Briefe gibt es wohl nicht mehr. Was ich in meinem Briefkasten finde, sind Reklamesendungen und Rechnungen, bestenfalls einmal ein Postkartengruß aus dem Urlaub. Eines Tages ist das anders: Ich erhalte einen richtigen Brief und öffne ihn, darin ist ein Blatt, zweiseitig mit sorgfältiger Handschrift geschrieben. Ernesto Kroch hat mir geschrieben, es ist ein langer Kommentar zu einem Venezuela-Artikel, den ich ihm bei der Attac-Sommerschule in die Hand gedrückt hatte. Er hält sich nicht mit Vorreden auf und kommt gleich zur Sache, die ihm wichtig ist und die bei meinen Argumenten zur Politik von Hugo Chávez ausgespart blieb: Was soll mit den Mittelschichten geschehen? Für ihn eine Kernfrage eines politischen Projekts mit revolutionärem Anspruch, das die wirtschaftliche Situation der unteren Klassen verbessert und ihre politische Unterstützung gewonnen hat: Es braucht dennoch „die kreative Mitarbeit der Intelligenz, des Mittelstands, von Teilen des Bürgertums also“, zumindest solange „die Köchin noch nicht zu regieren imstande ist“. „Bei der gegenwärtigen Polarisierung in Venezuela mag das illusorisch erscheinen. Langfristig scheint es mir unerlässlich… Von außen kann man da nur versuchen, seine Freunde auf beiden Seiten der Barrikade von dieser objektiven … Notwendigkeit zu überzeugen.“
Wenn jemand wie ich die siebzig schon überschritten hat, widerfährt es ihm nicht mehr so häufig, dass er einem begegnet, von dem er Einsichten und Ratschläge erwarten darf, die aus noch länger zurückreichenden Erfahrungen resultieren. Als junge Sozialisten hatten wir noch ältere Genossen als Freunde und Lehrer an unserer Seite, die den Widerstand gegen die Nazi-Diktatur überlebt hatten und auf die wir uns stützen konnten. Ich habe in den letzten Jahren oft bedauert, dass es solche Möglichkeiten anscheinend nicht mehr gibt – da traf ich Ernesto Kroch bei einer gemeinsamen Veranstaltung der Sommerakademie von attac in Göttingen. Mir war erzählt worden, er ist ein alter Kommunist, und da war mir schon etwas beklommen zumute, weil mein Referat zur Geschichte des Internationalismus ziemlich hart mit dem Kommunismus als Staatsreligion eines untergegangenen Imperiums ins Gericht ging. Ich kannte Ernesto noch nicht gut und musste fürchten, einen bejahrten Genossen zu verletzen, der seine eigene Vergangenheit abgewertet oder gar verleumdet sehen könnte. Trotzdem habe ich nichts abgeschwächt, weil ich fühlte, dass gerade eine schonende Rücksichtnahme einen Mangel an Respekt für einen Mitstreiter bekunden würde. Mein Gefühl hat mich nicht getrogen: Ernesto hat gleich verstanden, dass es mir nicht um billigen Antikommunismus ging, und er stimmte mit mir darin überein, dass ohne eine Verarbeitung der bitteren Erfahrungen des angeblich „realen“ Sozialismus und der Gründe für seinen Untergang heute keine Diskussion über sozialistische Politik beginnen kann.
Dann durfte ich Ernesto zuhören, als er über Uruguay und das Projekt der Frente Amplio sprach. Er hat die Gabe, Geschichte lebendig werden zu lassen, die großen Linien einer Entwicklung zu zeigen und trotzdem nicht zu simplifizieren. So kann er die Widersprüche herausarbeiten, mit denen linke Politik umgehen muss. Damit erreicht er auch die Jüngeren, die von den Leerformeln heute tonangebender Soziologen und Politologen einfach die Nase voll haben. Es ist eine Wohltat, jemand zu hören, der nicht unaufhörlich von Zivilgesellschaft und Global Governance daherredet, sondern die Geschichte von Ausbeutung und Herrschaft anschaulich erzählt und dabei die Klasseninteressen benennt, auf denen sich Bündnisse aufbauen lassen, der Herrschenden wie der Unterdrückten. Und er spricht niemals als Unbeteiligter: Mit ihrer jahrzehntelangen Arbeit an der Basis in einem Stadtteil von Montevideo haben er und seine Lebensgefährtin Eva Weil (Feva) dazu beigetragen, dass die Frente Amplio von unten her wachsen und schließlich an die Regierung kommen konnte. Im Februar 20006 konnte ich die beiden in Montevideo besuchen und dabei auch sehen, dass Eva einen eigenen, selbständigen Wirkungskreis hat, der auf Ernestos Verständnis der sozialen Wirklichkeit ausstrahlt.
Verständlich, dass er nun nicht so schnell dabei ist, Versäumnisse und Fehlentscheidungen „seiner“ Regierung schon als Anzeichen des Verrats oder eines großen Scheiterns anzuprangern, dass er dafür plädiert, die schwierigen Rahmenbedingungen eines Landes des abhängigen Kapitalismus zu bedenken und in manchen Fragen einfach Geduld aufzubringen. Oft kann auch Ernesto Kroch seine eigene Enttäuschung nicht verbergen, sicher kann er allzu Enttäuschte nur mit Mühe oder gar nicht überzeugen – aber immer bereichert er den Gesprächspartner, weil sich seine Argumente auf eigene Erfahrungen und die Analyse historischer Prozesse stützen. Dabei bringt Ernesto Kroch uns ein kleines Land auf der anderen Seite des Atlantiks nahe, das seine Heimat geworden ist, aber immer geht es ihm auch um die großen Fragen einer wirtschaftlichen und politischen Alternative zur neoliberalen Gesellschaftszerstörung. Uruguay und seine Frente Amplio sind da ein Lehrstück, aber was aus seinem Land werden kann, hängt nach Ernestos Überzeugung auch vom Fortschreiten der lateinamerikanischen Emanzipationsprozesse ab. Auf deren Rahmenbedingungen kommt er immer wieder zurück, auch in einem langen Brief, den er mir im Oktober 2005 schrieb, mit dem Geständnis, ihm gehe das Problem „Binnenmarkt versus Export“ nicht aus dem Kopf, und mit der Erwartung, meine Freunde und ich mögen doch systematischer über die Probleme arbeiten, die sich in diesem Zusammenhang stellen, zum Beispiel über die ökologischen Auswirkungen eines neoliberal forcierten Welthandels und wie man sie beschränken könnte und müsste.
In seinen Artikeln überwindet Ernesto das unfruchtbare Nebeneinander von blutleerer Theorie, die sich im Jonglieren mit Schemata erschöpft, und der bloßen Schilderung des Elends der Unterschichten, die immer nur ohnmächtige „Betroffenheit“ erzeugen kann. Ein Glück für uns, dass wir ihn für die letzten Sommerakademien von attac Deutschland gewinnen konnten – er ist nämlich ein Lehrer, der uns zeigt, wie wir jenseits akademischer Eitelkeiten lernen und lehren sollten. Wir brauchen sein Beispiel, seine Hilfe, seine Nähe.