Die großen Salzseen in den argentinischen Nachbarprovinzen Salta und Jujuy sind ein einzigartiges Naturphänomen. Wobei von Seen zunächst nichts zu sehen ist. Es sind große, das Sonnenlicht reflektierende weiße Flächen, die von Weitem an eine schneebedeckte Winterlandschaft erinnern. Die Salzkruste über dem Wasser ist so dick und fest, dass sie begangen und befahren werden kann. Die großen Salinen sind längst ein Tourismusmagnet. Tausende vor allem nationale Tourist*innen pilgern im Sommer dorthin. Sie kommen meist in Bussen aus den Städten Salta und San Salvador de Jujuy oder anderen touristischen Zentren der beiden Provinzen. Dieser Tourismus sichert ganzen Dorfgemeinschaften im kargen Andenhochland ein Auskommen. Sie halten die Salinen sauber, erheben bescheidene Ticketpreise für deren Besuch, verkaufen Speisen und Getränke, stellen Figuren und Objekte aus Salzkristallen her und verkaufen diese und andere regionale Kunsthandwerksprodukte an die Besucher*innen. Andere verdingen sich als Fotograf*innen und begeistern die Reisenden mit ihren Aufnahmen, die aufgrund der Reflexion des Salzes im Sonnenlicht die Perspektiven verändern und überraschende Bilder ermöglichen. Wieder andere gewinnen auf traditionelle Weise Speisesalz, wozu Löcher in die Salzkruste geschlagen werden müssen, um das in vielen Farben funkelnde, zum menschlichen Verzehr geeignete Würzmittel zu gewinnen.
Doch Schilder, die die Indigenen aufgestellt haben, weisen darauf hin, dass die Salinen bedroht sind. „Nein zum Lithium“ ist dort immer wieder zu lesen. In den Salzseen der Anden befinden sich die weltweit größten derzeit bekannten Lithiumreserven. Das Metall ist ein unverzichtbares Grundprodukt für die Herstellung leistungsfähiger Batterien und Akkus, ohne die die Energiewende in den Industriestaaten nicht funktionieren kann. Auch deswegen gaben sich Scholz, Habeck und Baerbock in den letzten Monaten in Südamerika die Klinke in die Hand. Denn die deutsche Industrie braucht Lithium.
Die Bewohner*innen der Andendörfer brauchen es dagegen nicht. Sie leben von und mit den Salinen. Der hochtechnisierte Lithiumabbau würde relativ wenige Arbeitsplätze schaffen, aber viele im Tourismus vernichten. Zudem werden für die Förderung von Lithium große Mengen von Süßwasser gebraucht. Die wenigen Wasserstellen, die für die vielerorts einzig mögliche landwirtschaftliche Nutzung, nämlich die Subsistenz-Viehwirtschaft (z.B. Ziegen, Alpakas), in der kargen Bergregion unverzichtbar sind, würden austrocknen. Die Produktion der Batterien und Akkus wird weiter in den Metropolen erfolgen, auch wenn Politiker*innen in allen Andenstaaten von Fabriken und Arbeitsplätzen in den Regionen schwadronieren. Die immer wieder beschworenen „großen Chancen“ der Lithiumförderung bestehen nur für die internationalen Förder- und Elektronikunternehmen und die Politiker*innen, die ihnen die Abbaurechte verscherbeln. Diese lukrativen Geschäfte wollen sie sich von ein paar zehntausend Indigenen nicht vermiesen lassen. Daher fragen sie bei ihnen erst gar nicht nach, obwohl dies nach internationalem Recht (ILO-Konvention 169) vorgeschrieben wäre.
Die von Gerardo Morales, einem der konservativen Vor-Kandidat*innen für die nationalen Präsidentschaftswahlen im Oktober, geführte Provinzregierung von Jujuy hat dafür sogar im Rekordtempo eine Reform der Verfassung des Bundesstaats durchgepeitscht. Dafür ist ein gewählter Konvent notwendig, der bei den letzten regionalen Wahlen gleich mitgewählt wurde. Dieser nahm am 22. Mai 2023 seine Beratungen auf, die er bereits nach weniger als vier Wochen abschloss. Am 16. Juni wurde trotz breiter Proteste sozialer Organisationen und Gewerkschaften die geänderte Verfassung von Jujuy verabschiedet. Kernstücke der Reform sind nach einem Bericht der Tageszeitung „Pagina 12“ vom 12. Juni neben der Abschaffung der bisher nach der Hälfte der Legislaturperiode abgehaltenen Zwischenwahlen, bei denen jeweils ein Teil der Abgeordneten neu gewählt wurde und damit Mehrheiten verändert werden konnten, eine Neufassung von zwei Punkten in Artikel 36 (Recht auf Privateigentum) des Grundgesetzes. Darin geht es um “Mechanismen sowie schnelle und zügige Wege zum Schutz des Privateigentums und zur Wiederherstellung jeglicher Veränderung des Besitzes, der Nutzung und des Genusses des Eigentums zugunsten des Eigentümers“. Im Klartext heißt das, dass das Land der 400 indigenen Gemeinden in Jujuy, die dafür ganz überwiegend keine gemeinschaftlichen Landtitel besitzen, einfach privatisiert und verkauft werden kann. Die „Rechte“ der neuen Eigentümer werden dann natürlich „geschützt“ und die Indigenen vertrieben, weil „eine nicht einvernehmliche Besetzung als schwerwiegende Verletzung des Rechts auf Eigentum“ betrachtet wird. Das bedeutet einerseits, dass die Nutzung des Landes durch die indigenen Gemeinden einfach als „nicht einvernehmliche Besetzung“ eingestuft werden kann, wenn etwa ein Unternehmen das Land vom Staat kauft. Andererseits können Proteste gegen solche Privatisierungen von gemeinschaftlich genutztem Land, etwa Straßenblockaden und Platzbesetzungen, noch einfacher kriminalisiert werden. Besetzer*innen und Blockierer*innen können sofort abgeräumt, verhaftet und verurteilt werden. Bei Redaktionsschluss dieser ila dauerten die Proteste gegen die Verfassungsreform in Jujuy noch an.