Noch heute weckt der Name Perón in Argentinien leidenschaftliche Reaktionen, extrem positive oder extrem negative. Und dazwischen gibt es noch die von Liebe und Hass erfüllten Beziehungen zwischen dem Führer und den revolutionären PeronistInnen. Die Entmystifizierung von Perón ist überfällig, dieser Figur eines politischen Giganten, paternalistisch und Inkarnation eines argentinischen Machos aus vergangenen Zeiten. Sein Schatten beeinflusste das politische Leben Argentiniens, zuerst aus dem spanischen Exil und noch nach seinem Tod (1974) aus dem Jenseits. Sein Einfluss, die Militärs und die Gewalt als wiederkehrende Elemente der politischen Auseinandersetzungen und nicht zuletzt die peronistischen Gewerkschaftsführer bilden Rahmen und Gegenspieler zugleich für die eigentlichen ProtagonistInnen des Buches „Organizaciones Político-Militares. Testimonio de la lucha armada en la Argentina (1968-1976)“ von Carlos Flaskamp: Die Rede ist von den Mitgliedern der revolutionären peronistischen Organisationen.
Flaskamp beginnt seinen Bericht im Jahr 1968, dem Jahr, welches den Beginn der Stadtguerilla in Argentinien markiert. Diese konnte sich – im Gegensatz zu den vorherigen Versuchen im ländlichen Raum – über mehrere Jahre halten und schaffte es, die Unterstützung breiter Sektoren der Bevölkerung zu bekommen.
Flaskamps Zeugnis ist gleichzeitig aufrichtig und eine kluge Analyse, zum Teil sehr bissig. Im Unterschied zu einigen ehemaligen Anführern des revolutionären Peronismus, die öffentlich ihrer Vergangenheit der politischen Gewalt abschwören, blickt er kritisch auf den Zerfall der Bewegung zurück.
Er verzichtet bewusst auf eine allgemeine Abhandlung, da er weiß, dass ein Lebensbericht zwangsläufig parteiisch ist. Wie mit einer Röntgenaufnahme richtet sich sein Blick auf das Innere der Organisation, der er angehörte. Und wie es manchmal mit einer Röntgenaufnahme ist, so zeigt sie etwas, was auf den ersten Blick nicht sichtbar war – was aber nicht unbedingt heißt, dass mit der Betrachtung der Aufnahme eine vollständige Diagnose erstellt werden kann, wenn man nicht wenigstens über Grundkenntnisse verfügt. Hier liegt auch die Schwäche des Buches, das gleichwohl als Zeugnisbericht eines Überlebenden unentbehrlich ist. Er schreibt über die Erfahrungen einer Generation, die für diese und vielleicht noch für die nachfolgende nachvollziehbar sind, für die Jüngeren aber sind sie wohl nicht so leicht zu verstehen, es sei denn, sie sind über diese Ereignisse sehr gut informiert. Ein Glossar hätte den LeserInnen helfen können, die verschiedenen bewaffneten Organisationen zu unterscheiden.
Getreu seinem Anspruch thematisiert Flaskamp schon im ersten Kapitel die politische Gewalt. Sein Insider-Bericht führt in die Denkweise der Männer und Frauen ein, welche die bewaffneten Gruppen bildeten. Diese waren stark durch den internationalen politischen Kontext geprägt, der sie dazu brachte, Parallelen zu Freiheitskämpfen auf anderen Kontinenten zu ziehen. Alle, sowohl der revolutionäre Peronismus, wie auch die Linke, waren in ihrer Analyse davon überzeugt, dass sich Argentinien aufgrund seiner ökonomischen Abhängigkeit in einem semikolonialen Zustand befände und dass nur eine Besetzung durch ausländische Truppen zur vollständigen Kolonialisierung fehle. Der institutionelle Putsch von 1966 verstärkte diese Auffassung noch, da die argentinischen Streitkräfte als Besatzungsmacht angesehen wurden.
Daneben thematisiert Flaskamp die so genannte Fokus-Theorie[fn]Von Che Guevara und Régis Debray in den sechziger Jahren aufgrund der Erfahrungen der cubanischen Revolution entwickelte Guerilla-Strategie: Erst das revolutionäre Handeln einer bewussten Minderheit, eines bewaffneten Kerns schafft eine revolutionäre Situation. Die Guerilla ist der Brandherd – foco –, der das Feuer der Revolution in Gang setzt.[/fn], ein Konzept des bewaffneten Kampfes, das in dieser Zeit alle bewaffneten Gruppen nicht nur in Argentinien stark beeinflusste.
Der Gewalt von oben durch die Militärdiktatur sollte mit Gewalt von unten beantwortet werden. Dies war die Feststellung, die, so erinnert sich Flaskamp im dritten Kapitel, die theoretischen Diskussionen beendete und den Weg hin zu politisch-militärischen Operationen wies. Ausgehend von einigen herausragenden politischen Ereignissen dieser Zeit, wie der Spaltung der Gewerkschaftszentrale CGT, dem Arbeiter- und Studentenaufstand von 1969 („Cordobazo“) und anderen wie der Gefangennahme und Ermordung des Generals Aramburu durch die Montoneros, beschreibt Flaskamp das Aufkommen von neuen bewaffneten Gruppen, sowie die Annäherung und Fusion verwandter Gruppen. Dies vor einem Hintergrund ideologischer Diskussionen, die neu aufkamen, da die Fokus-Theorie als gemeinsamer Nenner an Boden verlor. Das Kapitel endet mit der Verhaftung des Autors 1971.
Im Kapitel „Peróns Rückkehr“ beschreibt er die neue Situation, die durch den Niedergang der Diktatur erzeugt wurde: Sie sah sich gezwungen Wahlen zuzulassen und den seit 1955 illegalisierten Peronisten die Kandidatur zu erlauben. Ebenfalls beschreibt er den Prozess der Neugruppierungen, in der sich die Mehrheit der revolutionären peronistischen Gruppen in der Achse Montoneros-FAR (Fuerzas Armadas Revolutionarias) sammelten, während sich die radikalen Linken in der PRT-ERP (Partido Revolutionario de los Trabajadores-Ejército Revolutionario del Pueblo) organisierten.
Im Kapitel über die Montoneros stellt Flaskamp die Beziehung zwischen den revolutionären Kräften und Perón im Licht der neuen Situation dar. 1973 kam der Autor aus dem Gefängnis und fand sich wieder in einem Land unter der peronistischen Volksregierung von Héctor J. Cámpora. Die ehemals klandestinen Organisationen waren Massenorganisationen geworden. Eine Situation, in der es unvermeidbar war, dass gegensätzliche Projekte, die dank der ideologischen Vielfalt oder auch Zweideutigkeit des Peronismus, lange nebeneinander existieren konnten, miteinander in Konflikt gerieten.
Den Ausbruch markierten die Ereignisse von Ezeiza, wo Perón nach 18 Jahren Exil von einer riesigen Menschenmenge begrüßt werden sollte. Dabei gingen die rechten Peronisten mit Waffengewalt gegen ihre linken Gegner vor. Dies beschwor eine Konfrontation herauf, die später ihren Höhepunkt in der Ermordung von korrupten Gewerkschaftsführern, durch die Montoneros erreichte. Dies war Teil des inzwischen offenen Machtkampfes um die Führungsrolle innerhalb der peronistischen Bewegung, welcher die bewaffneten Gruppen von ihrer Basis nach und nach entfernte, während die peronistische Rechte ihre Macht immer stärker festigen konnte, schlussendlich, auch mit der Unterstützung des „Alten“, wie Flaskamp Perón ab diesem Kapitel gelegentlich bezeichnet. Obwohl er dessen politische Widersprüchlichkeit im Allgemeinen sehr streng analysiert, führt er einige dieser Verfehlungen auf seine wachsende Senilität zurück.
Nach dem Tod Peróns driftete die peronistische Regierung immer stärker nach rechts ab. Gleichzeitig gingen die revolutionären Organisationen erneut in den Untergrund. Flaskamp geht ausführlich auf die Vernachlässigung der politischen Arbeit ein, was zur wachsenden Entfremdung von den Basisorganisationen führte, gleichzeitig zu einer immer stärkeren Militarisierung der revolutionären Kräfte, mit der er immer weniger einverstanden war und die letztlich zu seinem Ausstieg aus der Gruppe der Montoneros führte. Wie er selbst mit ätzender Ironie sagt, könnte man damit das Buch beenden. Doch noch fehlt eine Perle: Zwei Jahre später wurde er in Córdoba inhaftiert und war Gefangener in „La Perla“, einem geheimen Zentrum der Repression. Er überlebte es, wurde aber, wahrscheinlich von einem ehemaligen, gebrochenen und in die Reihen des Feindes übergewechselten Montonero-Funktionär, gefoltert.
Eine selbstkritische Reflexion durchzieht Flaskamps gesamten Lebensbericht, besonders das letzte Kapitel, wo es um die Rolle der revolutionären peronistischen Kräfte bis zu ihrer Vernichtung geht. Diese Reflexion wirft interessante Elemente einer Analyse auf, die, wie er selbst vorschlägt, einen Beitrag zu einer Fülle von Darstellungen einer kollektiven Erfahrung leisten sollten. Flaskamp hat seinen Optimismus nicht verloren und tritt weiter dafür ein, das historische Gedächtnis zurückzugewinnen, um wieder eine Volksbewegung aufzubauen, die die Macht der herrschenden Klassen in Frage stellt und Perspektiven der Befreiung eröffnet.
Erinnerungen eines Revolutionärs
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