Hat Sie das zögerliche Vorgehen der cubanischen Regierung angesichts der Pandemie überrascht?
Die späte Schließung der Grenzen, die erst am 20. März 2020 angekündigt und ab dem 24. März in Kraft ist, kommt relativ spät. Allerdings haben die Fluglinien mit ihren Stornierungen für den gleichen Effekt gesorgt. Was mich überrascht: dass die Schulen bisher nicht geschlossen wurden. Das kann ich nicht nachvollziehen.
Das haben die Behörden am 23. März nachgeholt: Seit dem 24. März wird nicht mehr unterrichtet. Aber ist es nicht ein merkwürdiges Signal, dass das Tourismusministerium noch am 14. März Cuba als sicheres Reiseland bewarb?
Natürlich darf man nicht vergessen, dass der Tourismus ein wichtiger Devisenlieferant ist. Da gibt es unterschiedliche Interessen, die finanzielle Krise spielt sicher auch eine Rolle und die hat sich durch die Sanktionen der USA gegen Cuba und Venezuela verschärft. Cuba lebt von der Hand in den Mund – es ist eine Überlebenswirtschaft. Die wird jetzt mit einem Virus konfrontiert, der die Weltwirtschaft in Atem hält.
Droht Cuba eine neue Spezialperiode, wo alles knapp werden wird wie in den 1990er-Jahren?
Ja, allerdings ist der Rahmen heute ein anderer. Cuba ist anfällig für Krisen, hat keine Rücklagen wie andere Länder, sieht sich einer Sanktionspolitik der USA gegenüber, die die Ökonomie der Insel stranguliert, und das Coronavirus stellt die Regierung vor neue Probleme: Wie sollen Lebensmittel und Medikamente, die im Ausland bezogen werden, bezahlt werden?
Cuba bewegt sich seit drei, vier Jahren am Rande der Zahlungsfähigkeit. Was sind die wichtigsten Ursachen?
Es gibt wenige Länder, die so viele Krisen in kurzer Zeit überstanden haben: In den 1970er Jahren war es die Schweinegrippe, in den 1980ern folgte der Zusammenbruch des sozialistischen Lagers mit der Período Especial, der Sonderperiode in Friedenszeiten. Derzeit sind es die Sanktionen der USA und die Krise in Venezuela, die die cubanische Ökonomie in eine Schieflage bringen. Grundsätzlich sind die Cubaner*innen Krisen gewohnt, gehen damit etwas ruhiger um.
Droht Cuba trotz der erfolgreichen Umschuldung mit dem Pariser Club (2015), mit Russland und anderen Ländern erneut den Zugang zum internationalen Finanzmarkt zu verlieren?
Cuba konnte jüngst die fällige Rate an die Mitglieder des Pariser Clubs, eine Vereinigung staatlicher Gläubiger, nicht bezahlen und hat um einen Aufschub bis Mai gebeten. In der derzeitigen Situation wird Cuba nichts, aber auch gar nichts bezahlen können. Das hat Folgen, denn in der Branche spricht sich schließlich herum, dass Lieferanten nicht oder nur teilweise bezahlt werden, dass Mittel internationaler Investoren umgelenkt wurden – Cuba ist auf dem internationalen Kapitalmarkt ein Risikoland. Als potenzielle Geldgeber kommen nur befreundete Staaten wie Russland oder China in Frage. Aber diese Länder haben auch ihre eigenen Probleme. Cuba wird sicher etwas Geld bekommen, aber zu erhöhten Zinssätzen und es wird schlicht nicht viel sein; 2015/2016 war das noch anders. Heute ist das Risiko sehr hoch, denn es wird dauern, bis sich der Tourismus wieder erholt. Vorausgesetzt, die Welt bekommt das Virus in den Griff.
Wo gibt es ökonomische Potenziale: In der Pharmazie oder bei den weißen Kitteln?
Diese beiden Sektoren haben Perspektiven. Bei den Medikamenten hat Cuba Interferon alpha 2b, das in China auch in der Therapie von Covid-19-Patient*innen eingesetzt wurde, aber auch einige andere Präparate zu bieten. Ärzt*innen und Pflegepersonal sind ohnehin die wichtigste Dienstleistung, die Cuba anbietet. Sie helfen im Ausland und werden dafür bezahlt, in Westafrika ebenso wie in Haiti oder Venezuela. Potenzielle Mehreinnahmen werden meiner Meinung nach zwar nicht den Tourismusausfall kompensieren, aber jeder US-Dollar zählt.
Wie tragfähig ist Cubas Gesundheitssystem?
Es ist flächendeckend präsent, die Leute sind gut qualifiziert, das System ist auf Prävention ausgerichtet, aber es verfügt nur über wenige Ressourcen. Das ist heute noch viel mehr der Fall als früher. Wir werden sehen, ob das reicht, um die Verbreitung des Virus zu stoppen.
Venezuela hat beim Internationalen Währungsfonds erfolglos um einen Kredit gebeten. Steht die Möglichkeit Cuba auch offen?
Venezuela ist IWF-Mitglied, Cuba nicht und kann damit nicht um Kredite ersuchen. Das gilt im Fall Cubas für alle internationalen Finanzorganisationen, was die Kreditaufnahme erschwert.
Bedient Cuba seine Lieferanten noch oder werden die nur punktuell, per Salami-Taktik bezahlt?
Seit drei, vier Jahren in kleinen Tranchen, mal mehr, mal weniger, je nach den Beziehungen zum jeweiligen Land. Brasilianische Lieferanten haben derzeit schlechte Karten, andere bessere. Es hängt auch von der Wichtigkeit der Lieferungen ab. Zudem hat Cuba die Investitionen im Tourismus priorisiert – das wird sich in den nächsten Monaten ebenfalls rächen. Das ist eine andere bittere Seite der derzeitigen Realität.
Ein strategischer Fehler?
Präsident Miguel Díaz-Canel steht für Kontinuität, für langsame Reformprozesse, er konzentriert sich auf den staatlichen Sektor, forciert die Entwicklung im privaten Sektor nicht. Er setzt auf eine Strategie der Re-Dollarisierung der Wirtschaft wie in den 1990er-Jahren. Das ist kein sonderlich mutiges Konzept, um dem Binnensektor mehr Dynamik zu verleihen.
Was ist mit der Währungsreform – darüber wurde in den letzten Monaten vermehrt geredet?
Unter den derzeitigen Voraussetzungen ist nicht daran zu denken und sie wird nicht komplett sein, weil ein Teil der Wirtschaft dollarisiert wird. Es sieht eher nach dem Abschied vom CUC aus, von der harten Devisenwährung, mit einigen Wechselkursanpassungen. Das erinnert mehr an das Instrumentarium der 1990er-Jahre unter Fidel Castro. Wir bewegen uns im Kreis. Es fehlt Miguel Díaz-Canel an politischem Kapital: Die historische Generation kontrolliert die Partei und die Schlüsselpositionen, an ihr kommt er nicht vorbei. Aber eine Krisensituation wie diese könnte auch die Widerstände gegen Reformen ausräumen; das hatte schon in der Vergangenheit einen Katalysator-Effekt. Klar ist: Es gilt, die ökonomischen Potenziale der Insel zu aktivieren. Dazu hätte eine Konferenz wie „Nation und die Emigration“ beitragen können, die für Anfang April geplant war, mittlerweile abgesagt wurde und nachgeholt werden soll. Dort sollte mit den Auslandscubaner*innen gesprochen werden, auch über Investitionen auf der Insel. Die Optionen sind klar: mehr Freiräume für kleine und mittlere Unternehmen, auch in der Agrarwirtschaft, direkte Investitionen von Cubaner*innen aus dem Ausland und die Anerkennung von privaten Unternehmen als juristische Person – mit dem Recht, direkt zu importieren und auch zu exportieren.
Droht der Insel ein Bankrott?
Ja. Es wird erneut eine massive Krise mit grundlegenden Versorgungsproblemen geben.
Warum gab es keine neuen Reforminitiativen? Der Druck ist doch hoch.
Der Reformprozess in Cuba war immer komplex, stets gab es Widerstände, auf der konservativen Ebene der Partei, im Parlament und anderswo. Das führt zu einem sehr langsamen Prozess, das ist in den letzten Jahren der Regierung von Raúl Castro schon so gewesen. Es herrschte Stillstand. Und das ist unter Miguel Díaz-Canel nicht anders.
Welche Stellschrauben kann die Regierung jetzt drehen?
Auf internationaler Ebene muss Cuba weg von den prekären Minimallöhnen. Das gilt beispielsweise für die Löhne von Ärzt*innen und medizinischem Personal im Auslandseinsatz. Das Modell von „80 Prozent für den Staat und 20 Prozent für das cubanische Personal“ muss sich ändern. Das gilt auf internationaler Ebene und auch für die Angestellten im pharmazeutischen Sektor. Auf der nationalen Ebene muss der Binnenmarkt produktiver werden. Da gilt es mehr Freiräume für die privaten kleinen und mittleren Betriebe einzuräumen. Sie müssen den Status erhalten, selbst im- und exportieren zu können. Das ist elementar und ermöglicht Zugang zu Krediten, zu Investitionen. Die kleinen Unternehmen sind durchaus findig, beziehen Produkte direkt aus Panama oder Miami. Sie haben sich der Situation angepasst.