Er führte uns seine ganze Macht vor

Madelaine, bitte erzähl uns zunächst, wie du Aktivistin geworden bist und was hierfür die entscheidenden Momente waren.

Ich studiere Kommunikationswissenschaften an der Universidad Centroamericana (UCA) in Managua. In der Zeit vor den heftigen Protesten im April war ich schon Aktivistin in der Umweltschutzbewegung und hatte bereits in Managua an den Protesten der Campesinos gegen den Bau des Kanals teilgenommen. Seit meiner Kindheit interessiert mich zeitgenössische Kunst und ich bin schon lange künstlerisch tätig, stets dort, wo Kunst und Soziales sich überschneiden. Ich habe mich zum Beispiel in einer Kampagne gegen Übergriffe auf Frauen auf der Straße engagiert. So haben wir eine Beschäftigung mit dem Thema Gewalt gegen Frauen im urbanen Raum in Gang gesetzt.

Als am 3. April im Biosphärenreservat Indio Maíz ein Feuer ausbrach und die Regierung vier Tage lang nichts unternahm, waren wir unglaublich empört. Diese Empörung hatte nicht nur mit dem Thema Umwelt zu tun, sondern insgesamt damit, wie Ortega in den letzten Jahren die Forderungen der Bevölkerung ignoriert hatte. Mit unserer Empörung darüber, dass die Regierung Indio Maíz abbrennen ließ, brachten wir auch dieses Unwohlsein zum Ausdruck. Als ich mit anderen Student*innen, jungen Umweltaktivist*innen und engagierten Bürger*innen auf die Straße ging, hatte sich so viel Verärgerung angestaut und bereits so viel Protest in den sozialen Netzwerken artikuliert, dass der Zeitpunkt gekommen war, diese Empörung in Aktion umzusetzen. Kurz darauf gab es eine Konfrontation an der UCA zwischen mir, anderen Studierenden und dem Abgeordneten Edwin Castro, der als Dozent ironischerweise Vorlesungen zum Thema „Verfassungsrecht“ abhielt. Wir waren vorher schon bei unseren Protesten von Regierungsanhänger*innen angegriffen worden, wobei die Gewalt allerdings längst nicht das Ausmaß erreicht hatte wie später. Wir gingen also in seine Vorlesung, stellten ihn zur Rede und fragten, wieso er die Umweltaktivist*innen „Verbrecher und Kriminelle“ nannte. Aber er zog sich einfach zurück, begab sich in den Schutz von Polizisten und schickte seine Studenten vor, um uns zu antworten. Danach begann die persönliche Repression mir gegenüber. Ich bekam Drohnachrichten, die mich einschüchtern sollten, so wie alle anderen auch, die auf die Straße gegangen waren.

Und dann kam die Sozialreform. Viele junge Leute hatten das Gefühl, dass nun der Moment gekommen war, sich besser zu organisieren. Denn bisher gab es dazu keine Möglichkeit, da an den öffentlichen Universitäten nur die UNEN (Unión Nacional de Estudiantes de Nicaragua) vertreten war, die wie ein verlängerter Arm der Regierung funktioniert und deren Ideologie vertritt. Es gab bis dahin keinerlei autonome Studierendenvertretung. Also habe ich mich hierfür eingesetzt. Später haben wir die sogenannte Coordinadora Universitaria por la democracia y la justicia (Universitätskoordination für Demokratie und Gerechtigkeit) gegründet, eine von fünf studentischen Organisationen, die die große Koalition studentischer Organisationen bilden, die beim nationalen Dialog die Student*innen vertreten.

Sind diese fünf Organisationen nationale Organisationen oder einfach an verschiedenen Unis angesiedelt? Worin unterscheiden sie sich und wie koordinieren sie sich?

Von den fünf Organisationen sind vier Studentenbewegungen und wir als Coordinadora sind der Ort, an dem sich die Bewegungen koordinieren und gemeinsame Forderungen aufstellen. In der Coordinadora haben wir Sprecher*innen von insgesamt sieben öffentlichen und privaten Universitäten, wobei jede Studentenbewegung unabhängig bleibt und ihre eigene Organisationslogik hat. Im Endeffekt eint uns das Interesse, die Autonomie der Universitäten zurückzuerlangen und zu erreichen, dass Ortega geht.

Wir versuchen generell natürlich, alte Organisationsmuster zu durchbrechen und neue Formen der Organisation zu finden, denn wenn wir das autoritäre und machistische System durchbrechen wollen, müssen wir damit in unserer eigenen Organisation anfangen.

Nehmen die verschiedenen Gruppen auch verschiedene Rollen und Funktionen im gegenwärtigen Protest ein?

Die Coordinadora zum Beispiel hat zur Hauptaufgabe, sich auf den nationalen Dialog vorzubereiten und unsere politische Positionierung zu diskutieren. Wir gehen hierfür auch direkt zu den Student*innen hin, etwa zu den besetzten Universitäten. Es gibt verschiedene Arbeitsgruppen in der Coordinadora und natürlich auch verschiedene Aufgaben. So gibt es etwa die Student*innen, die bei den Pressekonferenzen auftreten und diejenigen, die im Hintergrund für die Logistik zuständig sind, und andere, die Texte schreiben. Aber im Prinzip rotieren wir. Deshalb sprechen wir immer von unseren „momentanen Sprecher*innen“, weil auch diese Funktion von allen ausgefüllt werden kann und wird. In der Coordinadora haben wir darüber hinaus gute Beziehungen zur Bauernbewegung, vor allem zu Doña Francisca Ramírez. Deshalb sind wir auch zu den Straßensperren der Bauern hingefahren, um eine Schicht an den Straßensperren gemeinsam mit ihnen zu verbringen.

Welche Teile der Bevölkerung und welche sozialen Akteure betrachtet ihr als eure Verbündeten?

Beim nationalen Dialog fordern wir gemeinsam mit den Privatunternehmern und der Zivilgesellschaft Gerechtigkeit und die Demokratisierung des Landes. Natürlich wissen wir, dass die Privatunternehmer in den letzten Jahren eng mit der Regierung verbunden waren und aus ökonomischen Interessen heraus agieren. Nichtsdestotrotz haben sie heute ihre Haltung geändert und sich jetzt auf die Seite der Gesellschaft gestellt, was die Position von Ortega schwächt.

Es gibt Arbeitsgruppen für den Nationalen Dialog mit den Mitgliedern, aber auch anderen, die bisher nicht beteiligt waren. So hatten wir ein Treffen mit den Feministinnen, mit Anführer*innen der afrikanischstämmigen und indigenen Communities, mit Menschenrechtsgruppen und LGBT- Gruppen. Zwar können nicht alle beim nationalen Dialog selbst anwesend sein, aber wir wollen in diesen Versammlungen die Interessen von allen kennenlernen und dann vorbringen.

Ihr macht im Moment diese Rundreise durch Europa als Caravana Informativa. Was sind die Ziele dieser Rundreise und welche Erfahrung hast du bisher gemacht?

Ich möchte gerne erklären, wie und warum ich hier bin. Denn anscheinend gibt es hier eine Kampagne, die unsere Rundreise diskreditieren und diffamieren soll. In meinem Land gibt es ein Informationsmonopol und die Medienberichterstattung ist sehr polarisiert. Es gibt sehr viel Desinformation. Deshalb wollen wir zum einen informieren und anklagen und zum anderen aus eigener Erfahrung berichten, was in unserem Land los ist.

Wir sind drei Frauen, die diese sogenannte Informationskarawane der internationalen Solidarität mit Nicaragua durchführen. Unterstützt werden wir von Nicaraguaner*innen im Ausland, aber auch von solidarischen Gruppen, die es schon seit den 80er-Jahren gibt. Bisher waren wir in Dänemark, Schweden, Belgien und Frankreich. Ich bin jetzt hier in Deutschland und die anderen beiden Frauen in Spanien. Wir sehen, dass viele Europäer*innen noch das Bild von Nicaragua zu Zeiten der Revolution mit sich herumtragen und Daniel Ortega als eine Figur sehen, die diese Revolution repräsentiert. Aber inzwischen sind 40 Jahre vergangen und Daniel Ortega repräsentiert nicht mehr die Werte von damals. Daher ist es wichtig, hier über die Veränderungen in meinem Land zu berichten.

Darüber hinaus wollen wir Menschenrechtsgruppen treffen, damit die Menschenrechtsverletzungen angeklagt werden und wir Unterstützung bekommen. Außerdem suchen wir Kontakt zu Parlamentariern. So war ich zum Beispiel in Straßburg, als die Nicaragua-Resolution des EU-Parlaments verabschiedet wurde. Danach haben wir uns mit Abgeordneten und Vertreter*innen des „European External Action Service“ in Brüssel getroffen. Wichtig ist uns, die Unterstützung für unsere Forderungen auch öffentlich sichtbar zu machen.

Welche Erfahrungen habt ihr bisher auf der Rundreise gemacht?

Ich war vorher noch nie im Flugzeug gereist und war auch noch nie in Europa gewesen. Ich musste in meinem Leben noch niemals das tun, was ich gerade tue. Es ist ganz schön anstrengend, denn es gibt täglich neue Aktivitäten in neuen Ländern. Und während hier alles schläft, passieren in Nicaragua schreckliche Dinge und ich muss am nächsten Morgen darüber informiert sein. Generell werden wir gut empfangen, es gab aber auch unangenehme Situationen, etwa in Schweden, mit einer Gruppe, die offensichtlich der Regierung nahe stand. In Lund traten wir zusammen mit Amnesty International auf und ein Verteidiger von Ortega stellte unsere Informationen infrage und behauptete später in den sozialen Medien, wir hätten Geld für Waffen und Bomben gesammelt. Auch Telesur und RT (Russia Today, kremlnahe Zeitung) verbreiteten diese Lügen und behaupteten, wir wären von der Rechten und dem CIA finanziert. Folglich erhielten wir auch Drohungen in Stockholm. Dort intervenierten zwei Chilenen und riefen Parolen wie „Ortega wird nicht gehen“, griffen uns verbal an und sagten, man wisse ja, was mit uns später passieren werde. Dieser spürbare Hass beunruhigt uns sehr. In Frankreich war eine öffentliche Veranstaltung vorgesehen, aber eine Gruppe von „Bolivarianos“ rief dazu auf, die Veranstaltung zu behindern. Wir wussten in dem Moment nicht, ob sie Gewalt anwenden würden. Uns erreicht also die Bedrohung auch hier in Europa, womit wir nicht gerechnet hatten. Wir machen uns zudem Sorgen um unsere Rückkehr nach Nicaragua. Wir wissen, dass solche Diffamierungen zu Strafanzeigen wegen konstruierter Straftaten führen können. Schon andere Aktivist*innen wurden so kriminalisiert.

Kannst du uns bitte deine persönlichen Erfahrungen und Eindrücke vom ersten Tag des Nationalen Dialogs schildern?

Ich bin 20 Jahre alt. Diesen ersten Tag des Nationalen Dialogs werde ich bestimmt in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Es war ein historischer Moment, da Ortega in all den Jahren zuvor niemals Menschen zugehört hat, die nicht zum regierungstreuen Lager gehören. An diesem Tag, dem 16. Mai, gab es bereits mehr als 60 Ermordete und wir kamen natürlich mit sehr viel Schmerz dahin. Und als wir den direkten Schuldigen dieses Massakers gegenüberstanden, war das sehr heftig. Ich erinnere mich besonders daran, dass Ortega mit mehr als 400 Polizisten kam, die bis an die Zähne bewaffnet waren, zudem mit fünf gepanzerten Mercedes-Benz, mit zwei Hubschraubern – eine vollkommen absurde Szene! Er führte uns sein ganzes Arsenal vor und seine ganze Macht. Auf der anderen Seite zeigte dies aber nur seine Schwäche und seine Angst. Aber das rief uns natürlich sofort in Erinnerung, was wir auf den Straßen erlebt hatten, die Schüsse, die Gewalt, die Morde. Wir haben versucht, Ruhe zu bewahren und unsere Forderungen klar vorzubringen, aber in diesem symbolischen Moment mussten wir auch die Stimmen der Menschen von der Straße erlebbar machen. Natürlich ist es mir schwer gefallen, Ortega die Namen der mehr als 60 Ermordeten an diesem Tag vorzulesen, aber der Moment erforderte es einfach. Schließlich hatte Ortega vorher gesagt, dass die Polizei nicht den Auftrag zur Repression gehabt hätte und sie niemals geschossen hätten, was eine brutale Beleidigung all der Ermordeten und eine Leugnung von all dem war, was wir selbst erlebt hatten. Heute erkenne ich mich manchmal in diesem Moment nicht wieder, es war eine Art Entpersönlichung. Ja es war meine Stimme, ja, ich war dort und erinnere mich, was ich gefühlt habe, aber es war die Stimme von allen und ich habe gesagt, was alle gesagt hätten in diesem Moment. Es war auch ein machtvoller Moment für die ganze Gesellschaft und ein Moment, in dem wir Anspruch erhoben auf die Kämpfe, die wir geführt haben, und sie sichtbar machten. Und auf der anderen Seite habe ich Ortega gesehen, wie er um jeden Preis an der Macht bleiben will und sich nicht im Geringsten um die Belange der Bürger*innen kümmert. Es war ein sehr heftiger Tag für mich.

Es gab letzte Woche ein Video, in dem Frauen in einem Barrio zu sehen waren, die den Polizisten mutig unbewaffnet entgegengetreten sind und denen es gelungen ist, sie aus ihrem Barrio zurückzudrängen. Wie siehst du generell die Rolle der Frauen?

In den gegenwärtigen Protesten erobern sich die Frauen eine aktive Rolle in der Gesellschaft zurück. Während der Revolution gab es ja wichtige Frauen, wie etwa Dora María Tellez, Mónica Baltodano oder Arlen Siu, die entscheidend waren für den revolutionären Prozess, später aber keine wichtigen Posten erhalten haben. Wir haben natürlich in unserem Land eine starke Machokultur, zugleich gab es aber immer auch starke Frauen. Im häuslichen Bereich sind es ohnehin immer die Mütter, die das letzte Wort haben. Heute sehen wir, wie sich Frauen mit Kochtöpfen den Polizisten und Paramilitärs entgegenstellen; das beweist eine besondere Macht und große Kraft.

Auch in der Student*innenbewegung achten wir darauf, dass Frauen in Erscheinung treten, nicht um eine Quote zu erfüllen, sondern weil wir einfach da sind, weil wir Fähigkeiten haben und weil wir in der ersten Reihe stehen. Ich habe sogar junge Frauen mit Morteros (Mörser mit Platzpatronen) an den Straßensperren gesehen. Wir sind präsent und es ist wichtig, dass sich die alten machistischen Muster nicht wiederholen, wonach es die maskulinen Figuren sind, die die Befreier des Landes sind. Unsere neue Kultur sollte in allen Bereichen inklusiver sein.

Frauen müssen heute bekannte Stereotype durchbrechen. Das ist Teil unseres Kampfes und bestimmt nicht einfach. Sowohl ich wie auch andere junge Frauen haben oft machistische Kommentare gehört, aber wir kämpfen auch dagegen. Deshalb ist eine wichtige Parole bei uns: La revolución será feminista o no será („die Revolution wird feministisch sein oder sie wird nicht stattfinden“). Das ist sehr radikal, passt aber genau in unseren Kontext. Schließlich haben wir einen Präsidenten, der ein Vergewaltiger ist, der seine eigene Stieftochter sexuell missbraucht hat, der straffrei geblieben ist und alle diese autoritären Modelle vorlebt und wiederholt.

Wenn wir ein besseres Nicaragua wollen, müssen wir diese Modelle durchbrechen. Deshalb sind für mich solche Menschen wie Francisca Ramírez, die Bauernführerin, so wichtig, da ich mich durch sie repräsentiert fühle und sie bewundere. Diese Frauen müssen sichtbar werden im Land, da neue Generationen somit ein anderes Bild bekommen und sich neue Räume für sie öffnen werden.