Die großen Motive der Weltliteratur beschäftigen Literaten bis heute nicht nur aufgrund eines ästhetischen Anspruches. Oft sind es eben auch gesellschaftliche Phänomene, die – in ihrem zeitlichen und geographischen Kontext gespiegelt – nie an Aktualität noch Brisanz einbüßen; so zum Beispiel das Motiv des Ehebruchs, das große Romanciers des 19. Jahrhunderts wie Tolstoi, Flaubert, Pérez Galdós oder Fontane in ihren Werken aufgreifen. Dabei ist es stets die Frau, die das Tabu bricht und dafür ihre gesellschaftliche Bestrafung erfährt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts begann sich diese Perspektive zu wandeln. In dem Roman „Ganz die Deine“ unternimmt die Argentinierin Claudia Piñeiro einen spannenden Feldzug, aber nicht nur gegen untreue Ehemänner.
Inés, Ehefrau und Mutter „einer fantastischen Familie und einem Haus, um das sie so manch eine beneidete“, trifft fast der Schlag, als sie in der Jackentasche ihres Gatten einen Zettel findet mit der Aufschrift „Ich liebe Dich. Die Deine“. Sie „zählt bis zehn, atmet tief durch“ und lässt es dann doch erst einmal auf sich beruhen, offensichtlich überzeugt davon, dass nichts den 19 ihrer Meinung nach perfekten Ehejahren etwas anhaben kann.
Schon bald sieht sie sich aber mit dem nächsten Verrat konfrontiert. Ihr Mann Eduardo erhält eines späten Abends einen mysteriösen Anruf, aufgrund dessen er kurze Zeit später mit einer fadenscheinigen Erklärung Hals über Kopf aus dem Haus stürzt. Inés fährt ihm kurzerhand hinterher. Kaum an dem abgelegenen Treffpunkt angekommen, sieht sie, wie Eduardo und seine nächtliche Verabredung einander gegenüber handgreiflich werden. Die Frau stürzt und ist auf der Stelle tot. Ein zweites Mal gelingt es Inés, einen kühlen Kopf zu bewahren, scheint sich doch eine für ihre Ehe günstige Wende einzustellen. Es gilt, Eduardo zur Seite zu stehen und den ungewollten Totschlag vor der Polizei zu vertuschen.
Es kommt aber alles anders. Für Inés verlieren die 19 Ehejahre immer mehr an Bedeutung und in weniger als einem Jahr zerbricht eine perfekt geglaubte Familie an der eigenen Lebenslüge und hinterlässt vor allem der Tochter Lali einen einzigen menschlichen Scherbenhaufen, die im Übrigen dringend der Unterstützung ihrer Eltern bedurft hätte. Doch die sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt und nehmen die Not der einzigen Tochter nicht einmal wahr.
In ihrem Roman „Ganz die Deine“ deckt Claudia Piñeiro über die Eheproblematik einen Teil der bürgerlichen Scheinwelt auf, in welcher die Leidtragenden nicht selten die Kinder sind. Ihr bevorzugtes Stilmittel: eine Ironie, die streckenweise sarkastische Züge annimmt. Nicht anders sind die endlos anmutenden inneren Monologe von Inés zu lesen, um etwa die Eskapaden ihres Mannes zu beschönigen: „Ernesto log mich an, weil er mich liebte, so einfach war das. Weshalb hätte er mir auch von einer Affäre erzählen sollen, die längst der Vergangenheit angehörte? Ernesto ist ein wunderbarer Mann, dachte ich.“
Claudia Piñeiro, 1960 in Buenos Aires geboren, verknüpft gekonnt die Textsorten innerer Monolog, Dialog und Polizeibericht und verhindert mit diesem sprachlichen Stilmittel den moralisierend in die Höhe gestreckten Zeigefinger einerseits und fordert die LeserInnen andererseits heraus, sich der Komplexität des Themas zu stellen. Dabei brechen die Polizeiberichte gegen Ende den Spannungsbogen, so dass die ungeduldige vom Plot in den Sog gezogene Leserin geneigt ist, auf diese formalen Texte erst einmal zu verzichten.
Anfang der 1990er Jahre entschloss sich Claudia Piñeiro, ihre Tätigkeit als Wirtschaftsprüferin aufzugeben, um sich dem kreativen Schreiben zu widmen. Mit Erfolg, wie ihr Debütroman nun beweist. An dieser Stelle möge auch ihr Übersetzer erwähnt werden, ist es ihm doch gelungen, die stilistischen Feinheiten insbesondere bezüglich der ironischen Konnotationen der Protagonistin und den darin implizierten gleichmäßigen Spannungsaufbau adäquat ins Deutsche zu übertragen. Felicitaciones!
Claudia Piñeiro, Ganz die Deine. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag, Zürich 2008, 192 Seiten, 14,90 Euro