„Fragil“ ist ein Geschenk von Shak und Mr. Letta an das Hostel Las Mariposas in Las Galeras, einem Fischerdorf an der Atlantikküste in der dominikanischen Provinz Samaná. Shak und Mr. Letta sind die Künstlernamen der zwei Grafiteros, die zusammen mit mehreren Bandmitgliedern und einer Videoproduzentin der dominikanisch-haitianischen Bewegung Azueï im Juni 2019 nach Las Galeras gekommen sind. Insgesamt gibt es um die 20 Graffiti-künstler*innen in der Bewegung. Die Hälfte von ihnen arbeitet in Haiti, die andere Hälfte in der Dominikanischen Republik und sie kommen zusammen, um gemeinsame Projekte zu realisieren. Die gesamte Künstler*innenbewegung umfasst etwa 50 Personen, die in unterschiedlich großen Gruppen Städte bereisen, Konzerte und Musikunterricht geben, Graffiti und Murales (Wandbilder) sprayen und Videos produzieren. Azueï hat eine Botschaft: Frieden, Harmonie und Respekt zwischen den beiden Völkern auf der Insel Quisqueya. „Quisqueya“, das ist wie „Ayiti“ eine indigene Bezeichnung für Hispaniola, die Karibikinsel, die sich Haiti und die Dominikanische Republik teilen.
Insgesamt sind 22 Mitglieder von Azueï für eine Woche nach Las Galeras gereist: Haitianer*innen, Dominikaner*innen und Europäer*innen. Die Bewegung wurde vom Bürgermeister von Las Galeras eingeladen und die Band nimmt dort ihr erstes Album auf, das mit Songs auf Spanisch, Englisch und Kreol erscheinen wird. Tagsüber werden die Wandbilder erstellt, nachmittags erhalten die Kinder und Jugendlichen aus dem Dorf Musikunterricht. Abends schließlich findet vor dem Hintergrund des Sonnenunterganges am Strand ein Konzert statt. Die multinationale Band singt Songs in den drei Sprachen des Albums. Ein ebenfalls multinationales Publikum schunkelt, springt, tanzt und singt bis zum letzten Atemzug. Die Botschaft dieses Konzerts wird mehrfach wiederholt: Es soll gemeinsam gefeiert, gelacht, gesungen und getanzt werden. Und es sollen Frieden, Harmonie, Respekt und ein Bewusstsein auf beiden Seiten der Insel aufgebaut werden, sowohl zwischen den verschiedenen Kulturen als auch zwischen den Menschen und der Natur.
„Was sie durch die Musik vermitteln, vermitteln wir durch diese Murales“, erzählt Mr. Letta, während er auf Shaks Wandbild der vier Elemente an der Hauptstraße zeigt. Graffitis entspringen der großstädtischen Jugendkultur der 60er-Jahre in den USA. Wie auch in der Bewegung Azueï arbeiteten die Jugendlichen in den US-amerikanischen Großstädten in multiethnischen Teams und begannen mit dem Besprayen von Untergrundzügen, was sie writing („schreiben“) nannten. Graffitikünstler bringen Schriftzüge wie ihren Namen zumeist illegal an Wänden im öffentlichen Raum an. Ihre Kunst wird oft kriminalisiert und hat eine kurze Überlebensdauer. Graffiti sind eine Form anarchischer Kunst, sie werden in einem Akt zivilen Ungehorsams erschaffen und gehören niemandem. Murales, die seit den 20er-Jahren zunächst in Mexiko und später in vielen lateinamerikanischen Ländern im öffentlichen Raum präsent sind, sind dagegen normalerweise Auftragsarbeiten und thematisieren zum Beispiel soziale Gerechtigkeit oder historische Ereignisse. Sie werden von öffentlichen Institutionen finanziert, gehören somit zum Gemeingut und entstehen oft in Gemeindearbeit zusammen mit Kindern und Jugendlichen.[fn]Vgl. Sam Beck (2015), „Urban Transitions: Graffiti Transformations“, in: Beck, Sam/Maida, Carl A., Public Anthropology in a Borderless World, S. 314-350[/fn] Shak und Mr. Letta sprayen sowohl Graffiti als auch Murales, mit denen sie öffentlichen Raum beanspruchen und symbolische wie auch politische Statements setzen.
Shak und Mr. Letta leben in Santo Domingo, haben sich beide bereits als Kinder zur Kunst hingezogen gefühlt und fanden schließlich ihre Erfüllung im Sprayen. Während Shak professioneller Graffitikünstler und Tätowierer ist, arbeitet Mr. Letta als Grafikdesigner und studiert Architektur. Der eine ist seit vier Jahren in der Bewegung Azueï aktiv, der andere seit zwei Jahren. Die Künstler*innenbewegung selber wurde im August 2015 am gleichnamigen See Azueï, der einen Teil der Grenze zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik bildet, gegründet.
„Azueï“ ist ebenfalls ein indigener Name und entspringt der Taíno-Kultur. Für die Bewegung ist er Programm: Zum einen zeigt der See Azueï als Bindeglied der beiden Staaten seit über zehn Jahren mit seinen Überflutungen auf, dass die Grenze zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik keine natürliche, sondern von Menschenhand konstruiert ist. Zum anderen bewohnten die Taíno nahezu fünf Jahrhunderte lang beide Seiten der Insel und vereinten sie wie der See. Die Taíno[fn]Für mehr Informationen zu den Taíno siehe Samuel M. Wilson (1990), Hispaniola. Caribbean Chiefdoms in the Age of Columbus[/fn] waren ein zu den Arawak gehörendes indigenes Volk, dessen Lebenszyklus nach der Ankunft von Christoph Kolumbus und seinen Gefährten 1492 ein Ende fand. Die Taíno wurden von den spanischen Kolonisatoren brutal unterworfen und durch Zwangsarbeit, Verfolgung und Krankheiten nahezu vollständig vernichtet. Bereits 25 Jahre nachdem Kolumbus die Insel Hispaniola betreten hatte, waren über 90 Prozent der etwa eine Million Taíno ausgerottet. Gegenwärtig ist das indigene Volk im kollektiven Gedächtnis der Insel kaum mehr präsent. Heutzutage gibt es wenig Forschung zu ihrer Kultur, ihre Höhlenmalereien werden von Minenbetreibern bedroht oder ungeschützt dem Verfall überlassen.
„Ich verwende oft Taíno-Motive, damit diese Kultur nicht in Vergessenheit gerät. Die Taíno lebten mit der Natur und nicht in ihr. Sie schätzten und bewahrten sie“, schildert Shak mit einer Spraydose in der Hand. Wir stehen an der Hauptstraße von Las Galeras vor seinem Mural in kräftigen und leuchtenden Farben. Das Wandbild erstreckt sich über mehrere Meter und befindet sich in den letzten Zügen der Fertigstellung. Es zeigt die vier Elemente: Wasser, Erde, Luft und Feuer, repräsentiert durch Wellen, Pflanzen, einem lachenden Kindergesicht und einer Taíno-Maske.
„Ich male gerne Kinder, weil sie die Zukunft sind und weil sie vielleicht einmal alles entscheidend verändern werden“, erklärt Shak. Kinder, hauptsächlich Mädchen, und Frauen sind die Protagonist*innen der beiden Künstler. Dabei spielt die Afro-Kultur, lo negro („das Schwarze“) für sie eine entscheidende Rolle, denn es sei genau das, was ihr Volk phänotypisch und kulturell ausmacht. Das afrikanische Erbe verbindet Haiti und die Dominikanische Republik und ist ein wichtiger Identitätsfaktor. Die öffentliche Kunst des Graffiti und des Mural ist für Shak ein Medium, um eine Botschaft auf die Straße zu bringen und mit den Menschen zu interagieren. Das, was er an seiner Arbeit am meisten liebt, ist die Kommunikation mit den Passant*innen. Sie bleiben stehen, betrachten die Wandbilder neugierig, interessiert, kritisch, sprechen ihn an und stellen Fragen. Die beiden Künstler erhalten fast ausschließlich positive Reaktionen auf ihre Straßenkunst. „Das gibt mir ein gutes Gefühl, denn es ist ja für sie. Ich gehe von hier weg, aber ich lasse das zurück und es ist schön, dass sie sich daran erfreuen können“, beschreibt Mr. Letta. Die Kunst habe eine „universale Sprache“, selbst wenn man nicht wisse, wie und warum ein Mural entstanden ist, würde es einem durch die Farbkombination oder die verwendeten Elemente trotzdem etwas vermitteln. Man gehe daran vorbei, man schaue es an und es könne „einem den Morgen erhellen“. Dies sei neben der Botschaft, die sie mit ihrer Kunst übermitteln wollen, ein Ziel der beiden Grafiteros.
Wichtige Themen für die beiden und die gesamte Bewegung sind der Nationalismus, die mentale Trennung und die politischen Spannungen zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik. Shak und Mr. Letta erklären, dass die Beziehungen zwischen den beiden Ländern historisch kompliziert sind und dass es keine Harmonie zwischen den beiden Völkern gibt: „Ich glaube, dass dies fast ohne Zweifel die Verantwortung der Politik und nicht die der Bürger ist. Denn von oben, aufgrund nicht ganz klarer Beweggründe, wollte man diese Trennung oder diesen Konflikt über die Jahre beibehalten“, erläutert Mr. Letta. Getrennt wurden die beiden Teile der Insel zuerst durch die Kolonialmächte Spanien und Frankreich.[fn]Für weitere Informationen zur Geschichte Haitis siehe: Steeve Coupeau (2008) „The History of Haiti“, London: Greenwood Press[/fn] Im Vertrag von Rijswijk 1697 gestand Spanien Frankreich den westlichen Teil der Insel zu, der zur Kolonie Saint-Domingue wurde. Im Jahr 1804 wurde Saint-Domingue durch eine Sklavenrevolution der erste Staat Lateinamerikas, der seine Unabhängigkeit erlangte. Die neue Republik nannte sich Haiti, eine Bezeichnung der Taíno für die gesamte Insel. Der Preis dieser Unabhängigkeit war jedoch hoch: Haiti wurde zu einer internationalen Bedrohung für die weiteren Kolonialmächte, die in ihren Kolonien Nachahmungseffekte befürchteten. Der neue Staat sah sich aus diesem Grund mit einer ökonomischen und politischen Isolation konfrontiert und musste sich 1825 verpflichten, Frankreich 150 Millionen Franken für die Anerkennung der Unabhängigkeit zu zahlen. Dies blockierte die ökonomische Entwicklung des Landes und als Haiti 1938 die letzte Kreditrate beglich, befand es sich aufgrund der Zinslast bereits in den Händen US-amerikanischer Banken.
1822 wurden beide Teile der Insel unter dem haitianischen Präsidenten Jean-Pierre Boyer zusammengeführt, womit er die Sklaverei auch im spanischen Osten abschaffte. 1844 befreiten sich die Eliten des spanischem Teils von dieser Okkupation und erlangten die Unabhängigkeit. Die alten Grenzen wurden erneuert. Beide Länder waren seitdem wiederholt Interventionen und Okkupationen durch die USA ausgesetzt.
Sowohl die dominikanische Elite als auch die Besatzungsmacht USA befürworteten stets eine starke Grenze und zeichneten sich durch rassistische Vorurteile gegenüber der mehrheitlich schwarzen Nation Haiti aus. Diese Vorurteile und Stereotype wurden unter dem Diktator Rafael Leónidas Trujillo und seinem Nachfolger Joaquín Balaguer als anti-haitianische Ideologie und nationalistische Strategie in die öffentliche Meinung eingeführt.[fn]Hintzen, Amelia (2016): „A Veil of Legality. The Contested History of Anti-Haitian Ideology under the Trujillo Dictatorship“, in: New West Indian Guide 90, S. 28-54[/fn]
Daraus entstanden starke binationale Spannungen, die sich wiederholt in Gewalt entluden, was seinen Höhepunkt beim Massaker vom Oktober 1937 fand. Auf Anordnung des Diktators Rafael Trujillo wurden zwischen 10 000 und 20 000 haitianische Migrant*innen in der Dominikanischen Republik ermordet. Dazu kommen bis heute Massenabschiebungen von Haitianer*innen und Diskriminierung, wobei unter letzterer auch schwarze Dominikaner*innen leiden.
Die Künstler*innenbewegung Azueï möchte als Dialogplattform fungieren und die existierenden nationalistischen Diskurse und Vorurteile aufbrechen: „Hier hat die Mehrheit leider kein gutes Bild der Haitianer. Wir sehen sie als uns, den Dominikanern, unterlegen an. Wir sind auf einen Konflikt ausgerichtet, obwohl wir den haitianischen Compañero gar nicht kennen. Und vom Land haben wir den Eindruck, dass es das Schlimmste ist, dass es keine schönen Regionen oder ähnliches gibt. Alles ist Chaos dort in Haiti,“ schildert Mr. Letta. Shak bemerkt, dass auch die Haitianer*innen Vorurteile gegenüber den Dominikaner*innen haben. Diese würden allerdings hauptsächlich in der Annahme bestehen, dass alle Dominikaner*innen die Haitianer*innen diskriminieren und auf sie herabblicken würden.
Die nationalistischen Diskurse, die Abwehr des Anderen und die Vorurteile auf beiden Seiten können aber nach Meinung der beiden Künstler durch Kommunikation und Austausch aufgehoben werden: „Wenn sie mit einem Dominikaner reden und die Wirklichkeit von Grund auf kennenlernen, ändert sich die Mentalität. Aber wenn wir uns nicht kennenlernen, behalten wir die falschen Vorstellungen, die wir in den Köpfen haben“, meint Mr. Letta und fährt fort: „Genau das ist es, was wir verändern wollen. Wir wollen die beiden Nationen nicht vereinen oder so etwas ähnliches. Jede hat ihre Kultur, jede hat ihren Raum. Was wir aber wollen, ist Harmonie zwischen den beiden. Einfach nur das. Das kann erreicht werden.“
Erreichen will die Künstlerbewegung Verständnis und Harmonie zwischen den beiden Ländern durch Kunst und Kultur, durch Murales und Musik: „Ich glaube, die Kultur ist eines der besten Dinge, mit denen man anfangen kann“, ist sich Mr. Letta sicher.
Die beiden Graffitikünstler wollen durch ihre Bilder das Positive vermitteln, was die beiden Kulturen ausmacht, und die guten Erfahrungen reflektieren, die sie in der dominikanisch-haitianischen Zusammenarbeit erleben. Als Mr. Letta für ein Graffiti-Festival nach Port-au-Prince in Haiti fuhr, lud er Fotos von den Orten hoch, die er im Nachbarland besuchte: „Die Leute waren überrascht, wie kann es sein, dass es in Haiti so etwas gibt? Es gibt wunderschöne Strände, es gibt Wälder. Wir waren in einer Region, die sogar ein wenig kalt ist, und normalerweise denkt man, dass es nur Hitze dort gibt. Ich zum Beispiel hatte auch keinen Konflikt mit einem Haitianer, niemand von uns. Zuerst dachten sie, ich sei Haitianer, wegen meiner physischen Erscheinung. Sie haben mich auf Kreol angesprochen und ich sagte: ,Nein, ich bin Dominikaner, ich verstehe nichts’ und sie nur so: ,Wie kann das sein?’“ Die fehlende gemeinsame Sprache wurde durch die universale Sprache der Kunst und das Streben nach den gemeinsamen Zielen des Friedens und der Völkerverständigung kompensiert: „Fast ohne Worte konnten wir uns verstehen. Fast so als würden wir die gleiche Sprache sprechen, obwohl wir nicht verbal kommunizierten. Also gibt es da etwas, es gibt eine Magie.“