Eine Sache der nationalen Sicherheit sei die Nahrungsmittelproduktion, hat Raúl Castro verlauten lassen und dabei wohl nicht eine US-Aggression vor Augen gehabt. 80 Prozent seiner Nahrungmittel importiert das Land und ist somit den internationalen Preisschwankungen extrem ausgeliefert. Rund 40 Prozent ihres Grundnahrungsmittelbedarfes erhalten alle Familien zu stark subventionierten Preisen, was den Staat rund eine Milliarde Dollar pro Jahr kostet, Tendenz stark steigend. Nun war die Produktion für den Eigenbedarf nie eine Stärke Cubas. Unter den Fittichen der USA und danach im Rahmen des sozialistischen Blocks stand die Herstellung von Zucker immer an erster Stelle, mit Zubrot durch Tabak und Meeresfrüchte. Der Großteil der Nahrungsmittel wurde importiert und die großflächige lokale Produktion hing stark von importierten Zutaten ab. Der Zusammenbruch des sozialistischen Blocks schloss nicht nur einen Markt, der Zucker zu fairen und stabilen Preisen kaufte, sondern auch den Importhahn. Felder ohne Dünger, Traktoren ohne Diesel, Tiere ohne Futtermittel, Campesinohände ohne Macheten – die Nahrungmittelproduktion implodierte und König „Marabú”, ein gegen fast alles resistenter Dornenbusch, begann das Land zu überziehen. Mehr als die Hälfte des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens ist derzeit nicht bewirtschaftet.
Parallel dazu und aus purer Notwendigkeit verwandelte sich Cuba in das weltweit größte Experiment biologischer Landwirtschaft. Viele trauern nach wie vor der Chemie nach, auch in Universitäten, Forschungsinstituten und Ministerien. „Aber bei grad mal acht Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche, für die wir chemische Mittel zur Verfügung haben, muss die Priorität doch auf den 92 Prozent liegen, die biologisch angebaut werden”, so ein Agrartechniker. Tausende von KleinproduzentInnen haben ihre Option klar. Die biologische Produktion mit Ochsengespannen hat ihre Abhängigkeit von Faktoren, die sich ihrer Kontrolle entziehen, stark vermindert. Sie verfügen über angepasste Pflüge, Saatfarmen und Labors für biologische Schädlingsbekämpfung in fast jeder Gemeinde, lassen Regenwürmer Humus für ihre Felder produzieren und ihre solide Bildung erlaubt es ihnen, Neuerungen leichter umzusetzen als anderswo. Zehntausende bekennen sich zur Bewegung „de campesino a campesino” (von ProduzentIn zu ProduzentIn), wo sie ihr Wissen ohne Profitgedanken und Patentansprüche teilen und weitergeben.
Vielen AusländerInnen ist nicht bekannt, dass im revolutionären Cuba nie weniger als 23 Prozent des landwirtschaftlichen Bodens in individuellem und kollektiven Privatbesitz waren. Diese rund 300 000 KleinproduzentInnen in Kooperativen – eine Person darf höchstens 65 Hektar Land besitzen – produzieren heute rund 60 Prozent der Nahrungsmittel im Land und einen Großteil des Tabaks, Kakaos und Kaffees. Diesen Campesinos/as bietet die neue Landwirtschaftspolitik neben politischer Anerkennung auch materielle Anreize. Vor einem Jahr wurden die Ankaufspreise für Milch und Rindfleisch drastisch erhöht und neu durch eine kleine Summe in „Devisenkaufkraft” ergänzt, die in speziellen Geschäften in Güter, vor allem für die Produktion, verwandelt werden kann. Ein Netz von Läden mit Gütern für die landwirtschaftliche Produktion soll dichter werden und in den Devisenläden auf dem Land sollen künftig neben Bier und Waschmitteln auch Arbeitskleidung und Werkzeuge im Angebot liegen.
Die staatliche Aufkaufsgesellschaft wurde an die Kandare genommen. Monatelange Zahlungsrückstände sind nun Ausnahme statt Regel und ein gegenseitig bindender Vertrag beinhaltet Verpflichtungen für beide Seiten und schafft Sicherheiten für die ProduzentInnen. In der Schweineproduktion hat dieser Ansatz zu Engpässen in den Schlachthöfen geführt. Nicht wenige Bauern und Bäuerinnen sind denn auch gar nicht besonders erpicht auf Direktvermarktung ihrer Überschüsse, die Zeit und Transport verlangt, und ziehen den sicheren und stabilen staatlichen Absatzmarkt vor.
Ganz still wurde es in der Bauernversammlung, trotz einer improvisierten Geburtstagsfeier, die mit mehrern Flaschen Rum begangen wurde, als das Wort „Land” fiel. Viele Bauern und Bäuerinnen haben sich mit den Jahren staatliches Land, das nicht bebaut wurde, angeeignet, vor allem um ihr Vieh darauf weiden zu lassen. Nun hängen sie dem Vertreter des Bauernverbandes förmlich an den Lippen. „Ganz ruhig bleiben”, sagt der, „diese Dinge brauchen ihre Zeit, aber hört nicht auf, dieses Land, das nicht euch gehört, zu pflegen.” Was er nicht gesagt hat, aber zu verstehen gab, ist, dass es ihnen bald gehören kann. In jeder Gemeinde wurde eine landwirtschaftliche Delegation eingerichtet. Eine ihrer zentralen Aufgaben ist es, die Bodenverhältnisse zu klären. „Wer mehr Land bebauen kann, wird mehr Land erhalten; wer kein Land hat und Land bebauen kann und will, der/die wird Land erhalten”, so der Präsident des Bauern/ Bäuerinnenverbandes ANAP, Lugo Fonte, der im Staatsrat die Interessen seiner Leute vertritt.
Über ihre Kooperativen dürfen die KleinproduzentInnen so viele ArbeiterInnen beschäftigen, wie sie benötigen, was sonst in Cuba nicht möglich ist, da der Ausbeutung von Menschen durch Menschen ein Riegel vorgeschoben werden soll. Ihrem Einkommen ist dabei keine Obergrenze gesetzt. Vor vier Jahren erhielt Rodrigo Staatsland zugeteilt. Für seine vier Hektar bezahlt er keinen Pachtzins. Er habe lange dafür kämpfen müssen, da er eine Beinverletzung habe und ihm nach einem Unfall nur noch ein Arm verblieben sei. Mit Tomaten, Mais, Bananen, Ziegen und anderem mehr geht es ihm wirtschaftlich so gut, dass er seine ausgebildeten Kinder in der Stadt unterstützt. Mit seinem Einkommen, das wir nach etlichem Nachfragen in etwa abschätzen können und das ein Vielfaches des Lohns des uns begleitenden Technikers ausmacht, wäre Rodrigo problemlos in der Lage, seine Frau in eins der teuren Strandhotels einzuladen, wie dies bereits nicht wenige Bauernfamilien getan haben. Kein Problem, sagt Raúl Castro dazu, dem legalen Einkommen durch eigene Arbeit soll keine Obergrenze gesetzt werden – eine halbe Stunde unter der prallen Mittagssonne räumen auch unsere letzten Zweifel diesbezüglich aus. Aber auch das ist keine Neuigkeit. Denn der Vater der städtischen Landwirtschaft, die über 300 000 Arbeitsplätze, vorwiegend für die intensive Gemüseproduktion, geschaffen hat, vertrat schon in den neunziger Jahren dieselbe Position, die wesentlich zur Massifizierung dieser Produktionsform beitrug, die den Großteil des nach wie vor ungenügenden Gemüseangebots für die städtischen Bevölkerung produziert.
Um stolze 24 Prozent ist die landwirtschaftliche Produktion Cubas im Jahr 2007 gestiegen. Dies trotz schwerer Überschwemmungen im November im Ostteil des Landes. Dabei ist allerdings zu beachten, dass 2006 ein absoluter Tiefpunkt erreicht wurde, der den wortkargen Raúl Castro anläßlich der Parlamentsdebatte zum Jahresabschluss zu einer heftigen Intervention bewegte. Die Tendenz im Jahr 2008 wird wegweisend sein, inwieweit die Maßnahmen zu greifen beginnen und sich das wirtschaftliche Wachstum auch auf dem Teller in jeder Wohnung bemerkbar macht, wie das Raúl Castro als Ziel formulierte.
Importsubstitution ist das Zauberwort und die Erhöhung des Angebotes in vielen Bereichen wird angesichts der hohen Importabhängigkeit wohl erst mittelfristig möglich. Jede Gemeinde soll soweit als möglich die Nahrungsmittel für den Eigenbedarf anbauen, ein Versuch, die Nahrungsmittelsouveränität soweit als möglich herzustellen und dabei Kosten zu sparen, die lokale Wirtschaft zu stärken und die Umwelt zu schonen. Weitere Reformen in der Landwirtschaft sollen folgen. Der bürokratische Überbau soll abgespeckt werden. Dabei geht es den oft ineffizienten landwirtschaftlichen Unternehmen an den Kragen, die nun von den ProduzentInnen frei gewählt und unter Vertrag genommen werden können. Auch die surrealistische Parallelität zwischen Landwirtschafts- und Zuckerministerium (in einem Land, das kaum noch Zucker exportiert) sollte bald der Vergangenheit angehören. Vieles ist im Umbruch, doch der Horizont, gesunde und erschwingliche Nahrungsmittel für die Bevölkerung zu produzieren, wird nicht aus den Augen verloren.
Raúl Castro hat deutlich ausgesprochen, was die Leute längst wissen. Der Lohn reicht nicht. Auf rund ein Viertel seiner Kaufkraft in den 80er Jahren geschrumpft, zwingt er die Leute zu vielen Überlebensstrategien, um legale und auch weniger legale Nebeneinkünfte zu erzielen. Denn dem Durchschnittslohn von 408 Pesos stehen Lebenshaltungskosten von über 1000 Pesos für eine Familie gegenüber. Aber Lohnerhöhungen kann es nur dann geben, wenn auch mehr produziert wird, so Raúl, denn niemand könne auf die Dauer mehr ausgeben als einnehmen (außer die US-Regierung mit ihrer grünen Notenpresse).
Die massive Verbesserung des Transportwesens vor allem in Havanna ist dafür ein wichtiger Schritt. Die Leute kommen weniger gestresst und abgehetzt an den Arbeitsplatz und die Rückreise – ja Reise – an den Wohnort ist nicht mehr derart aufreibend. Die Rückbesinnung auf die reale Produktion als Fundament für grundlegende soziale Dienste (Gesundheit, Bildung, Rentenwesen, Sozialarbeit) bedeutet, diese vermehrt anzukurbeln, weil ansonsten den neuen Gesundheitszentren und den renovierten Spitälern die materielle Grundlage fehlt. Im Juni wurde die gesetzliche Grundlage geschaffen, um den ArbeiterInnenlohn entsprechend der Produktivität zu erhöhen, und zwar ohne Obergrenze, aber mit garantiertem Basisgehalt. Die Saläre der Kader sind weiterhin an die Betriebsproduktivität gebunden und begrenzt. Im Dienstleistungsbereich soll Qualität über Zusatzeinkommen entscheiden, wobei noch unklar ist, wie diese gemessen werden soll. Wie sich diese im Juni eingeführte Maßnahme auf die Produktion und Produktivität auswirken wird, werden die kommenden Monate zeigen, denn Rohstoff- und Ersatzteilmangel, Bürokratie und andere Hindernisse sind damit ja noch lange nicht überwunden.
So sind denn Mobiltelefone, DVDs und Computer für viele kein sooo wichtiges Thema. Der Hotelzugang hat dagegen – Kaufkraft hin oder her – Symbolcharakter, da die Hotels ja während der ersten 30 Jahre der Revolution mehr oder weniger allen real zugänglich waren und dies eine der Errungenschaften des sozialen Prozesses war. Mit großem Interesse werden außerdem Änderungen erwartet, mit denen Reisen erleichtert werden sollen. Dabei geht es vielen gar nicht darum, das Land zu verlassen, sondern zum Beispiel Familienangehörige besuchen zu können. Weitere kritische Punkte sind der Wohnungsbau, -besitz und -tausch sowie der Kauf und Verkauf von Privatautos.
Bemerkenswert, dass diese Veränderungen von der alten Generation in Angriff genommen werden, deren Ablösung aus biologischen Gründen auf der Tagesordnung steht, wie immer wieder unterstrichen wird. Es ist anzunehmen, dass der Kongress der Kommunistischen Partei, der für Ende 2009 angekündigt wurde, diesen Prozess entscheidend vorantreiben wird. Die Resultate der davor stattfindenden Kongresse der Frauenorganisation und der Bauern- und BäuerInnenorganisation werden dafür ein Gradmesser sein.