Nicholas John Williams’ Herangehensweise ist innovativ, weil er sich als Historiker der Methode der Oral History bedient, um die Revolution aus Sicht der TeilnehmerInnen erzählen zu lassen. Im ersten Teil des Buches wird der historische Kontext Cubas seit den 1950er Jahren mit Hilfe der Interviews und hinzugezogener historischer Quellen rekonstruiert. Im zweiten Teil ist eine Auswahl von 16 Interviews abgedruckt, die mit 140 Seiten die Hälfte des Buches einnehmen. Die Erinnerungen der ZeitzeugInnen sind zwangsläufig subjektiv und beleuchten nur bestimmte Ausschnitte der Wirklichkeit. Aber die Anzahl von 32 ZeitzeugInneninterviews aus den Jahren 2007 und 2008 mit Menschen aus unterschiedlichsten Lebenszusammenhängen und sozioökonomischem Hintergrund, von denen einige zweimal interviewt wurden, machen das Durchstöbern der vergleichsweise kurzen, themenbezogenen Gespräche zu einem spannenden Erlebnis für die LeserInnen, die zu eigenen Interpretationen herausgefordert werden.
Die überwiegend männlichen Befragten stammen größtenteils aus der Gemeinde Las Terrazas, aus Santa Clara und der Provinz Las Tunas sowie aus Havanna. Das Ein-Personen-Projekt bedurfte keiner staatlichen Genehmigung und unterlag keiner behördlichen Kontrolle, so dass regierungsoffizielle Diskurse ebenso wie scharfe Kritik geäußert wurden. Persönliche Motivationen zur Teilnahme an der Revolution, Bildung und sozialistische Sozialisation der Einzelnen, Beschreibungen und persönliche Begegnungen mit den ProtagonistInnen der Revolution, Fehler und Defizite der nachrevolutionären Phase, die Desillusionierung über die politische Realität des Landes oder die anhaltende Begeisterung für die revolutionären Ideale und Ziele werden auf diese Weise wesentlich greifbarer als so manche Darstellung historischer Fakten und Prozesse zu Cuba.
Bereichernd ist dabei, dass verschiedene Generationen zu Wort kommen, darunter aktiv Beteiligte an der Revolution, aber auch Angehörige der zweiten Generation. Dadurch wird ein Generationenbruch in der Sicht auf die Revolution deutlich. Während die ältere Generation das Batista-Regime noch selbst erlebt hat und die sozialistische Gesellschaftsordnung größtenteils unterstützt, wünscht sich die junge Generation die Annehmlichkeiten des Westens und verhält sich weniger loyal zur Regierung. Insgesamt wird aber deutlich, dass die Befragten sich nicht permanent vom Regime gegängelt und unterdrückt fühlen, sondern die cubanische Revolution aus vernünftigen Gründen trotz gewisser Mängel weiterhin unterstützen und dadurch die Stabilität des cubanischen Sozialismus garantieren.
Im Gegensatz zu Williams, der alle Quellen ins Deutsche übertragen hat, belassen die HerausgeberInnen des Sammelbandes von den insgesamt vierzehn Beiträgen fünf in Spanisch und zwei in Englisch. Diese sprachliche Hürde hat damit zu tun, dass der Band auf eine internationale Tagung an der Universität Köln zurückgeht, die von der Fachschaft Regionalwissenschaften Lateinamerika zum siebten Mal organisiert wurde. Folglich richtet sich die Publikation eher an ein wissenschaftliches Publikum, zumal fast alle AutorInnen einen geschichts- und sozialwissenschaftlichen Hintergrund haben und größtenteils promoviert sind. Die Beiträge lassen sich grob in drei Blöcke einteilen: Der historische Part konzentriert sich auf die Revolutionsdekaden 1950 und 1960 und beschäftigt sich mit den parteipolitischen und militärischen Eliten des revolutionären Konsolidierungsprozesses sowie mit dem Wandel des Bildungssystems.
Danach folgen im Block zu Kultur und Gesellschaft völlig diverse Beiträge zur zivilen Kooperation zwischen Cuba und Angola, der Rolle der Frauen in der cubanischen Revolution, zu den gegensätzlichen Strömungen der zeitgenössischen cubanischen Literatur und zur intellektuellen und künstlerischen Reflexion über „Rassendiskriminierung“ in Cuba. Im letzten Teil überwiegen politikwissenschaftliche Fragestellungen zu den bilateralen Beziehungen zwischen der EU und Cuba, zu Wirtschaftspolitik und Außenhandel sowie zur Lage der Menschenrechte oder der Wohnungsbaupolitik der Regierung.
Die Herangehensweise des Sammelbandes ist eine völlig andere als bei Williams’ Oral-History-Projekt. Überwiegend externe AnalytikerInnen nähern sich der cubanischen Realität, indem ein Verblassen des Revolutionsmythos attestiert wird und dass strukturelle Probleme der cubanischen Entwicklung den Zuspruch zur cubanischen Revolution v. a. bei der jungen Generation schwinden lassen. Die anfänglichen sozialrevolutionären Umwälzungen (z.B. Bildung, Landwirtschaftssektor) seien spätestens seit den 1990er Jahren in eine Stagnationsphase eingetreten. Zu den größten Herausforderungen des aktuellen Cuba zählen nach Ansicht verschiedener AutorInnen der Mangel an adäquatem Wohnraum, die soziale Schieflage durch finanzielle Ungleichverteilung der Einnahmen aus Tourismus und Auslandsüberweisungen, ein blühender Schwarzmarkt aufgrund stagnierender Wirtschaftsreformen, brachliegende landwirtschaftliche Nutzflächen oder die Verletzung der Menschenrechte.
Nichtsdestotrotz werden in den Beiträgen die immer noch hohen Zustimmungsraten in der Bevölkerung durch die sozialen Errungenschaften erklärt, von denen die Mehrheit der Menschen in anderen lateinamerikanischen Ländern nur träumen kann. Trotz der widrigen Umstände der letzten 50 Jahre, so resümiert Hans-Jürgen Burchardt, hat Cuba bewiesen, dass ein eigenständiger gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungskurs möglich ist, der nicht allein an der ökonomischen Effizienz des Regimes zu messen ist. Mit Prognosen halten sich die AutorInnen größtenteils zurück, stattdessen lesen sich die meisten Artikel eher als Retrospektive von Verdiensten und Verwerfungen der spezifischen Entwicklung Cubas. Es bleibt ein ambivalentes Gesamtresümee der cubanischen Revolution zurück.
Das Buch schlägt einen Mittelweg zwischen Verteufelung und affirmativen Jubelgesängen ein und liefert wenig Überraschendes. Es fällt schwer, den roten Faden oder die inhaltliche Klammer der Beiträge zu identifizieren, was ein grundlegendes Merkmal länderspezifischer Sammelbände ist. Es bleibt dem Leser/der Leserin vorbehalten, sich aus dem Mosaik an thematischer Vielfalt ein Gesamtbild zusammen zu setzen oder einfach nur nach persönlichem Interesse ein/zwei Beiträge heraus zu greifen. Die breite inhaltliche Aufstellung ist ein Zugewinn für all diejenigen, die sich mit einer wirtschaftspolitischen Verengung zur Bewertung der cubanischen Revolution nicht zufrieden geben wollen. Auch nach der Lektüre bleibt festzuhalten, dass Cuba immer noch genügend Stoff für kontroverse Debatten bietet. Mal schauen, welche Stimmen sich 2019 zu Wort melden, wenn Cubas Revolution das sechzigjährige Jubiläum begeht.
John Nicholas Williams: Das Gedächtnis Kubas. Die Revolution im Interview, Tectum Verlag, Marburg 2011, 304 Seiten, 29,90 Euro
Eßer, Cristina u.a.(hg.): Kuba. 50 Jahre zwischen Revolution und Reform – und Stillstand? (Lateinamerika im Fokus (Latif), Bd. VII), Wissenschaftlicher Verlag, Berlin 2011, 355 Seiten, 22,- Euro