Die Bewegung des Jahres 1968 war nicht nur ein europäisches Phänomen, überall auf der Welt gingen junge Leute gegen überkommene Strukturen auf die Straßen. In Jamaika rebellierten StudentInnen und die BewohnerInnen der Armenviertel der Hauptstadt Kingston im Oktober 1968 während der so genannten Rodney Riots gegen die Politik der konservativen Regierung, die nichts zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und zur Überwindung der kolonialen Strukturen tat (vgl. ila 319). Black Power hieß die Parole der Bewegung. In der gesamten englischsprachigen Karibik entstanden in der Folge linke Diskussionszirkel und Gruppen, die radikale politische Veränderungen forderten.
Am nachhaltigsten war die Wirkung der Rodney-Riots auf der kleinen ostkaribischen Insel Grenada. Dort bildete sich 1969/70 um die Jurastudenten Maurice Bishop, Unison Whiteman und Kenrick Radix eine Gruppe, aus der sich später das New Jewel Movement (NJM) formierte. Dies wurde bald zur wichtigsten Opposition gegen den autokratischen Ministerpräsidenten Eric Gairy. Als die britische Regierung Grenada 1974 in die Unabhängigkeit „entlassen“ hatte, errichtete Gairy eine Diktatur mit ziviler Fassade. Mit der Momgoose Gang schuf er eine paramilitärische Schlägertruppe, die die Opposition terrorisierte.
Als Gairy 1979 anlässlich der UN-Vollversammlung in New York weilte, stürmten Mitglieder der NJM in der Nacht zum 13. März die einzige Kaserne der Insel. Über den ebenfalls besetzten nationalen Radiosender verkündete Maurice Bishop morgens den Sturz Gairys und die Bildung einer revolutionären Volksregierung. Er forderte die GrenadinerInnen auf, alle strategischen Orte der Insel zu besetzen, um einen Gegenschlag von Gairys Leuten zu verhindern. Mehr als 10 000 Menschen folgten seinem Aufruf und machten aus dem nächtlichen Handstreich eine wirkliche People’s Revolution.
Aus den Aktivisten der NJM wurden Regierungsmitglieder, Maurice Bishop übernahm das Amt des Premierministers. Alle waren sehr jung und unerfahren: Bishop war 35 Jahre alt, Landwirtschaftsminister George Louison gerade mal 27. Ihr Ziel war ein modernes Grenada, was nichts Geringeres bedeutete als die Überwindung der Plantagenökonomie, die das Leben über Jahrhunderte geprägt hatte. Das Land exportierte einige wenige Agrargüter (zunächst Zucker, später Gewürze, Kakao und Bananen) und importierte alles, was gebraucht wurde. Damit sollte Schluss sein: Die Agrarprodukte sollten zumindest teilweise auf der Insel verarbeitet werden: Früchte zu Marmeladen und Säften, Gewürze zu Soßen und Chutneys, Kokosnüsse zu Öl, Holz und Kokosfasern zu Möbeln und Kunsthandwerk. Dazu wurden staatliche Betriebe aufgebaut, aber auch Kredite an private Betriebe und Genossenschaften vergeben.
Ein spezielles Programm unterstützte arbeitslose Jugendliche beim Aufbau von Kooperativen in der Landwirtschaft oder im Dienstleistungsbereich. Das Privateigentum wurde garantiert, nur die Betriebe Gairys und seiner Günstlinge, die das Land verlassen hatten, wurden verstaatlicht oder den Beschäftigten als Genossenschaften übergeben.
Anstelle von Wahlen wurde ein System der People’s Participation (Volksbeteiligung) etabliert. Bürgerversammlungen, zunächst auf Gemeinde- und Landkreisebene, sollten ein System direkter Demokratie schaffen. 1982 wurde erstmals ein partizipativer Haushalt verabschiedet. Die verschiedenen Ministerien erstellten einen Entwurf, welche öffentlichen Investitionen in ihrem Bereich getätigt werden sollten. Diese wurden landesweit auf den BürgerInnenversammlungen diskutiert. Die Leute konnten für ihre Gemeinde oder ihren Landkreis Gegenvorschläge machen und die Haushaltsprioritäten verändern. Dieses Modell wurde ein Jahrzehnt später in südamerikanischen Großstädten wie Porto Alegre (Brasilien) oder Montevideo (Uruguay) von linken Kommunalregierungen aufgegriffen und weiterentwickelt. Inzwischen gibt es auch in Europa Versuche, BürgerInnenbeteiligungen bei der Erstellung von Kommunalhaushalten zu praktizieren.
Die NJM spielte nach 1979 im Alltag keine große Rolle mehr. Die Führungsleute waren Regierungsmitglieder geworden und hatten sich weitgehend aus der Partei zurückgezogen, die zunehmend zur Spielwiese einiger Sektierer wurde. Die Identifikation mit der Revolution lief über die Regierung, vor allem über Maurice Bishop. Er war der geniale Kommunikator, der wusste, wie er die Leute ansprechen und begeistern konnte. Seine Popularität war immens, auch bei vielen, die der Revolution eher kritisch gegenüberstanden.
Was brachte die Revolution den Leuten? In jeder Gemeinde wurde erstmalig ein Gesundheitszentrum aufgebaut, wo eine Krankenschwester fest angestellt war und ÄrztInnen regelmäßig Sprechstunden abhielten. Diese Angebote waren kostenlos. Dies war nur möglich durch die Präsenz cubanischer ÄrztInnen, denn die wenigen grenadinischen Mediziner betrieben weiterhin ihre Privatpraxen, wo sie nur zahlungsfähige PatientInnen gegen Geld behandelten. Fortschritte gab es auch im Bildungswesen. Neue Schulen wurden gebaut und eine Alphabetisierungskampagne durchgeführt.
Wirtschaftlich standen sich viele Leute besser. Die Arbeitslosigkeit ging zurück, vor allem durch öffentliche Programme. Die gab es sowohl für Projekte, die geeignet waren, dauerhafte Arbeitsplätze zu schaffen, wie die erwähnten Kooperativen, als auch für kurzfristige Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, etwa im Bau und der Ausbesserung von Straßen und öffentlichen Gebäuden. Verschiedene Grundnahrungsmittel wie Mehl, Zucker oder Öl wurden deutlich billiger. Dies wurde zum einen durch Subventionen erreicht, zum anderen durch die Gründung einer staatlichen Import- und Vermarktungsgesellschaft, die die Waren en gros importierte und über öffentliche Läden kostengünstig anbot.
Außenpolitisch war die Lage schwierig. Die Regierung Reagan in den USA stellte Grenada auf die gleiche Ebene wie das sandinistische Nicaragua und verfolgte von Anfang an das Ziel, die Revolution zu eliminieren. Der Bau eines internationalen Flughafens wurde als Errichtung eines cubanischen Stützpunktes denunziert. Dabei war er schon lange vor der Revolution geplant worden. Grenada hatte nur eine Landebahn für sehr kleine Maschinen. Ein größerer Flughafen, über den Nachbarinseln wie Barbados oder St. Lucia schon länger verfügten, war die Voraussetzung für jeglichen Ausbau des Tourismus, auf den auch die Revolutionsregierung setzte. Die Feindseligkeit der Reagan-Administration lag maßgeblich in der Ausstrahlung der Revolution auf die karibischen Nachbarstaaten und auch auf die Schwarzen in den USA selbst begründet.
Die Regierung Bishop versuchte außenpolitisch Bündnisse in verschiedene Richtungen einzugehen, um die Revolution abzusichern. Es gab enge Beziehungen zu Cuba und zur UdSSR, aber auch zu Kanada und verschiedenen westeuropäischen Ländern. Unterdessen bildete sich – von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen – in der NJM, die nicht einmal hundert Mitglieder zählte, eine Opposition gegen den Premierminister. Sie forderte einen beschleunigten Übergang Grenadas zum Sozialismus und eine verstärkte Kontrolle der Wirtschaft durch die Arbeiterklasse. Unter „Arbeiterklasse“ verstand sie sich offensichtlich selbst, denn auf der Insel ohne Industrie und einer überwiegend kleinbäuerlichen Landwirtschaft gab es kein nennenswertes Proletariat und erst recht keines, das Bishop absetzen wollte. Die kleine, vorwiegend im Dienstleistungsbereich (Hafen, Handel, Gesundheits- und Bildungswesen) verankerte Gewerkschaftsbewegung stand hinter der Regierung.
Weil sie sich der Popularität Bishops bewusst waren, verlangten seine KritikerInnen eine „kollektive Führung“ der Revolution. Als Bishop darüber die Organe der People’s Participation befragen wollte, stellten sie ihn am 14. Oktober 1983 unter Hausarrest. Am 19. Oktober wurde er von tausenden AnhängerInnen befreit. Daraufhin griffen seine GegnerInnen, die die Armeeführung hinter sich hatten, zur Gewalt: Am 19. Oktober 1983 töteten sie Maurice Bishop und seine engsten Vertrauten sowie zahlreiche unbeteiligte BürgerInnen, insgesamt 17 Menschen. Ein Militärrat übernahm die Macht in Grenada. Am Tag nach dem Putsch gegen Bishop nahmen US-Schiffe Kurs auf Grenada. Als Begründung gab die Regierung Reagan an, die Sicherheit der US-StaatsbürgerInnen auf der Insel sei nicht mehr gewährleistet. Am Morgen des 25. Oktober begann die Invasion. Zunächst bombardierten Flugzeuge, Hubschrauber und Kriegsschiffe die wenigen Stellungen der Streitkräfte Grenadas und die Unterkünfte der cubanischen Bauarbeiter am neuen Flughafen. Später durchkämmten Bodentruppen die Dörfer und Wälder nach Angehörigen der Armee. Als die US-Marines die Insel unter Kontrolle hatten, wurden die „verbündeten Truppen“ der anderen Karibikstaaten eingeflogen.
Die Besatzungstruppen setzten eine Übergangsregierung ein, die sich darauf konzentrierte, die Projekte der Revolution zu zerstören. Die Verwaltung wurde von RevolutionärInnen gesäubert, die öffentlichen Betriebe wurden geschlossen, Kooperativen und sozialen Projekten wurde der Geldhahn zugedreht. Dagegen blieb der von vielen GrenadinerInnen erwartete Dollarsegen aus. Die US-Entwicklungshilfe floss spärlich, in der neu errichteten „Freien Produktionszone“ wollten trotz zugesagter Steuer- und Gewerkschaftsfreiheit kaum US-Unternehmen investieren, war doch das Lohnniveau in Ländern wie Honduras oder Haiti deutlich niedriger.
Natürlich gab es bald „freie Wahlen“, die die konservative Grenada National Party mit massiver Unterstützung der Besatzungsmacht gewinnen konnte. Seitdem wechseln sich in Grenada liberale und konservative Regierungen ab, die Wirtschaft dümpelt dahin, die meisten jüngeren GrenadinerInnen sind arbeitslos. Während es in den Jahren 1979 bis 1983 eine ungeheure Aufbruchstimmung gab und viele Jugendliche eine Zukunft auf ihrer Insel sahen, haben sie heute meist nur ein Ziel: sobald wie möglich in Richtung USA, Kanada oder Großbritannien abzuhauen.
Die prominentesten Revolutionäre wurden beim Putsch getötet, die Überlebenden verließen nach der Invasion die Insel, weil sie keine Chance mehr hatten, irgendeinen Job zu bekommen. Der Versuch des Aufbaus einer neuen linken Partei in der Tradition der Revolution, das Maurice Bishop Patriotic Movement, hatte keine ausreichende Basis und wurde schließlich aufgegeben. Von der Revolution blieb nur die Erinnerung. Wenigstens die sollten wir bewahren.