm“ bezog sich Frente Amplio auf die Vereinbarungen vom Friedensschluss 1996 und fordert die Umsetzung der ausstehenden Reformen; vom Rassismus distanziert es sich klar. Zugleich greift es drängende Probleme wie die Bekämpfung von Straflosigkeit und Organisierter Kriminalität auf. Dafür setzt das Programm neben einer Stärkung der rechtsstaatlichen Institutionen aber auch auf eine Aufrüstung und Spezialisierung von Polizei und Militär; ein aus linker Sicht im besten Falle fragwürdiger Ansatz.
Selbst ein Bein gestellt haben sich die Kräfte der Frente Amplio bei ihren Kommunalkandidaturen: In ihrem Diskurs betonen die verschiedenen linken Kräfte in Guatemala stets, dass der Weg an die politische Macht über den Aufbau einer soliden Basis in Gemeinden und Munizipien gehe. Aber genau hier, wo Wahlerfolge realistischer erscheinen als auf nationaler Ebene, hat das Bündnis versagt. Die gemeinsame Kandidatur beschränkt sich auf die Präsidentschaftskandidatin, das nationale und das zentralamerikanische Parlament. In vielen Munizipien traten Kandidierende der Bündnisparteien gegeneinander an. In totalen Stimmen konnte die Linke leicht zulegen. Gut 145 000 WählerInnen stimmten für die Präsidentschaftskandidatin der Frente Amplio. Bei den Wahlen 2007 errangen URNG und ANN mit ihren getrennten Kandidaturen knapp 86 000 Stimmen.
Achtungserfolge erzielt das Bündnis mit sieben, acht und 9,5 Prozent in den Provinzen Sololá, Huehuetenango und San Marcos. Pérez Molina holte indes in dem vom Bürgerkrieg stark betroffenen Quiché über 40 Prozent der Stimmen, obwohl die Indigenen hier eine übergroße Bevölkerungsmehrheit darstellen.
Das Ergebnis kommentierte Anibal García, scheidender Abgeordneter und Kandidat der Frente für die Vizepräsidentschaft wie folgt: „Sehr bedauernswert, aber keine Niederlage, sondern ein Aufruf zur Reflexion über die Notwendigkeit über eine grundlegende Reform des politischen Systems.“