Es geht auch anders

Warum Uruguay bislang von der Corona-Pandemie weitgehend verschont geblieben ist

Am Wetter liegt es nicht. Seit Anfang Juni ist Winter am Río de la Plata. Es ist kühl und feucht, nach vorherrschender Expertise eigentlich die besten Voraussetzungen für die Verbreitung des Coronavirus. Diese „natürlichen“ Rahmenbedingungen können jedoch den tatsächlichen Verlauf der Pandemie ebenso wenig erklären wie oft zitierte demographische Faktoren. Die uruguayische Gesellschaft ist die älteste in Südamerika, die Anzahl der Personen, die zu einer „Risikogruppe“ gehören, entsprechend hoch. Ebenso ist der Urbanisierungsgrad so hoch wie in kaum einem anderen Land. Jedoch hat es bis dato in Uruguay bislang nur 850 bestätigte Infektionen gegeben (Stand: 19. Juni 2020). Lediglich 24 Menschen sind an der Erkrankung gestorben und bis auf eine Handvoll Personen gelten alle mittlerweile als „genesen“. Zum Vergleich: In Chile, dessen sozioökonomische Kennzahlen denen Uruguays ähneln, wurden – pro Kopf gerechnet – etwa fünfzigmal so viele Menschen infiziert. Bei den Todesfällen liegt das Verhältnis bei 1:30.

Der bisherige Erfolg lässt sich bis zu einem gewissen Teil mit dem Handeln offizieller Stellen erklären. Die uruguayische Regierung hatte sich frühzeitig auf das Szenario vorbereitet. Als Mitte März die ersten Fälle bekannt wurden, setzte sie umgehend einen ausgearbeiteten Aktionsplan um. Alle Schulen des Landes wurden geschlossen, Großveranstaltungen wie Konzerte, Theateraufführungen, Fußballspiele und Gottesdienste untersagt. Die Kliniken wurden auf einen Notbetrieb heruntergefahren, um Kapazitäten zu schaffen und Menschenansammlungen zu vermeiden, ebenso wurde der Publikumsverkehr in öffentlichen Verwaltungen auf ein Minimum reduziert. Shopping Malls mussten schließen und internationale Verkehrsverbindungen wurden sukzessive gekappt. Privatunternehmen wurden angehalten, alle Möglichkeiten des Home-Office zu nutzen, das Gastgewerbe mit strengen Auflagen belegt und die Polizei angewiesen, größere Ansammlungen aufzulösen. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern verhängte die Regierung allerdings keine generellen Ausgangsbeschränkungen, sondern baut bis heute auf die Einsicht der Bevölkerung. Lediglich Infizierte und deren Umfeld sowie Reisende aus „Risikogebieten“ müssen sich in eine Zwangsquarantäne begeben. Für den Rest gilt der Aufruf zur „freiwilligen Quarantäne“. Begünstigt durch die zentralstaatliche Verfasstheit des Landes gab es kaum Verzögerungen bei der einheitlichen Umsetzung der Vorgaben.

Neben diesen direkten Schritten zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus beschloss die Regierung eine Reihe von Maßnahmen, die die sozialen Auswirkungen der Pandemie­bekämpfung verringern sollen und durchaus ungewöhnlich für ein rechtes Parteienbündnis sind. Das nach dem Wahlsieg angekündigte Sparpaket liegt auf Eis, stattdessen wurden die Möglichkeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld ausgeweitet und Hilfen für den informellen Sektor beschlossen. Finanziert wird dies teilweise aus einem temporären Fonds, der sich unter anderem aus einer Sondersteuer speist, die auf hohe Einkommen im öffentlichen Dienst, Abgeordnetenbezüge und hohe Renten erhoben wird. Im Mai ordnete die Regierung zudem an, die Preise von über 80 Produkten des täglichen Bedarfs für drei Monate einzufrieren. Uruguay kommt auch zugute, dass zwar auch hierzulande die Arbeitslosigkeit gestiegen ist, die gesamtwirtschaftlichen Folgen jedoch vergleichsweise gering sind. Prognosen unter anderem der Weltbank besagen, dass die Wirtschaftsleistung des Landes 2020 um drei Prozent sinken dürfte, und damit fast nur halb so stark wie im Regionaldurchschnitt. Die Gründe dafür liegen in der – eigentlich problematischen – Wirtschaftsstruktur. Um es vereinfacht auszudrücken: Die Kühe fressen trotz Corona weiter und große Industriebetriebe mussten, in Ermangelung derselben, nicht geschlossen werden. All diese Aspekte und der bisherige Verlauf der Pandemie bescheren der Regierung zurzeit hohe Zustimmungswerte in Bezug auf das Krisenmanagement. Auch international erntet sie viel Zustimmung – von der WHO bis hin zu prominenten Einzelpersonen wie Mario Vargas Llosa.

Ob diese Zustimmung der Regierung jedoch langfristig nutzen wird, ist indes fraglich. Es gibt viele Stimmen, die zwar die einzelnen Maßnahmen unterstützen, aber gleichzeitig der Koalition vorwerfen, sich mit fremden Federn zu schmücken. Es wird darauf hingewiesen, dass die Maßnahmen nur deshalb so erfolgreich gewesen sind, weil sie auf einer Infrastruktur basieren, die von den Vorgängerregierungen errichtet wurde – und wofür sie von den jetzt Regierenden oft Kritik einstecken mussten. Dazu zählt vor allem die in den vergangenen 15 Jahren mit Milliardenbeträgen vorangetriebene Modernisierung des öffentlichen Gesundheitswesens. In der aktuellen Situation erweist es sich als unbestreitbarer Vorteil, dass nicht nur die Kapazitäten und die Ausstattung der Krankenhäuser schrittweise verbessert wurden, sondern auch seit 2007 ein Gesetz in Kraft ist, das allen Menschen, die ihren Wohnsitz in Uruguay haben, den kostenlosen Zugang zum öffentlichen Gesundheitswesens garantiert.

Ferner zahlen sich auch die vergangenen staatlichen In­vestitionen im Bereich der Telekommunikation aus. Dass es bei der Umstellung vieler Verwaltungen und Dienstleistungs­firmen auf einen Home-Office-Betrieb keine Probleme gab, lag am modernsten Mobilfunknetz der Region. Und auch im Bildungsbereich konnte sich die Regierung auf eine besondere Infrastruktur stützen. In Uruguay bekommt seit Jahren jedes Schulkind auf Kosten des Staates ein Tablet beziehungsweise einen Laptop mit Lernsoftware und WLAN zur Verfügung gestellt. Ein Umstieg auf „Home Schooling“ für alle konnte dadurch – zumindest im technischen Sinn – mehr oder minder problemlos realisiert werden. Unterstützt wird dies zusätzlich von dem staatlichen Telekommunikationsunternehmen ANTEL, das seit Wochen stark verbilligte Sondertarife für den mobilen Datenverkehr anbietet. Wäre es nach dem Willen der uruguayischen Rechten gegangen, wäre ANTEL seit den 1990er-Jahren in privaten Händen.

Ebenso macht sich unter den momentanen Umständen besonders positiv bemerkbar, dass es in Uruguay nahezu keine extreme Armut mehr gibt. Zwar leben auch in der 1,4-Millionenstadt Montevideo fast zehn Prozent der Bevölkerung in Elendsvierteln, allerdings besitzen die meisten Menschen dort zumindest rudimentären Zugang zu sauberem Wasser, wodurch notwendige Hygienemaßnahmen sichergestellt scheinen. Zusätzlich gibt es hierzulande neben der bereits erwähnten Arbeitslosenversicherung auch eine Art Sozialhilfe, mit der weitgehend die Kosten für Grundnahrungsmittel und Hygieneprodukte abgedeckt werden. Zumindest kurzfristig ist die Zahl derer, die – in Umgehung aller Vorgaben – jede Art von Arbeit annehmen müssen um nicht zu verhungern, wesentlich geringer als in anderen Ländern der Region. Nicht zuletzt dadurch konnte bislang ein Überspringen der Infektionen von den Reichenvierteln (die auch in Uruguay der Ursprung der Pandemie waren) in die Elendsquartiere verhindert werden.

Einen wesentlichen Anteil an der bisherigen „Erfolgsgeschichte“ haben auch die uruguayische Bevölkerung im Allgemeinen und die sozialen Bewegungen im Besonderen. Viele sinnvolle Einzelmaßnahmen wurden von der Regierung erst auf „Druck von unten“ ergriffen. So ist es ein Verdienst der Baugewerkschaft SUNCA, dass nach Bekanntwerden der ersten Fälle an allen Großbaustellen die Arbeit eingestellt wurde. Zwar wird an ihnen mittlerweile wieder gearbeitet, jedoch erst nachdem sich Regierung und Gewerkschaften auf ein Sicherheitsprotokoll einigten, dessen Umsetzung permanent von SUNCA kontrolliert wird. Ein einwöchiger Streik, der einen Großteil der Schlachthöfe lahmlegte, hatte den gleichen Effekt, ebenso die Ankündigung der zuständigen Gewerkschaft, dass in jedem Betrieb, in dem eine Infektion auftreten würde, die Arbeit umgehend niedergelegt würde. Ebenso wird die angestrebte Wiedereröffnung der Schulen nur in Absprache mit den betroffenen Gewerkschaften umgesetzt. Alleingänge der Regierung würden andernfalls mit Streiks beantwortet. Bemerkenswert ist auch, dass die Wohnungsbaugenossenschaften erstritten, dass ein dreimonatiges Moratorium für die Rückzahlung von staatlichen Krediten verhängt und damit die finanzielle Belastung ihrer Mitglieder verringert wurde. Ferner gibt es eine Vielzahl von individuellen und organisierten Solidaritätsaktionen. In vielen Stadtvierteln Montevideos haben Nachbarschaftsinitiativen und politische Basisgruppen Ollas Populares (selbstorganisierte Suppenküchen) ins Leben gerufen, um die Ernährungssituation der marginalisierten Bevölkerung zu verbessern. Zudem haben mehrere Fußballvereine ihre Einrichtungen für Obdachlose geöffnet, damit sie deren Sanitäreinrichtungen nutzen können. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Auch wenn dieser Beitrag ein weitgehend positives Bild der Entwicklung in Uruguay zeichnet, ist er nur eine Momentaufnahme. Bis zur Drucklegung der ila kann sich die Situation auch verändern. Zumal die WHO davon ausgeht, dass der Höhepunkt der Pandemie in Südamerika erst bevorsteht. Vor allem die Grenzregion zu Brasilien gilt als problematisch. Dort gibt es mehrere bi-nationale Orte, deren Hauptstraßen die Staatsgrenze bilden. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Doppelstadt Rivera-Santana do Livramento, in der über 200 000 Menschen leben. Eine weitere Verschlechterung der Situation in Süd-Brasilien bliebe höchstwahrscheinlich nicht ohne Konsequenzen für Uruguay. Auch deshalb ist nicht zu erwarten, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie bald vollständig aufgehoben werden. Das politische Risiko für die Regierung, durch eine verfrühte Rückkehr zur „Normalität“ eine zweite und mutmaßlich stärkere Infektionswelle zu riskieren, erscheint zumindest im Moment noch zu hoch. Außerdem hat die Koalition ein weiteres Motiv, die Beschränkung noch aufrechtzuerhalten, das nicht unerwähnt bleiben soll. Vor dem Hintergrund eingeschränkter Möglichkeiten der Opposition und der sozialen Bewegungen zur Organisierung von Protesten kann sie im Moment relativ ungestört ein Gesetzespakt im Schnelldurchlauf durch das Parlament bringen. Dieses umfasst mehrere hundert Einzelgesetze vor allem im Bereich der Inneren Sicherheit und der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dessen negative soziale Folgen könnten unter Umständen gravierender sein als die Spätfolgen der Pandemie. Internationale Kritik an diesem bedenklichen Vorgehen gibt es indes nicht – weder von der WHO noch von Vargas Llosa.