Es gibt keine Regel

Herr Guttentag, Sie sind 1920 in Breslau geboren worden und hatten schon mit 12 Jahren Kontakt zur FDJJ (Freie Deutsch-Jüdische Jugend). Wie kam es denn dazu?

Meine Eltern waren überhaupt nicht religiös. Mein Vater ging nur an großen Feiertagen mit mir in den Tempel. Meine Mutter ist überhaupt nicht in den Tempel gegangen. Auch hier in Bolivien nicht, aber jeden Freitag Abend hat sie Lichter angezündet. In der Volksschule, in der ich vier Jahre war, gab es gar keine Juden. Da wurde ich angepöbelt als der Judenjunge. Dann habe ich mit den Kindern bei uns im Haus gespielt, hab’ mich irgendwie mit denen gezankt und hab’ die als Christenlümmels beschimpft. Das war ja schon die Zeit der großen ökonomischen Krise und die Juden wurden angegriffen, weil das eine Möglichkeit war, um deren Stellungen oder deren Geld zu kriegen. So sah das aus. Ich ging dann aufs Gymnasium, aber nur drei Jahre. Ich war kein guter Schüler. Der Lateinlehrer, unser Klassenlehrer, kam in SA-Uniform in die Schule. Der hat mir aber privat, und ohne Geld zu nehmen, Privatunterricht gegeben. Es gibt keine Regel!
Zu der Gruppe, der FDJJ, kam ich 1932 als kleiner Junge. Die Gruppe hat einem all das gegeben, was das Elternhaus nicht geben konnte, Musik, Kultur und Literatur. In der Gruppe haben wir Jack London kennengelernt und Bücher aus dem Malik-Verlag. Das hat mich für mein Leben geprägt. Die Leute haben mir eine andere Welt mitgegeben, aber auch eine antizionistische Welt. Da kam die Einsicht, dass das Judenproblem nicht in einem Land oder durch einen Menschen gelöst wird, sondern durch die soziale Geschichte der Menschheit.

Hat sich die Breslauer Gruppe als kommunistisch verstanden?

Die Gruppe ist aus den „Kameraden“ entstanden. Die Kameraden[fn]In seinem Buch „Exil in der Heimat – Heim ins Exil“ beschreibt Ernesto Kroch (in Breslau in derselben Gruppe mit Werner Guttentag) die Spaltung des Wanderbundes Kameraden: „Die ‚Kameraden’ spalteten sich in drei Tendenzen: Erstens in eine zionistische, die den Ausweg in der Auswanderung nach Palästina und im Anschluss an die Kibbuzbewegung sah. (…) Zweitens in eine deutsch-nationale Richtung, die bereit war, den Trend zum Völkischen mitzumachen. Doch da ‚bereit sein’ nicht alles war, zerfiel dieser ‚Schwarzes Fähnlein’ genannte Bund, verstoßen und verboten von den bald an die Macht kommenden Nazis, deren Antisemitismus noch weit über deren Nationalismus ging. Die dritte Abspaltung ging nach links. Die ‚Freie Deutsch-Jüdische Jugend’ (FDJJ) sah im gemeinsamen Kampf mit den sozialistischen Bewegungen und Parteien Deutschlands den gebotenen Weg, zu verhindern, dass die Nazis an die Macht kämen, und sich für eine sozial gerechtere Gesellschaftsordnung einzusetzen. Die Bewegungen oder Parteien, denen sich die Mitglieder der FDJJ anschlossen, waren von Stadt zu Stadt verschieden… In Breslau war es die KPO, zu der sich die Gruppen der FDJJ wandten. Die ‚Kommunistische Partei Deutschlands/Opposition’ war eine Abspaltung der KPD. (…) Sie stand im Gegensatz zur offiziellen Taktik der KPD, die seinerzeit mit ihrer Charakterisierung der Sozialdemokratie als ‚Steigbügelhalter des Faschismus’ oder ‚Sozialfaschisten’ (…) eine gemeinsame Front gegen rechts erschwerte.“[/fn] haben sich politisch geteilt. Das ist bei der katholischen und der evangelischen Jugendbewegung auch passiert. Das ist übrigens was typisch Deutsches. Die Führer der FDJJ waren mit der KPO (Kommunistische Partei Deutschlands Opposition – die Red.) verbunden. Mit den Führern hatte ich noch ein bisschen Kontakt, aber mit denen in meinem Alter nicht. Außer mit dem Mädchen, über die später auch ein Roman erschienen ist. Sie ist erwischt worden, weil wir viel Literatur von der Tschechoslowakei nach Deutschland gebracht haben. Wenn ich mir das heute überlege: Wir haben zum Beispiel Silone (Igancio Silone, italienischer Schriftsteller – die Red.) rübergebracht. Wegen Silone konnte man damals ins KZ kommen! Das ist vollkommen irrsinnig, aber das war damals eine Riesenangelegenheit, Silone.
Die Hauptführer der Gruppe sind umgekommen. Einer ist entkommen, der ist dann nach Kolumbien gegangen. Viele sind im Gefängnis gelandet. Die Zeit war für mich viel zu kurz, aber sie war lang genug, dass was hängengeblieben ist für immer. Von heute aus sehe ich es als eine Illusion an, dass man mit so einer Gruppe Einfluss gegen all das nehmen konnte. Aber ich hab’ davon nichts verstanden, für mich war das damals Jugendbewegung und da habe ich alle positiven Dinge der Welt gesehen und die sind mir geblieben, in der einen oder anderen Form.

Sie sind 1935 in die Tschechoslowakei geflüchtet?

Ich hatte damals einen sehr guten Freund in der Jugendbewegung, mit dem ich Jahre befreundet war und zusammen gelebt habe. Wir sind illegal in die Tschechoslowakei gegangen, weil viele Leute verhaftet wurden und ins Zuchthaus kamen. Wir hatten Angst. Wir hatten an sich gar keinen Grund, wir waren ja politisch nur indirekt engagiert. Wir sind also über die Grenze in die Tschechoslowakei gegangen, naiv, wenn ich mir das so überlege, in kurzen Hosen sind wir da rübergelaufen. Der deutsche Zöllner hat uns über die Wiese gehen sehen. An Zurückgehen war also nicht zu denken. Auf der anderen Seite hat uns der tschechische Grenzposten empfangen und durchgelassen. Wir sind dann nach Prag getrampt. In Prag kamen wir mit kurzen Hosen an. Wir haben die Telefonnummer gehabt von einem Freund. Der sagte: „Um Gottes Willen, kommt nicht in die Stadt. Bleibt dort stehen in diesem Häuschen, wir kommen euch abholen“. Dann kam er und gab uns erstmal lange Hosen. Der Grund war folgender: In der Tschechoslowakei gab es die Sokol-Bewegung, ähnlich wie  die Jahnbewegung in Deutschland, aber auf nationalistisch. An dem Tag war irgendein Jahrestag der Sokol-Bewegung und da war man sehr gegen die Deutschen, hat sogar einige Deutsche verhauen und alles mögliche. Also sollten wir um Gottes Willen nicht in kurzen Hosen rumlaufen, denn das war das Zeichen der deutschen Jugend.
In Prag gab es eine Organisation der SPD, die ganz links war. Die sagten uns: Hier gibt’s nichts zu essen, hier gibt’s überhaupt gar nichts. Zudem seien wir gar nicht gefährdet. Wir hatten ja noch einen deutschen Pass, die Papiere in Ordnung und alles. Also haben sie uns zurückgeschickt.

Konnten Sie denn so einfach wieder zurück nach Deutschland?

Das war schon ein Risiko, wieder normal mit dem Zug einzureisen, weil ich ja keinen Ausreisestempel hatte. Das wäre natürlich aufgefallen. Aber dann ist im Zug etwas Komisches passiert. Ich bin alleine regulär mit der Bahn von Prag nach Breslau gefahren. Ich habe einen Bummelzug genommen, denn Geld war ja nicht da. Bin in den Zug gestiegen, dann haben sich Leute zu mir ins Abteil hingesetzt und sind sofort wieder aufgestanden. Das Abteil war fast immer leer. Im Gang haben Leute gestanden, aber mein Abteil war leer. Dann kam der deutsche Zoll, und die gucken kaum hin und gehen sofort wieder raus aus dem Abteil. Ich konnte mir das überhaupt nicht erklären. Dann komme ich also in Breslau im Bahnhof an und werde von meiner Mutter abgeholt, die man irgendwie benachrichtigt hatte, und die sagt zu mir: „Hast du dich eingeschissen?“ „Nein, bist du verrückt, Mutter, wieso?“ „Du riechst ja furchtbar!“ Und dann hat sich die ganze Geschichte geklärt. Mit sechs Jahren habe ich meinen Geruchssinn verloren. Ich rieche nichts. Das ist an sich im Leben nichts Gutes. Aber in dem Fall hatte mir die Gruppenführerin in Prag Käsebrote mitgegeben, und der Käse hat mit der Zeit total gestunken, was ich natürlich nicht merken konnte. Und weil ich so entsetzlich gerochen habe, ist dann vermutlich auch der deutsche Zoll so schnell an mir vorbeigegangen. Sowas kann also auch was Positives sein ….

Was konnten Sie 1935 in Deutschland noch machen?

In Deutschland traf ich meinen Freund wieder und wir beschlossen: Wir müssen aus Deutschland raus. Wie kriegen wir es hin, dass uns die jüdische Gemeinde rausbringt? Wir erfanden eine ganz idiotische Geschichte: Wir seien am Stadtwald spazieren gegangen und da sei uns ein Hitlerjunge entgegengekommen mit einem Mädchen, das ich kannte. Ich hätte sie gegrüßt. Da habe der Hitlerjunge Streit angefangen und wir hätten ihn verhauen. Das war alles ‘ne glatte Erfindung! Aber mit der Geschichte, jüdischer Junge verhaut Hitlerjunge, waren wir natürlich gefährdet. Ich denke, die von der jüdischen Gemeinde haben uns gar nicht richtig geglaubt, aber die Gefahr, dass eventuell etwas daran wahr sein könnte, war doch irgendwie da. Ich wurde also nach Luxemburg geschickt. Da bin ich noch legal über die Grenze gegangen. Von dort kam ich später – das muss 1937 gewesen sein – nach Holland, nachdem die holländischen Behörden dazu die Erlaubnis gegeben hatten. Mein Freund war nicht so schnell wie ich. Der war zuerst noch in einem zionistischen Jugendlager in Deutschland und hat die Kristallnacht mitbekommen. Der kam dann später rüber zu uns. So sind wir rausgekommen, während mein Vater schon im KZ in Buchenwald war und meine Mutter versuchte, Visa zu bekommen.

Wie lange waren Sie insgesamt in Holland?

Zwei Jahre ungefähr. Meine Eltern waren noch in Deutschland. 1938 hat meine Mutter meinen Vater rausgeholt und kam mit ihm nach Holland, um meinen Onkel in Amsterdam und mich zu besuchen und dann nach Bolivien weiterzufahren. Niemand hat damals gewusst, was Bolivien war.

Wie hat Ihre Mutter „Ihren Vater rausgeholt“? Aus dem Konzentrationslager?

Genau kann ich das gar nicht sagen, weil – vielleicht geht Ihnen das auch so: Man fragt die Eltern ja nie über die Vergangenheit und nachher, da möchte man vielleicht gerne fragen, aber dann kann man nicht mehr fragen. So ist mir das gegangen. Ich hab’ meine Mutter nie danach gefragt. Er kam jedenfalls raus und sie haben ein Visum für Bolivien bekommen. Aber das Visum hatte sie nicht mit Geld bekommen, sondern durch die Gemeinde. Meine Eltern hatten kein Geld. Mein Vater hatte sein ganzes Geld in der Inflation verloren. Von der Inflation an bis er ins KZ kam, war er ein kleiner Vertreter, der gerade so sein Leben fristete. Meine Mutter hat davon gelebt, zwei Zimmer oder so zu vermieten.
Meine Eltern waren nur kurz in Holland, auf der Durchreise, und sind ein Jahr vor mir nach Bolivien gefahren. Ob ihnen mein Onkel geholfen hat, weiß ich nicht. Mir hat er jedenfalls, als ich rausging, fünf Dollar auf die Reise mitgegeben und eine Krawatte. Später denkt man: Was für ein Irrsinn! Ich war das schwarze Schaf in der Familie, weil ich nicht richtig jüdisch war, und links, das war natürlich anrüchig da im Kleinbürgertum, auch im jüdischen. Die haben wahrscheinlich gedacht: Aus dem wird nichts werden, aber ‘ne Krawatte kann nicht schaden.

Sie selbst sind erst kurz vor dem Überfall der Nazis aus Holland rausgekommen?

Ja, es muss eines der letzten Schiffe gewesen sein. Die Gemeinde hat in Holland eines der Schiffe gemietet, die zwischen Holland und England hin und her gefahren sind. Mit dem fuhren wir bis Cádiz in Spanien. Dort wurden wir umgelagert auf ein italienisches Schiff, das nach Chile ging. Da waren viele Emigranten für Chile drauf und auch für Bolivien. Wir für Bolivien gingen im Hafen von Arica (Nordchile – die Red.) von Bord. Wir durften vorher in Venezuela oder in Lima nicht an Land gehen, erst in Chile, denn wir hatten das Visum für Bolivien.
Wir waren auf dem Schiff in der dritten Klasse, mit Hängematten. Es gab ein Nudelgericht für die erste Klasse. Am zweiten Tag gingen die übriggebliebenen Nudeln in die zweite Klasse. Was dann noch übrigblieb, kam in die dritte Klasse. Danach mochte ich jahrelang keine Nudeln mehr essen.

Wie sind Sie an das Visum für Bolivien gekommen?

Meine Eltern waren ja schon ein Jahr vorher nach Bolivien gefahren und schickten mir das Visum nach Holland. Zu der Zeit gab es ja sonst keine Visa mehr, auch nicht für mich. In Holland haben mich eine ganze Reihe von Jungs gefragt, dass ich Visa besorgen sollte, aber ich konnte keine kriegen, auch für meinen Freund nicht. Er ist dann später umgekommen. Es gab keine Visa mehr, ich konnte keine mehr kriegen.
Meine Mutter hat mein Visum, wie sie mir erzählt hat, auf eine ganz irrsinnige Art gekriegt. Für ein Visum musste man sich am Präsidentenpalais anstellen, um es beim Präsidenten zu verlangen. So klein war das Land. Der Präsident Boliviens in der Zeit war Busch und der hat die Immigration für die Juden geöffnet. Er argumentierte, sie bräuchten europäische Immigration für die Landwirtschaft. Ich weiß nicht, was da dran war. Nebenbei: Sie wissen, wie Busch umgekommen ist? Angeblich hat er sich das Leben genommen. Andere behaupten, sein Schwager habe ihn erschossen. Es gibt jetzt einen Bolivianer, der eine andere Version hat: Er sei von Nazis erschossen worden, weil er ein deutscher Verräter war. Er war ja deutscher Abstammung. Er habe die Juden reingelassen! Angeblich wäre es ein Kommando der Nazis gewesen, das ihn umgebracht hat. Aber es gibt keine Beweise für diese Theorie.
Meine Mutter hat also Schlange gestanden vor dem Präsidentenpalais und es ging nicht vorwärts. Für ihren einzigen Sohn machte sie natürlich alles, was sie machen konnte. Sie ging aus der Schlange raus und ging in ein Zimmer rein. Dort –  so hat sie es mir erzählt – stand ein großer Mann in Uniform mit viel Lametta. Sie sprach den auf deutsch an, denn sie konnte ja noch kein Spanisch, und der habe deutsch geantwortet. Offenbar war das Busch selbst. Viel Deutsch konnte der aber wohl    auch nicht. Jedenfalls rief er angesichts dieser aufgeregten Frau seinen Dekan und sagte, man solle ihr das Visum geben.
Es gab auch viele falsche Visa, das wissen wir heute. Das Hotel Sucre in La Paz etwa ist mit dem Geld der Juden für Visa entstanden. Denn der damalige bolvianische Gesandte in Deutschland hat falsche Visa verkauft und später mit dem Geld das Hotel gebaut.

Mit Ihrem Visum kamen Sie 1939 in Bolivien an?

Von Arica sind wir mit der Bahn hier raufgefahren und mein Vater hat mich in Viacha, das ist eine Bahnstation oben bei Oruro, erwartet. Von da aus sind wir weiter gefahren nach Cochabamba. Ich weiß noch, dass ich ein einziges Buch dabei hatte. Ja, ich habe einen großen Verrat begangen, als ich weggefahren bin. Ich hatte damals eine Bücherkiste, ein Fahrrad und eine Schreibmaschine. Und dann hieß es: Entweder wir schicken dir die Bücherkiste nach oder das Fahrrad. Ich habe damals die Bücher verraten und das Fahrrad mitgenommen, das heute noch hier existiert, und die Schreibmaschine. Was an und für sich auch vernünftiger war, logischerweise. Ich hatte also nur das eine Buch mit, das ich gerade las. Ich besitze es heute noch, einen Klassiker,  „Der Idiot“ von Dostojewski. Ich kam mir selbst als Idiot vor, war ganz traurig, Europa zu verlassen. Ich konnte das gar nicht begreifen, ich konnt’s nicht fassen. Vielleicht war ich zu jung. Aber das alles haben ja die meisten nicht begriffen.

Gab es einen speziellen Grund, warum Ihre Eltern nach Bolivien gegangen sind?

Nein, überhaupt nicht. Es gab damals zwei Möglichkeiten, die hießen Bolivien und Shanghai. Eine Tante von mir ist mit dem Onkel nach Shanghai gegangen. Die wussten von Shanghai so viel wie wir von Bolivien. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutet. Ich hatte kaum Bücher über Bolivien. Wer hatte damals schon ein Buch über Bolivien? Selbst heute gibt’s die ja kaum, nur ganz wenige. Ich war damals 19. Ich konnte kaum Spanisch, nur ein paar Worte. Zuerst habe ich als Schlosser gearbeitet, später als Silber- und Goldschmied, habe Ringe gemacht und sowas. Aber das hat mir nie gefallen. Dann wurde ich Angestellter und war zwei Jahre oben in den Minen, im Süden des Landes. Ich war ein kleiner Angestellter, und ein schlechter Angestellter, der nicht gut Spanisch konnte. Da kam man nur hoch, wenn man die Füße der Chefs leckte, und da ich kein Fußlecker bin…

Hatten Sie damals Kontakte zu den Minenarbeitern?

Nein, als Angestellter nicht. Das Entscheidende war: Ich hatte zwar keinen Kontakt mit den Arbeitern der Minen, aber ich hatte Kontakt mit Antifaschisten. Ich war einerseits hier in „La otra Alemania“ (Das Andere Deutschland), der Organisation von Siemsen[fn]August Siemsen: Sozialistischer Pädagoge und Politiker, der 1930 für die SPD in den Reichstag gewählt wurde. 1931 gehörte er zu den Mitgründern von deren Linksabspaltung „Sozialistische Arbeiterpartei“ (SAP), die für eine linke Einheitsfront von SPD, KPD und anderen Linksgruppen zur Abwehr des Faschismus eintrat. Nach seiner Emigration nach Argentinien gründete August Siemsen dort 1937 die Organisation „Das Andere Deutschland“ (DAD), die zunächst ein Sammelbecken aller antifaschistischen EmigrantInnen in Lateinamerika war. 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt verließen die Kommunisten die Bewegung. Danach gab es zwei linke Exilbewegungen in Lateinamerika, das sozialistisch orientierte DAD, mit dem Hauptsitz in Buenos Aires, und die von der KPD dominierte Bewegung „Freies Deutschland“ mit Sitz in Mexico. Beide Bewegungen hatten Gruppen und Kontaktleute in den meisten lateinamerikanischen Ländern. Vgl. dazu u.a.: Pieter Siemsen (Sohn von August Siemsen und Mitarbeiter des DAD): Der Lebensanfänger – Erinnerungen eines anderen Deutschen, trafo-Verlag, Berlin 2000.[/fn] aus Buenos Aires, in der zuerst alle kommunistischen Emigranten waren. Als das später auseinander ging, haben die Kommunisten nicht mehr mitgemacht, dann gab es andere Gruppierungen. Ich hatte aber ziemlich schnell Kontakt mit Bolivianern, die politisch engagiert waren, aber kaum Kontakt mit der jüdischen Gemeinde.

Wie sah die Arbeit der antifaschistischen Gruppen damals in Bolivien aus?

Von „La otra Alemania“ haben wir, die paar politischen, die hier waren, und die jüdischen jugendlichen Emigranten, verschiedene Aktionen gemacht. Einmal haben wir antifaschistische Plakate geklebt. Dafür kamen ein paar von uns ins Gefängnis. Ein anderes Mal sind wir zu den deutschen Geschäften gegangen und haben die ganzen Schlösser verklebt. Diese Gruppe hat auch deutsche Nazis verhauen. Wir wussten, dass die deutschen Nazis eine Aktion vorhatten, um die Juden hier zu eliminieren. Man wusste, welche Leute schon LKWs zur Verfügung stellten, um die Juden ins Chapare zu bringen. Die antifaschistischen Deutschen und Deutsche, die hier lange lebten und keine Nazis waren, die auf der Schwarzen Liste standen, weil sie z.B. Freimaurer waren, sind mit den Engländern und Amerikanern und der bolivianischen Regierung gegen diese Pläne vorgegangen.
Das war in den vierziger Jahren. Die Lehrer von der deutschen Schule waren damals alle Nazis. Ich habe ein Buch über die deutsche Schule in La Paz, mit einer großen Hakenkreuzfahne drauf. Die Erziehung war dementsprechend. Beim deutschen Club in La Paz gab es ein Schild: „Juden und Hunden ist der Eintritt verboten“. Hier in Cochabamba gab es eine deutsche Schule, da waren besonders viele Nazis unter den Lehrern. Das war eine Mädchenschule von deutschen Nonnen, Santa Maria. Sie existiert heute noch, aber es sind kaum noch Deutsche da, die haben keinen Nachwuchs. Ein paar alte Nonnen sind noch da. Die waren sehr vernazit, diese deutschen Nonnen.

Die antifaschistischen Deutschen waren in der Minderheit?

Das waren ganz wenige, einzelne. Die Mehrheit waren zwar nicht unbedingt Nazis, aber deutschnational: „Deutschland ist wieder was geworden. Wir sind nicht mehr der letzte Dreck der Welt, wir sind wieder was.“ Das war die vorherrschende Meinung. Die Nazis sind eines Tages alle verhaftet und nach Texas geschafft worden. Alles Leute mit Geld. Damit ihnen die Firmen nicht weggenommen wurden, haben die Nazis Bolivianer vorgeschoben. Die alten Nazis hatten auch schon angefangen, sich mit Bolivianern zu verheiraten. Ihr Einfluss war wahnsinnig stark. Die Juden dagegen hatten gar keinen Einfluss. Unter den Deutschen, die hier waren, gab es eine kleine Gruppe, die waren Anti-Nazis, aus politischen oder religiösen Gründen. Die haben zum Teil den Juden geholfen, den deutschen Emigranten am Anfang Hilfestellung gegeben.

Wo haben Sie sich politisch eingeordnet?

Durch meine Erziehung war ich einerseits zwar Marxist oder Leninist, aber gegen den russischen Realsozialismus, in der Form. Wir haben durch Freunde einiges indirekt erlebt. Der Pakt (gemeint ist der Hitler-Stalin-Pakt – die Red.) hat auch seine Wirkung gehabt, obwohl: Auf manche hat’s keine Wirkung gehabt, die blieben weiter Stalin treu, wie z.B. der Österreicher, der hier die Buchhandlung hatte, oder ein Arzt in Oruro, der damals die KP mitgegründet hatte.

Heute würde man das, was Sie politisch vertraten, als „undogmatische Linke“ bezeichnen. Gab es da Zusammenschlüsse?

Man hatte mit Einzelnen zu tun, aber nicht als wirkliche Gruppe. Es gab hier z. B. einen SAP-Jungen aus Sachsen, einen jüdischen Jungen. Es gab eine starke politische Jugendbewegung, wo Deutsche und Österreicher – es gab viele Österreicher hier – und jüdische Jugend zusammen waren. Denn Jugendbewegung war etwas sehr Deutsches. Das hat sich hier irgendwie wieder zusammengefunden. Aber ich war da nicht drin, nur indirekt, durch die Zeitung „La otra Alemania“ aus Argentinien. Davon gab es hier einen Ableger. Da gab es Diskussionsabende mit großen politischen Auseinandersetzungen zwischen den Siemsen-Leuten und Leuten der KP.

Haben Sie nach 1945 daran gedacht, nach Deutschland zurückzugehen?

Nein, das war gar nicht drin. Das war nicht in meiner Mentalität. Mein Vater ist nie nach Europa oder Deutschland gefahren. Der wollte deutschen Boden nicht betreten. Meine Mutter ist mal mit mir mitgekommen, als ich zur Buchmesse fuhr, aber mein Vater nicht. Viele haben das so gesehen. Aber ich könnte mir auch nicht vorstellen, nach Deutschland zu gehen, nicht mal heute. Ich war z. B. mal mit meinem Schwager bei Bonn in einem schlesischen Club. Da sind wir aus Neugierde hingefahren. Und da hab’ ich mir so die paar Leute angesehen, die in meinem Alter waren, und hab’ mir gedacht: Der war vielleicht ein guter SS-Mann und hätte mich ermordet. Das Gefühl ist vielleicht vollkommen idiotisch. Aber irgendwie fühlt man sich nicht wohl. Und dann wird man manchmal auch sofort aggressiv gegen den anderen. Mit der neuen Generation weniger, aber bei der anderen Generation, da denkt man: „Du warst doch dabei!“ Bei den jüngeren weiß man aber auch nicht, ob nicht der Vater… Ich habe ja viele Freunde aus anderen Generationen gehabt. Der Vater des einen war wüster Nazi, der andere war’s nicht, ein anderer hat sogar Juden umgebracht…

In der Zeit nach 1945 kam noch mal eine Welle von Nazis nach Bolivien?

Die haben sich anfangs versteckt. Der eine, der Altmann (Klaus Barbie, der ehemalige Gestapo-Chef von Lyon – die Red.), hat sich sogar als Jude ausgegeben. Dann sind sie langsam entdeckt worden. Es gab in den Yungas eine Siedlung von Deutschen, von Nazis. Die waren sehr ordentlich, diese Deutschen, saubere Menschen, und Geld hatten sie, sie haben gebaut, und die Einwohner haben sie gern gehabt. Eines Tages hat einer der Deutschen eingeladen, bei einer Taufe dabeizusein. Da wurden zwei Kinder getauft. Einer hieß Hitler Mamani und der andere hieß Eichmann Mamani. Die werden heute wahrscheinlich anders heißen…
Die haben mit den Diktatoren zusammengearbeitet. Der Altmann hat Italiener und Deutsche hergebracht, die dann hier wüste Cowboys waren. Das Irrsinnige war, dass der sogar einen Ausweis vom bolivianischen Militär hatte. Der war Coronel in bolivianischer Uniform! Die waren Hilfsträger und haben den Geheimdienst für Banzer und die ganzen Diktatoren aufgebaut.

In die DDR zu gehen haben Sie sich auch nicht überlegt?

Nein. Einer von der KP hier, Paul Baender, der das Hotel Cochabamba geleitet hat, der ist zurück in die DDR. Der ist sogar Vizeminister oder sowas geworden. Er ist später verhaftet worden, von einem auf den anderen Tag. Die ganze Tragödie. Die Form, wie man das gemacht hat, war irrsinnig. Stalinistisch.[fn]Der Kommunist Paul Baender war 1937 nach Bolivien emigriert. Er leitete dort den von den deutschen Flüchtlingen gegründeten „Club Freundschaft“ und nach der Spaltung von „Das Andere Deutschland“ die KPD-dominierte „Vereinigung Freier Deutscher in Bolivien“. Außerdem war er bolivianischer Schachmeister. 1947 ging er in die DDR, wo er schnell führende Positionen übernahm. So wurde er im April 1949 Geschäftsführer der Handelsorganisation HO, im November 1950 Staatssekretär im Ministerium für Handel und Versorgung. Im November 1952 wurden er und seine Frau Hannelore im Zuge einer Säuberungskampagne, die sich gegen sogenannte Westemigranten (d.h. Leute, die nicht in der Sowjetunion im Exil waren) richtete, verhaftet. Man warf insbesondere ihm vor, „amerikanischer und zionistischer Agent“ zu sein. Der Vorwurf wurde später fallengelassen, Hannelore Baender kam frei, er  wurde wegen Wirtschaftssabotage zu sechs Jahren Haft verurteilt. Erst 1956 wurde er begnadigt. Paul Baender starb 1985 in Ost-Berlin. Vgl. dazu Wolfgang Kießling: Der Fall Paul Baender, Dietz-Verlag, Berlin 1991.[/fn]

Haben Sie denn Reisen nach Deutschland gemacht?

Viele Male. Das war kein Problem. Deutsche Kultur, deutsche Menschen, das ist kein Problem für mich. Meine Frau hat bis 1947 in Deutschland gelebt. Die hat eine andere Beziehung dazu. Die hatte gar keine Beziehung zu Juden, außer zu ihrer Großmutter, die in Theresienstadt umgekommen ist, und zur Tante, die wir noch getroffen haben. Die hat in Freiburg überlebt und mir ist bis heute unklar, wie. Die hat als Jüdin in Freiburg überlebt und war verheiratet mit einem Deutschen, der aber auf der Schwarzen Liste war als Künstler. Die hatten fünf oder sechs Kinder. Das ist für mich bis heute unfassbar, wie die das geschafft haben. Es gibt Dinge – Es gibt keine Regel…

…wie Erich Kästner, der bei seiner eigenen Bücherverbrennung dabeigewesen ist…

Wo wir von Kästner sprechen: Kennen Sie „Der dreizehnte Monat“ von Erich Kästner? Der hat den dreizehnten Monat erfunden, zu Recht, übrigens. Keine Angst, ich will jetzt keine Gedichte vorlesen. Aber da sind zwei Zeilen, die mir aufgefallen sind und die mir so herrlich gefallen haben. Ich hab sie angestrichen. Ich streiche ja Bücher an, was man nicht sollte, aber ich tue das: „Aus manchem, was das Herz erfuhr, wird bestenfalls Erfahrung.“ Das finde ich fantastisch. Ich musste mir das anstreichen. Aber das zu übersetzen ist fast unmöglich. Ich habe versucht, das ins Spanische zu übersetzen, aber da kam nur Mist raus. Das ist jetzt auch die Antwort, warum ich wieder nach Deutschland gefahren bin. Sehen Sie: Sie sprechen von Kästner und ich bringe Ihnen gleich ein Buch, das ich gerade lese.

Wann haben Sie Ihre erste Buchhandlung aufgemacht?

Im Jahre 1945. Ich wollte immer eine Buchhandlung haben. Ich wollte immer was mit Büchern machen. Meine andere Illusion, Bibliothekar zu werden, war ja gar nicht drin. Und studieren oder mein Abitur zuende zu machen auch nicht. Es gab hier einen Österreicher, der hatte eine Leihbücherei, die erste deutsche. Dann machte ich eine andere auf und in La Paz gab es drei andere. Die sind entstanden durch den Verkauf der Bücher der Emigranten.
Mich hat vor allem das bolivianische Buch interessiert. Das war für mich von Anfang an das Wichtigste. Das war hier in Bolivien nicht beliebt. Es gab wenig Autoren. Die ersten wurden in Paris gedruckt, dann in Argentinien und Chile. Die Oberschicht war nicht sehr landesfreundlich. Die hat lieber Victor Hugo gelesen.
So begann ich, bolivianische Bücher herauszubringen. Das erste Buch, das ich rausgegeben habe, war die Constitución Política de Bolivia, hundert Stück. Ich kann mich noch genau erinnern. Ich hab’ gedacht, die würde ich nie verkaufen.

Sie haben im Laufe der Zeit dann mehrere Buchhandlungen eröffnet. Gab es damit nicht auch Schwierigkeiten?

Bei jeder Rechtsregierung wurde ich natürlich verfolgt. Dann kam ich auch ins Gefängnis und meine Bücher sind verbrannt worden. Und auch meine Freunde sind verfolgt worden.
Die Bücherverbrennung fand unter Banzer statt. Es gab eine Anzeige. Man hat dann  Bücher aus der Buchhandlung und aus meiner Bibliothek zusammengetragen. Ich weiß nicht, ob Banzer was davon gewusst hat. Auf einer Buchmesse vor zwei Jahren kam Banzer zu unserem Stand, und einer seiner Minister stellte sich vor und meinte: „Wir kennen Sie.“ – Ich hab’ denen aus lauter Gemeinheit das Buch über die 50 Jahre (Jubiläum der Buchhandlungen „Amigos del Libro“) gegeben. „Brauchen Sie mir gar nicht geben, ich bin der Leithammel des Landes und wir wissen, was wir Ihnen schuldig sind“, sagte der.

Wie lange waren Sie im Knast?

Eine Woche war ich im Knast, dann hatte ich Hausarrest. Die Begründung war, dass ein Scheck von mir bei der Guerilla gelandet wäre. Ich hätte die gesamte Guerilla finanziert. Dann ist rausgekommen, was da passiert ist. Ich hatte einem Autor einen Scheck gegeben. Der war von der Guerilla und der hat den weitergegeben. Ich bin x-mal ins politische Feuer geraten, ganz egal, von wo. In so einem kleinen Land fällt alles auf. Ich bin eine Person, die immer wieder in der blödesten Form aufgefallen ist.

Aber trotzdem konnten Sie Ihre Buchhandlungen auch unter den Diktaturen weiterführen?

Alle kennen hier alle und irgendwie kommt man durch. Nicht alle. Manche geben auf, aber ich habe durchgehalten und meine Familie hat durchgehalten. Manchmal war es schon so schlimm, dass wir gedacht haben, wir müssten weg, aber wir haben dann doch immer weiter gemacht. Und das wissen die auch, dass wir immer weiter machen. Auch ökonomisch, in jeder Beziehung. Wir haben uns hier eine eigene Arbeit geschaffen, gegen alles, und die wissen das. Den „Cóndor de los Andes“ (höchster bolivianischer Orden) kriegt man nicht für nichts.
Ich habe Bücher gern gehabt und ich habe mir eingebildet, du hilfst den Menschen, wenn du ihnen gute Bücher bringst. Ein idealistischer Buchhändler eben. Aber das war noch nicht interessant genug, einem Deutschen ein Buch über Bolivien zu zeigen oder ihm was zu erzählen in der Buchhandlung. Die Idee war, Dinge zu schaffen, die Bolivien fehlen. Bücher schaffen, die das Land zeigen. Und dann haben wir die Enzyklopädie gemacht. Zur Jahrhundertfeier von Cochabamba haben wir Bücher über Cochabamba rausgebracht, die es nicht mehr gab. Dann haben wir den Premio (Literaturpreis) gemacht. Wir wollten positivere und aktivere Dinge als nur ein Buch zu bestellen, auszupacken, einen Preis reinzuschreiben und dann zu versuchen, es dem nächsten Kunden unbedingt zu verkaufen. Außerdem mochte ich das nie, Kaufmann zu sein. Allein schon die Idee des Kaufmanns überhaupt war mir falsch. Ich wollte kreativ sein, Sachen schaffen, die fehlen, die das Land braucht. Um dem Land zu helfen. Nach einer gewissen Zeit ist mir das gelungen. Mehr oder weniger.

Konnten Sie mit Ihrer Arbeit die bolivianische Literatur auch in anderen Ländern bekannt machen?

Es gibt eine sehr gute Anthologie bolivianischer Schriftsteller, die vor vielen Jahren in Deutschland erschienen ist. In den Vereinigten Staaten ist jetzt eine gute Anthologie als Paperback herausgekommen. Einer von meinen Autoren ist auf Englisch übersetzt worden. Andere sollen noch übersetzt werden. Es fängt langsam an. Mir ist das aber nie gelungen. Ich habe das versucht, deswegen bin ich nach Frankfurt gefahren. Ich habe alles versucht. Ich habe meine Bücher verschenkt, meine Bücher weitergegeben. Das war ja logischerweise die Idee, die zu verbreiten. Ich habe viel an Universitäten verkauft. Naja, was heißt viel. Wenn ein Bibliothekar 100 Mark zur Verfügung hat, dann bleiben für bolivianische Bücher vielleicht eine oder zwei Mark übrig. Wenn nicht zufällig jemand dort ist, der über Bolivien schreibt und sagt, er braucht Bücher.
Eigentlich müsste man viele Bücher übersetzen. Ich habe auch einige Sachen umgekehrt übersetzt, aus dem Deutschen, und hierher gebracht. Aber die Wirkung ist beschränkt, wen interessiert das?

Was können Bücher bewirken?

Da ist eine große Enttäuschung da, bei mir persönlich. Einerseits, dass ich nichts Bleibendes schaffen konnte. Ich sehe, dass alles, was ich gemacht habe – wie scheinbar alles im Leben – auf tönernen Füßen steht und dass meine Bemühung, das auf festere Füße zu stellen, nicht fruchtet. Andererseits habe ich etwas erreicht, was in einem Land wie Bolivien schwierig zu erreichen ist, nämlich dass man von der eigenen Bevölkerung anerkannt wird. Das gibt’s auch selten und das ist positiv. Der Uli (Ernesto Kroch – die Red.) wird in Uruguay nicht so dafür anerkannt, dass er die soziale Geschichte geschrieben hat. Ich habe Glück gehabt.

Nochmal zur bleibenden Wirkung. Sie haben viele schöne Buchhandlungen, Anerkennung, jede Menge Orden…

Mehr kann man gar nicht kriegen. Ich habe auch Sachen gekriegt, die ich gar nicht erwartet habe. Die Auszeichnung vom Parlament, das ist Wahnsinn, dass das ein Gringo kriegt. Zwei Leute haben das bisher überhaupt nur bekommen. Man kriegt den Orden nur, wenn alle Parlamentarier ja sagen. Alle haben also ja gesagt, und jetzt musste ich eine Rede halten vor dem Parlament. Da wurde gerade der Film von Schindler gegeben. Da sagte ich: Ich habe das Gefühl oder ich weiß, dass die Liste der Emigranten, die nach Bolivien kamen, so wie eine Liste von Schindler ist. Das hat jeder verstanden von den Parlamentariern. Und deswegen habe ich gearbeitet. Was sollte ich denen sonst erzählen?
In der Beziehung habe ich Glück gehabt. Ich sollte ja auch mal deutscher Konsul werden. Das war in der Zeit der Banzer-Diktatur und für mich war das zunächst eine Rettung. Dann wurde ich angeschwärzt: Der Kommunist würde nie von den Bolivianern anerkannt werden. Dann hat ein Freund von mir den Außenminister, einen ganz rechten Falangisten, gefragt, ob sie mich anerkennen würden. Selbstverständlich, hat der gesagt. Das war alles nur konstruiert, aber Deutschland hat Angst bekommen. Dann haben sie mir eine Medaille gegeben, die Deutschen. Als Entschuldigung, sozusagen.
Aber ökonomisch habe ich kein Glück gehabt. Ich bin eben kein guter Kaufmann, wollte es auch nie sein. Ich wusste natürlich nicht, dass ein Bibliothekar auch ein guter Kaufmann sein muss, weil er mit seinem Haushalt auskommen muss. Ich habe das nur ideell gesehen, als eine ideelle Angelegenheit. Ich habe viele Dinge angefangen, die ich nicht weiter fortführen kann. Das ist nicht zu ändern.