In der Weite der globalen Literaturlandschaft befinden sich Chroniken im Zonenrandgebiet. Das gilt auch für Lateinamerika, obwohl viele der großen SchriftstellerInnen des Kontinents großartige ChronistInnen waren und sind – man denke an García Márquez, an Roberto Walsh und Osvaldo Bayer oder Elena Poniatowska, die in ihren Chroniken frei vom Korsett des Spannungsbogens einer Kurzgeschichte politisch-literarische Aufklärung betrieben/betreiben. Chroniken sind indessen keineswegs eine jüngere Erfindung. Die schriftliche Literatur über das südliche Amerika beginnt überhaupt mit den Crónicas de Indias und dergleichen, verfasst in der Fremde von europäischen Seefahrern mit dem Ziel, sich und anderen das Unbekannte zu erklären, einer (subjektiven) Wahrheit verpflichtet und unter (un-)freiwilliger Preisgabe der eigenen geistigen Herkunft. Die ersten LeserInnen fanden die Chronisten von damals erst Monate, ja Jahre später.
So ist es auch heute noch oft mit den Chroniken. Geschrieben zumeist zur Veröffentlichung im Medium der selbst nicht literarischen Spezies der Magazine und Wochenzeitungen suchen diese Produkte eines literarischen Journalismus jenseits der Jagd nach der Tagesaktualität nach Zusammenhängen und Hintergründen. Ein gerüttelt’ Maß Selbstbespiegelung ist bei diesen Reportagen auch fast immer dabei.
Insofern ist es nicht schlimm, dass die aus dem Spanischen und amerikanischen Englisch übersetzten 17 Chroniken in dem 2014 erschienenen Band „Verdammter Süden. Das andere Amerika“ alle schon ziemlich betagt sind. Die letzte stammt von 2010, die meisten davon wurden noch Jahre früher publiziert, eine geht bis 2002 zurück. Wenn man dem deutschen Buchmarkt Neues schmackhaft machen möchte, hätte man durchaus sehr leicht Jüngeres und auch von Jüngeren auftun können. Die 14 AutorInnen – leider knapp drei Viertel davon Männer – wurden geboren zwischen 1949 und 1977 – mit 65 bis 37 Jahren gehören sie damit durchaus zum literarischen Mittelalter. Bis auf einen Chilenen (Juan Pablo Meneses) stammen sie alle aus Argentinien, Mexiko und Kolumbien und schreiben auch fast nur über diese Gegenden. Das ist ihnen keinesfalls übel zu nehmen, belässt in dem Sammelband aber größere blinde Flecken in „dem anderen Amerika“. Erwartet die geneigte Leserin bei dem Untertitel ohnehin eher mainstreamferne Szenen aus den USA, fragt sie sich beim Titel vergeblich, wohin denn, bitteschön, der Süden in den Texten verdammt ist.
Nun ist in diesem Band Erklären das Ding der SchreiberInnen, nicht jedoch der HerausgeberInnen oder des Verlags Suhrkamp. Dass weder Präsident Vicente Fox (2000-2006) in Mexico noch sein Amtskollege Uribe (2002-2010) in Kolumbien noch an der Regierung sind, wäre etwa durchaus eine Fußnote wert gewesen, gerade weil es der Band mit nach AutorInnen und Texten getrennten Nachweisen am Ende des Buchs so kompliziert macht, herauszufinden, aus welcher Zeit die Chroniken stammen. Das ansprechende Layout kontrastiert mit dem offenbar drastischen Sparkurs beim Lektorat. Hat sich niemand über den landwirtschaftlich doch sehr erstaunlichen „Kokainanbau“ (S. 278) gewundert? Oder über den „kreolischen Braten“ (S. 240), der in pikanter Soße in einem Backrohr, aber sicher auf keinem argentinischen Grill ruhen kann? „Estudiantes“ (S. 104) unter 19 Jahren sind in aller Regel SchülerInnen, keine StudentInnen. Bei „militanten Genossen“ (S. 223) handelt es sich kaum um gewaltbereite Kameraden, sondern einfach Parteifreunde, die die Tochter eines durch argentinische Militärs entführten und ermordeten Paars adoptieren. Der Passus stammt aus der empathischen Reportage „Die Stimme der Knochen“ von Leila Guerriero über die forensischen Anthropologen in Argentinien, die 1984 mit dem Ausgraben und Identifizieren der Ermordeten der Diktatur (und später auch anderer Diktaturen weltweit) begannen, ein Team, das sie inmitten von makabrem Knochensammeln und Trösten verzweifelter Angehöriger als starkes, überaus solidarisches Kollektiv beschreibt.
Womit es nach der Verlagsschelte an der Zeit ist, zu den Chroniken selbst zu kommen. Die Texte sind in keiner nachvollziehbaren Reihenfolge angeordnet, Versuche mit Alphabet, Alter, Erscheinungsdatum, Herkunftsland oder Thema brachten kein Ergebnis. Man lässt sich also einfach auf die Lektüre ein und könnte etwa folgende Unterteilung vornehmen: „Kurioses und Anekdotisches“, „Selbstversuche“ (wie „Sechs Monate auf Mindestlohn“ von Solano) und „Dokumentationen empörender Zustände“. Bemerkenswerterweise beschränkt sich die Auswahl kolumbianischer Beiträge auf erstere Kategorie, als existierten in diesem Land kein bewaffneter Konflikt und keine dramatische strukturelle Schieflage, als sei ein vorenthaltenes Recht auf Bildung nichts gegen einen idealistischen Lehrer auf einem mit Büchern bepackten Esel („Der kolumbianische Quijote“, Valencia), als sei die Zeit der mordenden Drogenbosse in einem komplizenhaften Staat romantische Erinnerung („Zwei traurige Nilpferde“, Castano).
Die Krönung der peinlichen Märchenbildung zu Kolumbiens Realität ist allerdings „Im Liebesknast“ (Castano), eine Reportage aus einem kolumbianischen Gefängnis, in dem der Alltag nicht von Überbelegung, Rechtlosigkeit, sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung bestimmt ist, sondern von amourösem Werben und Eheanbahnung, väterlich überwacht von einem besorgten Gefängnisdirektor und vorangetrieben durch den Austausch von Schokoladenherzen. Und wo ein Verehrer seiner Angebeteten im Liebesbrief neben Namen auch sein Aktenzeichen mitteilt, „damit die Frau die Angaben zum Verbrechen im Rechtsdienst des Gefängnisses nachprüfen kann, wenn sie will“ (S. 281). Wenn es einen solchen Rechtsdienst gäbe, würde man gerne anfügen. Aber es lohnt nicht, der Text ist insgesamt blamabel.
Glücklicherweise bleiben noch ganz andere Texte zu entdecken. Héctor Pavón berichtet in „Südlich von Hollywood“ vom selbstgedrehten Nachbarschaftskino als kultureller – und preisgekrönter – Praxis in der argentinischen Kleinstadt El Saladillo. Marcela Turati beschreibt den „Tod in der Wüste“, als 2001 erstmals 14 Mexikaner beim Versuch, die Grenze in die USA zu überwinden, elend starben. Damals eine breit wahrgenommene Katastrophe, heute um ein Vielfaches übertroffen vom kaum in die Nachrichten dringenden Drama der Zigtausende ZentralmerikanerInnen, die auf dem Weg durch Mexiko gekidnappt, ausgeraubt und umgebracht werden und bei denen nicht nur ein paar profitgierige Schleuser, sondern organisierte Kriminalität und staatliche Strukturen verantwortlich sind.
Dazu wäre ein Nachtrag seitens der HerausgeberInnen dringend nötig und ohne weiteres möglich gewesen. Gleiches gilt für Guido Bilbaos „Das vergiftete Paradies“ über die von US-amerikanischen Militärs 1944 für Chemiewaffentests benutzte Insel San José vor Panama. Eine grausige Geschichte auch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 2004 noch, da die USA die verursachte schwere Verseuchung nie zugaben, geschweige denn dekontaminierten, jede Kritik selbst auf internationalem Parkett rücksichtslos abbügelten und Panama mit einem Freihandelsabkommen erpressten. Auch hier müsste die Chronik unbedingt aktualisiert werden, damit ihr Empörungspotenzial ein Ziel bekommt.
Genauso verhält es sich mit der sehr klar Stellung beziehenden Reportage über „Das Theater der Gewalt“ von Fabricio Mejía Madrid über die Feminicidios (Frauenmorde) im mexikanischen Ciudad Juárez und deren Hintergründe. Doch seit 2007 fanden in diesem Theater noch viele neue Tragödien statt, der Kreis der Schuldigen erweiterte sich.
Gute Chroniken belassen es nicht bei dem Verweis ins allgemein Menschliche. Sie verstehen sich nicht als unterhaltsame Lektüre für einen verregneten Feriennachmittag. Sie sind viel mehr als „lebenspralle, wirklichkeitsgesättigte, mitreißende Geschichten“, wie sie das Buchcover exotisierend ankündigt. Die besten dieses Bandes rütteln vielmehr auf. Während sich frau noch freut, dass sie etwas verstanden hat, bohrt schon die Frage: „Was nun? Was tun?“
Carmen Pinilla, Frank Wegner: Verdammter Süden. Das andere Amerika, Suhrkamp, Berlin 2014, 315 Seiten, 20,- Euro