Schwere Ledersessel, sanfte Musik und ein gewaltiger Bronzeadler. Mai 2006. Wir befinden uns in der Empfangshalle des Hotels „Palladium“ in Montevideo, Uruguay. Vor dem auf blauem Samt drapierten Riesenadler liefern sich zwei fast 90jährige ein erbittertes Wortgefecht. „Gehorsam. Treue. Widerstand.“ Wortfetzen auf Deutsch – im Süden Lateinamerikas. Einer der beiden Kontrahenten ist Ernesto. Zufällig ist er hier in der Hotelhalle auf Hans gestoßen. Gleicher Jahrgang. Schon einmal haben sich ihre Wege beinahe gekreuzt. Vor fast 70 Jahren. Das war 1939. Als der deutsche Panzerkreuzer „Graf Spee“ im Hafen von Montevideo Schutz suchte vor englischen Schlachtschiffen und später vom eigenen Kapitän in die Luft gesprengt wurde. Ernesto war da gerade nach Montevideo gekommen, auf der Flucht vor den Nazis. Als junger deutscher Jude und Widerstandskämpfer aus Breslau war er zuvor drei Jahre im Gefängnis und Konzentrationslager inhaftiert gewesen. Hans war damals bereits Matrose auf der „Graf Spee“ und „Führer und Vaterland“ treu ergeben. Eine Haltung, die auch jetzt noch spürbar wird. Im Streit mit Ernst, der seit seiner Flucht aus Nazi-Deutschland nach Uruguay Ernesto heißt.
Entzündet hat sich ihr Streit am Riesenadler. Der hat früher mal den Bug der „Graf Spee“ geziert. Als Galionsfigur. Nun hatten ihn professionelle Schatzsucher aus dem Rio de la Plata gezogen und hier in der Hotellobby zur Schau gestellt. Das gut sichtbare Hakenkreuz, das der Adler mit seinen Krallen umfasst, schützt dickes Plexiglas. „Vor einigen Tagen hat eine Frau das Hakenkreuz bespuckt. Deswegen das Plexiglas“, erfahren wir vom Hotelmanager. Auch Ernesto und seiner 77-jährigen Lebensgefährtin Feva Weil fällt es sichtbar schwer, im Schlagabtausch mit dem ergrauten Ex-Matrosen der „Graf Spee“ die Fassung zu wahren. Zu unvereinbar sind Lebenserfahrungen und Überzeugungen. Ernestos Mutter und Vater wurden im KZ ermordet, Dutzende Verwandte und Freunde. „Treue“, „Pflicht“, „Gehorsam“ gegenüber dem obersten Befehlshaber der Wehrmacht, wovon der Ex-Matrose im Angesicht des Adlers schwadroniert, wirken auf die beiden jüdischen Emigranten wie eine späte Verhöhnung der Opfer. Wie ein Infragestellen all dessen, wofür sie ein Leben lang gestritten haben. Deswegen ist es jetzt besser zu gehen.
Rückblende: Frankfurt am Main, 2003. Wir treffen Ernesto Kroch und Feva Weil zum ersten Mal. In einer Wohnung Nähe Merianplatz, die ihnen ein Freund für einige Wochen überlassen hat. Damit sie ein Dach überm Kopf haben – in ihrer „alten Heimat“ Deutschland. Ein Deutschland, das Ernesto nicht nur zur Flucht nach Lateinamerika gezwungen hat, sondern ihm später auch Zuflucht gewährte. Ende der 70er Jahre, als Uruguay im Terror einer Militärdiktatur versank. Wie so viele Länder Lateinamerikas. Als Mitglied der Kommunistischen Partei und engagierter Metallgewerkschafter stand Ernesto Kroch auf den Fahndungslisten der Militärs. Seinen Sohn Peter hatte man bereits verhaftet und gefoltert, ihn selbst verhört. Ernesto blieb keine andere Wahl als die erneute Flucht in die „alte Heimat“ Deutschland. 1985, nach dem Ende der Diktatur, kehrten die beiden zurück in ihre „neue Heimat“ Montevideo. Seitdem sind sie zu Wanderern zwischen den Welten geworden: Drei, vier Monate im Jahr Deutschland, die restliche Zeit Südamerika. Trotz ihres hohen Alters mischen sich Ernesto und Feva weiter ein, wie sie es immer getan haben. Ob auf der Sommerakademie der Globalisierungskritiker von „attac“ in Göttingen oder beim Bau eines Kindergartens in einem Armenviertel von Montevideo.
Montevideo, Frühjahr 2004. Wir haben uns mit Ernesto und Feva in einer jener „Volksküchen“ verabredet, die in der uruguayischen Hauptstadt wie Pilze aus dem Boden sprießen. Betrieben von Nachbarn für Nachbarn. Damit vor allem die Kinder etwas zu essen haben. Im Sog der Argentinienkrise brach auch Uruguays Ökonomie ein und selbst der einst prosperierende Mittelstand stürzte ins Bodenlose. Dabei galt Uruguay lange als „Schweiz Südamerikas“ – mit einem hohen Lebensstandard und sozialer Sicherung. Ernesto nimmt uns mit ins Bankenviertel der Innenstadt. Putten, neobarocke Prachtentfaltung. 20er Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts. Jetzt blättert der Putz, sind viele Fenster und Türen vernagelt. Vor dem monumentalen Portal der Banco Comercial berichtet Ernesto, wie die einflussreichen Besitzer der Bank die Gelder ihrer Kunden verschoben haben – u.a. mit Hilfe der Dresdener Bank. Für einen Teil des Millionenschadens haftete die uruguayische Regierung. Um den endgültigen Zusammenbruch des gesamten Bankensystems zu verhindern – und die Bankbesitzer zu decken.
Nachmittags hat Ernesto eine Verabredung mit dem Sekretär der Metallarbeitergewerkschaft. Von ihm erfahren wir, wie prekär die Lage der meisten Metallarbeiter ist. Viele Fabriken sind dicht, seit die Zölle gesenkt wurden und Industrie- und Konsumgüter aus Nordamerika und Europa den uruguayischen Markt überschwemmen. „Vom Fleisch- oder Lederexport allein kann Uruguay nicht existieren“, erklärt Ernesto, „zumal davon in erster Linie Rinderzüchter und Fleischfabrikanten profitieren.“ So geht es vielen Metallern schlecht, weil sie kaum noch Arbeit finden. Und wenn, dann zu Hungerlöhnen. Entsprechend schwach ist ihre Gewerkschaft. Ernesto selbst war von Jugend an in der Metallarbeitergewerkschaft aktiv. Nach der mittleren Reife hat er in seiner Heimatstadt Breslau eine Maschinenschlosserlehre absolviert. In Uruguay arbeitete er über 40 Jahre in einer kleinen Metallfabrik, mit deren Chef er sich bestens verstand. Außer in der Gewerkschaft engagierte sich Ernesto in der Kommunistischen Partei und hielt Kontakte zu sozialistischen Freunden in aller Welt. Unter anderem schrieb er jahrzehntelang unter einem Pseudonym für die „Weltbühne“ in Ostberlin. Doch die Kommunistische Partei hat er bereits vor Jahren verlassen. „Zu dogmatisch, zu wenig aus dem Zusammenbruch des ‘realen Sozialismus’ gelernt“, findet er rückblickend.
Zum Abschluss des Besuches im Gewerkschaftshaus zeigt uns Ernesto noch den großen Versammlungssaal. Schlichte rote Holzbänke, ohne Rückenlehne, dicht an dicht. An den Wänden gemalte Porträts und Fotos der „Märtyrer“, wie sie hier heißen. Jener Männer und Frauen, die unter der Militärdiktatur für die Gewerkschaft ihr Leben gelassen haben.
Szenenwechsel. Europa. Sommerakademie der Globalisierungskritiker von „attac“. Frühsommer 2005: Ernesto ist nach Göttingen gekommen, um über seine Erfahrungen in Lateinamerika zu berichten. Wie die neoliberale Politik auch dort die Gewerkschaften geschwächt hat. Aber auch, dass breite Bürgerbewegungen erfolgreich die Privatisierung der Wasserversorgung oder der Ölindustrie verhindert haben, berichtet der fast Neunzigjährige seinen vorwiegend studentischen Zuhörern. Und dass in punkto „öffentliche Verschuldung“ Lateinamerika und die Länder der so genannten Dritten Welt Europa weit voraus seien. Vor allem in der Erfahrung, wie eine gezielt herbeigeführte öffentliche Verschuldung Staat und Sozialsysteme kleinhalte und zum Ausverkauf nationaler Bodenschätze und Rohstoffe führe. „Strategien, die multinationale Konzerne jetzt auch verstärkt in Deutschland und Europa einsetzen, um die öffentliche Daseinsvorsorge zu privatisieren“, erläutert Ernesto Kroch. „Deswegen müssen wir weltweit voneinander lernen, uns vernetzen.“
Ernesto Kroch ist einer dieser erfolgreichen weltweiten Netzwerker. Ein Langstreckenkämpfer, der jetzt 90 Jahre alt wird und nicht müde, seine überreichen Lebenserfahrungen weiterzugeben. Deswegen steigt er jedes Jahr ins Flugzeug, um in deutschen Schulen oder Gewerkschaftshäusern zu sprechen. Darüber, dass die Einigkeit der Nazigegner 1933 womöglich die „Machtergreifung“ der Faschisten hätte verhindern können. Und dass in den immer wiederkehrenden ökonomischen Krisen der kapitalistischen Wirtschaft nur ein breites gesellschaftliches Bündnis und soziale Bewegungen demokratische Freiheiten und soziale Bürgerrechte sichern können.
Ein Jahr später, Montevideo, Uruguay. Wir treffen Ernesto Kroch in einer Stadtteilversammlung der Frente Amplio. Dem breiten Bündnis sozialer Bewegungen und Parteien. Von Mitte links bis links außen. In dem niedrigen Raum hocken rund 20 Vertreter der lokalen Frente auf notdürftig zusammengezimmerten Bänken und diskutieren die Politik der neuen Regierung. An den unverputzten Wänden Fahnen und Porträts. Von General Artigas, dem Nationalhelden und Gründer Uruguays, bis hin zum neuen Präsidenten Tabaré Vázquez. Er ist der neue Hoffnungsträger der hier Versammelten und auch Ernestos. Denn Vázquez hat geschafft, was in den letzten hundert Jahren vor ihm noch niemand geschafft hat. Er hat die Linke in Uruguay an die Macht gebracht. Mit Hilfe des breiten Parteienbündnisses Frente Amplio. Selbst ehemalige Kämpfer der Stadtguerilla Tupamaros sitzen jetzt als Minister in der Regierung, propagieren den friedlichen Wandel: Linderung der größten sozialen Not, Einkommenssteuern für die Reichen. An der schwierigen ökonomischen Lage Uruguays, gar an den Machtverhältnissen in einer globalisierten Wirtschaft können sie nur wenig ändern. „Das wird Jahrzehnte dauern“, sagt Ernesto. „Ich werde das nicht mehr erleben. Aber die Richtung stimmt jetzt. Und das zählt!“
Am nächsten Tag wollen uns Ernesto und Feva in ein sogenanntes Asentamiento mitnehmen – ein Wohngebiet, in dem die Ärmsten leben. Um uns zu zeigen, wie riesig die Aufgabe der neuen Regierung ist.
Zunächst treffen wir das Team von salud sobre ruedas (Gesundheit auf Rädern): Susana, Pamela und Virginia. Eine Krankenschwester, eine Kinder- und eine Zahnärztin. Mit einem klapprigen Omnibus – einer Art rollender Klinik – fahren sie einmal pro Woche in das Asentamiento Cervando Gómez. Um wenigstens die Kinder notdürftig medizinisch zu versorgen. Ernesto, Feva und wir werden sie diesmal begleiten. Cervando Gómez ist ein kleiner Haufen schäbiger Bretterbuden am Rande eines Sumpfgebietes. Einige hundert Meter entfernt der noble Tennisclub der uruguayischen Hauptstadt. Viele Kinder, die hier unter primitivsten Bedingungen leben, leiden unter Durchfall- oder Atemwegserkrankungen. Immerhin – am Rande des Sumpfgebietes – gibt es wenigstens Wasser. Und Torf. Den stechen die Bewohner, um ihn dann preiswert in der Stadt zu verkaufen. „Reguläre Arbeit hat hier niemand“, erläutert Ernesto die Lage der Bewohner, während die Krankenschwester die Kinder zur rollenden Klinik lotst. „Die Leute versuchen, irgendwie zu überleben. Sie leben vom Müll oder sammeln Plastik – überall in der Stadt. Was irgendwie essbar ist, bringen sie hierher und verfüttern es an ihre Schweine.“ Die waten denn auch in einem Morast aus Mist und Plastik, dazwischen spielen die Kinder. Immerhin – die neue Regierung unterstützt die Bewohner jetzt mit Lebensmittelgutscheinen und einer Art Mindesteinkommen. Doch der Spielraum der Regierung ist sehr begrenzt – angesichts riesiger Schuldenberge. Und so sammeln Ernesto Kroch und Feva Weil auch weiterhin kräftig Geld in Europa oder den USA. Für den Kindergarten in ihrer Nachbarschaft . Damit die Kinder der Ärmsten wenigstens einmal am Tag eine warme Mahlzeit haben. „Es reicht nicht, die Ungerechtigkeit der Welt zu kritisieren“, sagen sie. „Du musst selber was tun, um sie zu bekämpfen.“
Der Film „Ernesto alias Ernst“ ist als Mischung aus Reportage und Biographie konzipiert. Ein Film, in dem sich Erfahrungen aus Nazideutschland mit der sozialen Realität Südamerikas oder Eindrücken vom heutigen Deutschland mischen, Reflexionen über Geschichte mit Erkenntnissen über die Globalisierung.
Die zwei Ebenen – biographischer, historischer Rückblick und reportagehaftes Eintauchen in die soziale und politische Realität Uruguays, Eindrücke aus dem heutigen Deutschland – stoßen mitunter hart aufeinander oder fließen sanft ineinander. So wie für Ernesto Kroch Gegenwart und Vergangenheit, Uruguay und Deutschland ineinanderfließen oder sich mitunter hart stoßen. Dabei entsteht ein ganz eigener Blick – auf die Möglichkeiten und Erfahrungen mit Widerstand und Anpassung, langem Atem und Niederlagen, gesellschaftlichem und politischem Engagement. Zu Zeiten des deutschen Faschismus, einer südamerikanischen Militärdiktatur oder im Zeitalter der so genannten Globalisierung.
Wir haben Ernesto Kroch und Feva Weil zum ersten Mal 2003 in Frankfurt getroffen. Und seitdem immer wieder. In Uruguay und in Deutschland. Haben lange Gespräche mit Ernesto geführt. Über seine Jugend in Deutschland, den Widerstand gegen die Nazis, wie er verhaftet wurde und ins KZ kam. Ernesto Kroch hat uns in Montevideo zu jenem Kai im Hafen geführt, an dem sein Schiff im Jahre 1938 anlegte. Er hat uns zu Freunden ins Arme-Leute-Viertel barrio sur mitgenommen, denen er in den 50er Jahren half, die ersten Sozialwohnungen Montevideos zu errichten. Durch ihn und Feva Weil haben wir die Armenküchen, aber auch die Reichenviertel von Montevideo kennen gelernt – und viel darüber erfahren, was die Verhältnisse in Lateinamerika mit denen in Europa zu tun haben. Globalisierung konkret und von unten.
Wir haben die beiden auch in ihrer alten Heimat Deutschland begleitet. Vor allem in Frankfurt. Waren dabei, wenn sie Freunde getroffen, wenn Ernesto Vorträge gehalten hat. Haben ihn gefragt, wie er heute Deutschland erlebt und wie sich seine alte Heimat verändert. Und was das für ein Gefühl war, im „Land der Täter“ vier Jahrzehnte später wieder Zuflucht zu finden – vor einer Militärdiktatur in Südamerika. Im Alter von 65 Jahren. Vieles haben wir bereits mit der Kamera festgehalten, damit es nicht verlorengeht. Einiges bleibt zu drehen, damit ein ungewöhnlicher Film entsteht. Eine Mischung aus Reportage und Biographie. Eine filmische Langzeitbeobachtung – so ungewöhnlich wie das Leben von Ernesto Kroch und seiner Lebensgefährtin Feva Weil.
Der Film soll 2007 als DVD und VHS vorliegen. Er soll nicht nur in Programmkinos gezeigt, sondern auch in der politischen Bildungsarbeit eingesetzt werden. In Schulen, Kirchen, Gewerkschaftshäusern und Universitäten.