Bei den Nationalwahlen 2015 hatte sich der aktuelle Präsident Mauricio Macri mit einem Vorsprung von 2,65 Prozent gegen den peronistischen Kandidaten Daniel Scioli durchgesetzt. Als er sein Amt antrat, übernahm er ein Land, das zwar in einer konjunkturellen Krise war, aber zuvor eine zehnjährige Wachstumsperiode erlebt hatte. Die Auslandsschulden waren deutlich reduziert, der Anteil der Armen in der Bevölkerung war von 58 Prozent (2003) auf 30 Prozent (2015) gesenkt worden. Es gab Tarifverträge und zweimal im Jahr gesetzlich festgelegte Rentenerhöhungen. Nicht ohne Grund hatte Macri im Wahlkampf versprochen, alles Gute so zu belassen und nur notwendige Korrekturen durchzuführen. Getragen wurde seine Kandidatur von einer Allianz seiner eigenen Partei, der neoliberalen PRO (die vor allem in Buenos Aires stark war) mit der liberal-konservativen UCR, die vor allem im Landesinnern über einen gut funktionierenden Apparat verfügte. Kleinere Provinzparteien und die Ein-Frau-Bewegung um Elisa Carrio gesellten sich zu diesem Bündnis. Bereits bei der Regierungsbildung ließ Macri seine Alliierten spüren, dass sie nur willkommene Wahlhelfer waren, aber nicht mitregieren würden. Die Regierungsmannschaft bestand hauptsächlich aus ehemaligen CEOs in- und ausländischer Unternehmen, neoliberalen Ideolog*innen und einigen wenigen Berufspolitiker*innen.

Die Liberalisierung des Devisenhandels nach Amtsantritt brachte eine erste Abwertung des Pesos um ca. 60 Prozent und einen fast gleich großen Anstieg der Preise der meisten Konsumgüter. Getrieben von der fixen Idee, dass sich Argentinien wieder „an die Welt anschließen sollte“, wurde der juristische Konflikt mit den sieben Prozent der ausländischen Gläubiger, die sich an den Umschuldungen von 2005 und 2009 nicht beteiligt hatten, vor einem New Yorker Gericht beigelegt und deren Forderungen voll anerkannt. Der von der Regierung von Cristina Fernández de Kirchner (CFK) erreichte niedrige Stand des Auslandsschulden erlaubte es Macri, neue Schulden zu machen, um die Zahlungen an die Gläubiger zu tätigen.

Im Land wurde die eigene Klientel reichlich beschenkt. Die Ausfuhrsteuern auf Getreide und Mineralien, die einen großen Teil die Staatsausgaben der Kirchner-Regierungen (2003 bis 2015) finanziert hatten, wurden auf ein Minimum reduziert, Einfuhrzölle für Luxusgüter wie Champagner oder Autos gestrichen, ebenso alle gesetzlichen Beschränkungen zur Ein- oder Ausfuhr von Kapital.

Die eingefrorenen Preise auf Strom, Gas und Wasser wurden freigegeben. Stromrechnungen von bis dahin beispielsweise 300 Pesos stiegen binnen eines halben Jahres auf 5000 Pesos. Schutzzölle, welche die Wiederbelebung der Industrie seit 2003 ermöglicht hatten, wurden radikal gesenkt. All diese Maßnahmen sollten einen „Investitionsregen“ verursachen. Dieser blieb aber aus.

Gleichzeitig bediente sich die neue Regierung einer Rhetorik, die sehr stark nach Klassenkampf von oben roch. Finanzminister Prat Gay erklärte: „Die Arbeitnehmer werden in Zukunft entscheiden müssen, ob sie Lohnerhöhungen haben oder ihre Arbeitsplätze behalten wollen.“ Der Präsident der Nationalbank, Javier Gonzalez Fraga, bemerkte: „Die frühere Regierung hat die Menschen dazu gebracht, zu glauben, dass man sich mit einem Durchschnittseinkommen ein neues Handy, einen Fernseher oder eine Urlaubsreise leisten kann. Das war zwar sehr schön, aber unrealistisch.“

Zwei Jahre hat die Politik der Regierung Macri nach außen hin funktioniert. Finanziert durch eine zunehmende Auslandsverschuldung blieb trotz der Einnahmeausfälle durch Macris Wahlgeschenke an die Reichen das Staatsbudget einigermaßen stabil. So gewann seine Koalition im Oktober 2017 knapp die Wahlen, bei denen ein Teil der Mitglieder des Senats und der Abgeordnetenkammer neu gewählt wurden. Beflügelt durch diesen Sieg wollte die Regierung tiefgreifende Reformen des Rentensystems und der Arbeitsgesetzgebung durchführen. Trotz Massenprotesten kam sie bei den Renten damit durch. Seitdem beziehen die argentinischen Rentner*innen 20 Prozent weniger Rente als nach dem System, das unter CFK eingeführt worden war. Die Reform der Arbeitsgesetzgebung konnte noch durch die Abgeordnetenkammer gepeitscht werden, während das Zentrum der Hauptstadt im Dezember 2017 zum Kriegsgebiet zwischen Polizei und Demonstrant*innen wurde. Dann stoppte der Senat die Gesetzesänderung.

Und aus heiterem Himmel gab die Regierung im März 2018 bekannt, dass sie keine Kredite mehr auf den internationalen Finanzmärkten erhalte und den Internationalen Währungsfonds (IWF) anrufen müsse. Der IWF genehmigte einen Stand-by-Kredit über 57 Milliarden Dollar. Logischerweise musste die Regierung eine Reihe von Maßnahmen treffen, die standardmäßig vorgeschrieben werden, wie etwa Etatkürzungen, Einfrierung öffentlicher Projekte und Streichung von Subventionen.

Ein Dollar, der am 10. Dezember 2015 zehn Pesos wert war, kostete im August 2019 47 Pesos. Im gleichen Zeitraum stieg die Inflationsrate von 25 Prozent auf über 50 Prozent (bei Lebensmitteln über 70 Prozent). Um den Wert des Pesos nicht noch mehr zu schwächen, wurde eine Hochzinspolitik eingeführt. Ende 2015 lebten 30 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, heute sind es 35 Prozent. Und nach einem Rückgang 2016 und einem Wachstum im Wahljahr 2017 fällt das BSP seit 2018 kontinuierlich. Die vorsichtige Kalkulation des IWF sieht für dieses Jahr einen Rückgang von 1,3 Prozent voraus. 40 Prozent der industriellen Produktionsanlagen sind inaktiv, die Arbeitslosigkeit, die 2015 bei sieben Prozent lag, liegt heute deutlich über zehn Prozent. Seit 2015 hat die Regierung 107 Milliarden Dollar an Auslandskrediten aufgenommen. Im gleichen Zeitraum flossen dank der Deregulierung der Finanzmärkte 106 Milliarden Dollar von Argentinien ins Ausland.

Bereits in der Amtszeit von CFK gab es eine Allianz zwischen den privaten Massenmedien und der damaligen Oppositionspartei PRO für „den Erhalt der Republik“, die angeblich durch die „populistischen“ Initiativen des Kirchnerismus in Gefahr war. Nach der Amtseinführung von Macri wurde der wahre Charakter dieses „Republikanismus» deutlich. Unter Umgehung des Senats versuchte der neue Präsident zwei neue Richter für das Oberste Gericht zu bestimmen. Gleichzeitig wurde die Gesetzgebung, die das Marktmonopol des größten Medienunternehmens Clarín einschränkte, rückgängig gemacht. Ab 2016 leitete die Justiz mehrere Verfahren gegen Mitglieder der Kirchner-Regierungen ein. Begleitet von einer Kampagne der Massenmedien, die bis auf einzelne TV- und Radiosender, Radios sowie ganz wenige Zeitungen, Macri unterstützen, wurde der Verdacht im Umlauf gebracht, CFK habe sich persönlich um mehrere Milliarden Dollar bereichert. Das führte zu teils lächerlichen Aktionen wie der Anordnung eines Staatsanwaltes, angeblich geheime Bunker der Familie Kirchner in der patagonischen Steppe zu suchen. Bei der internationalen Fahndung nach Kirchner-Geldern stießen die Medien allerdings auf die Macri-Offshore-Fonds in Panama. Die konservative Tageszeitung „La Nación“, ein Teil des internationalen Journalistenkonsortiums, das die „Panama-Papers“ ans Tageslicht brachte, verfügte über diese Infos bereits vor den Wahlen im Oktober 2015, veröffentlichte sie aber erst danach.

Die Korruptionsvorwürfe gegen CFK und Mitglieder ihrer Regierung werden immer noch erhoben, aber Fakt ist, dass die argentinische Justiz seit 2015 keine stichhaltigen Beweise präsentiert hat. 60 bis 70 Personen, darunter ehemalige Minister, sitzen dennoch weiter in Untersuchungshaft. Richter, die es wagten, Urteile gegen die Politik der Macri-Regierung oder gegen die Interessen seiner Unternehmensgruppe zu fällen, wurden aus ihren Ämtern gedrängt. Auf der Straße wird die schießwütige Praxis der Sicherheitskräfte zur offiziellen Doktrin erhoben. Nach Angaben der Menschenrechtsgruppe CORREPI wird in Argentinien alle 22 Stunden jemand durch die Sicherheitskräfte erschossen.

Unter diesen Voraussetzungen war es fast klar, dass eine geeinte Opposition bei den Vorwahlen gegen die Regierung Macri eine Chance hätte. Cristina Kirchners Schachzug, ihren ehemaligen Kabinettschef und Kritiker Alberto Fernández zum Präsidentschaftskandidaten zu machen und selbst nur für das Amt der Vizepräsidentin zu kandidieren, führte dazu, dass sich alle Teile der peronistischen Bewegung hinter dieser Kandidatur versammelten. Auf nationaler Ebene erreichte die von CFK angeführte Frente de Todos (FdT) bei den Vorwahlen 48 Prozent der abgegebenen Stimmen gegenüber 33 Prozent für die Regierungskoalition PRO-UCR. Im größten und wahlentscheidenden Wahlbezirk, der Provinz Buenos Aires, kam der FdT-Kandidat für das Gouverneursamt sogar auf 53 Prozent.

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Alberto Fernandez von der FdT mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit die Wahlen am 27. Oktober gewinnen wird. Da laut Verfassung keine absolute Mehrheit notwendig ist, sondern als gewählt gilt, wer mehr als 45 Prozent oder einen Vorsprung von mehr als zehn Prozentpunkten gegenüber dem/der Nächstplatzierten hat, wird keine zweite Wahlrunde im November 2019 nötig sein. Die Ergebnisse zur Teilerneuerung des argentinischen Parlaments sagen voraus, dass eine FdT-Regierung eine relative Minderheit in der Abgeordnetenkammer und eine beschlussfähige Mehrheit im Senat haben wird.

Die große Frage ist, in welchem Zustand Argentinien am 27. Oktober oder dem Tag der Amtseinführung der neuen Regierung am 10. Dezember sein wird. Eine Abwertung des Pesos um 30 Prozent am Montag nach den Vorwahlen löste neue Preissteigerungen aus. Wenn der IWF beschließt, den letzten Teil des Stand-by Kredites in Höhe von 5,4 Milliarden US-Dollar nicht auszuzahlen, ist das Land praktisch zahlungsunfähig. Wenn die argentinische Zentralbank weiterhin Reserven verkauft, um den Wert des Pesos zu stützen, wird die kommende Regierung leere Kassen vorfinden.

Die argentinische Rechte, die im Oktober 2015 zum ersten Mal mit einer eigenen Partei demokratische Präsidentschaftswahlen gewann, hat gezeigt, dass sie unfähig ist, das Land zu regieren. Ihr Modell einer Wirtschaft, die durch den Export von landwirtschaftlichen Produkten und Bodenschätzen getragen werden soll, hat ein großes Manko, nämlich mindestens 20 Millionen Menschen zu viel in Argentinien. Überhaupt erhebt diese Führungselite den Anspruch, ein Land zu regieren, obwohl sie im Verborgenen einen großen Teil seiner Bewohner*innen verachtet und für minderwertig hält. Doch nun hat eben diese Bevölkerungsmehrheit gezeigt, dass sie trotz mancher konservativen Einstellung immer noch eine Gesellschaft anstrebt, die durch Gerechtigkeit und Solidarität geprägt ist.

 

 

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