Miguel, du lebst in Deutschland, verlegst aber in den Ediciones Cielonaranja spanischsprachige dominikanische Literatur. Wie funktioniert das?
Ich habe ein weltweites Netzwerk von Freunden aufgebaut, die sich für dominikanische Literatur interessieren. Wir können ein druckfertiges Pdf-Dokument an eine Druckerei in Santo Domingo schicken und zehn Exemplare drucken lassen. Dafür ist es nicht nötig, dass ich vor Ort bin. Unser Projekt besteht also aus dem Verlag, der hier von Berlin aus geleitet wird, und einer Internetseite.
Wie fing alles an?
1985 haben wir angefangen, klassische dominikanische Literatur zu veröffentlichen, Autorinnen und Autoren, die nicht mehr publiziert werden, die einer Minderheit angehören, wie Juan Sánchez Lamouth (1929-1968), der arm und schwarz und immer besoffen war. Es gab viele Klischees über ihn. Er war der erste, der die Verbindung zur nordamerikanischen Literatur in den 50er-Jahren hergestellt hat, er war in literarischer Hinsicht sehr wichtig. Dann habe ich das Gesamtwerk von René del Risco Bermúdez (1937-1972), Miguel Alfonseca (geb. 1942) und zeitgleich junge Autoren veröffentlicht. Damals haben wir das mit politischen Aktionen und Veranstaltungen im Park und auf den Straßen von Santo Domingo verbunden, weil wir glaubten, das Erscheinen eines Buches muss wie ein Fest gefeiert werden, das Buch nicht als pures Objekt, sondern als Mittel der Kommunikation.
Warum machst du Bücher?
Das ist für mich eine Gelegenheit, eine Party zu feiern. Wenn du eine Fete mit Freunden machst, dann hast du eine Kiste Bier, was zu essen dabei. Auch ein Buch ist ein Medium, um Verbindung und Kontakt herzustellen. Durch ein Buch kannst du Leute besser verstehen, besser kennenlernen, dich verlieben.
Was bedeutet es, in Santo Domingo Bücher zu verlegen, welche Probleme gibt es?
Zunächst: Unsere Leute haben keine Verbindung zur Vergangenheit. Alles ist vergessen, die Erinnerung verloren gegangen. Wir haben das Gefühl, nirgendwo hinzugehören. Mir ist es wichtig, die guten Traditionen und Autoren zu pflegen, die sich in der Vergangenheit kritisch mit ihrer Zeit und Umgebung auseinander gesetzt haben. Vergessen, verschwiegen, uninteressant. Dagegen kämpfen wir an, wir wollen einen Dialog fortsetzen. Deshalb verlege ich Autorinnen und Autoren, die ich normalerweise nicht auf dem Buchmarkt bekommen kann.
Wie hoch sind die Auflagen von Büchern, die in Santo Domingo erscheinen?
Vielleicht 1000 Exemplare, manchmal auch 5000. Das meistverkaufte Buch in Santo Domingo ist ein Kochbuch, das in 30 Jahren mehr als 200 000 Mal verkauft wurde.
Aber was ist mit den Erzählungen von Juan Bosch, die doch enorm hohe Auflagen erlebt haben und immer noch erscheinen?
Ja, aber die werden nicht gehegt und nicht gepflegt. Die Fundación Juan Bosch gibt die Bücher heraus, sie sind oft sehr hässlich, lieblos gemacht. Es gibt keine kritischen Ausgaben, keine neuen Konzepte, es fehlt eine zeitgemäße Art, Bücher herauszugeben. Das heißt, es gibt in Santo Domingo kein Verlagswesen, das Bücher und die Buchkunst pflegt. Es gibt keine Verlage, wir haben Druckereien. Die Autorinnen und Autoren gehen zur Druckerei und bezahlen den Druck ihrer Bücher. So läuft das. Es gab vor 15 Jahren noch Verlage, etwa Editora taller oder Editora Alfa & Omega, aber die waren mit der politischen Linken verbunden, und die spielt heute keine Rolle mehr im intellektuellen Bereich, sodass die Verlage aus Santo Domingo, aber auch aus Santiago und den anderen Städten verschwunden sind.
Und was ist mit den Sach- und Schulbüchern?
Es gibt internationale Verlage und einen Markt für Schulbücher. Die werden vom spanischen Verlag Santillana produziert, von Norma aus Kolumbien oder Macmillan aus den USA. Internationale Ketten produzieren für den dominikanischen Markt. Jedes Jahr gibt es Tausende von Studierenden, die neue Bücher brauchen; ein lukrativer Markt, die große Nachfrage von Schülerinnen und Studenten.
Und die Universitätsverlage?
Die gab es vor allem in den 80er- und 90er-Jahren, sie interessierten sich für Politik und Ökonomie, aber sie bringen nichts aus den Humanwissenschaften, keine Romane, keine Literaturkritik, eine große Wüste.
Studiert man an der Universidad Autónoma de Santo Domingo nicht auch dominikanische Literatur?
Klar, aber es gibt dieses System von Lehrkräften, die seit über 20 Jahren unterrichten. Sie schreiben nur über ihre Generation und was vorher war. Aber wenn du 50 bist, musst du auch die jungen Autorinnen und Autoren im Blick haben, die 30 sind und interessante Sachen schreiben. Das machen sie aber nicht, sie unterrichten dominikanische Literatur bis 1980 und vernachlässigen die junge Generation.
Was ist mit den Antiquariaten in Santo Domingo, früher wurden viele gebrauchte Bücher auf der Straße verkauft?
Bei uns gibt es das Buch als Luxusobjekt. Die Leute haben nicht gern ein Buch aus zweiter Hand. Es gibt bei uns keine Tradition des Antiquariats. Wenn ich ein altes Buch aus Santo Domingo kaufen will, dann muss ich mich in Barcelona, Madrid oder New York umsehen. Bei uns findet man das nicht, höchstens in Privatbibliotheken.
Welche Probleme haben Autorinnen und Autoren in Santo Domingo, die ein Buch veröffentlichen wollen?
Anfang der 90er-Jahre gab es in Santo Domingo 35 Buchhandlungen, heute nur noch sieben. Die wenigen Buchläden bevorzugen Bücher aus dem Ausland und rechnen mit einer Gewinnspanne von 40 Prozent. Sie sind also viel zu teuer, gute Bücher bleiben unsichtbar. Ich habe ein Netzwerk von Freunden, die verkaufen meine Bücher weiter, ohne dass 40 Prozent fällig werden. Ich verkaufe ein Buch für 300 Pesos, das sind sechs Euro. Wenn das Buch in einer Buchhandlung in Santo Domingo verkauft wird, dann kostet es fast das Doppelte.
Du vertreibst deine Bücher nicht über Buchhandlungen?
Wenn ich als Verleger nach drei oder vier Jahren in eine Buchhandlung komme, dann liegen meine Bücher da in Kartons herum, sie sind verstaubt, verlieren als Objekte an Wert. Sie wurden nie ausgestellt, der Leserschaft vorenthalten. Jetzt erfahren die Leute über Facebook, wann eine Veranstaltung stattfindet, wo sie meine Bücher kaufen können.
Werden die Bücher auch im Ausland gelesen?
Ja, in den USA gibt es eine große Nachfrage, bedingt durch den Erfolg von Junot Díaz (geb. 1968). Es gibt ein größeres Interesse an dominikanischer Literatur. Das Interesse an kubanischer und puertoricanischer Literatur lässt nach, jetzt entdecken sie die dominikanische Literatur, um den Blick auf die karibische Literatur zu vervollständigen. Dominikanische Literatur ist in Mode, man schaut, was in der Literatur über Trujillo geschrieben wurde, und plötzlich bestellen die Buchhandlungen meine Bücher, etwa den Roman El cumpleaños de Porfirio Chávez (2000) von René del Risco Bermúdez, den er nach seinem frühen Tod 1972 hinterlassen hat. Er erklärt Trujillo aus der Perspektive der Existenzialisten, er hatte viel Camus und Sartre gelesen. Aber die Familie wollte das Buch nicht veröffentlichen. Ich habe das Manuskript gelesen und gesagt, das müssen wir veröffentlichen, was wir dann auch gemacht haben.
Warum ist der Roman so wichtig?
Weil er ein Glied in der Kette der dominikanischen oder besser karibischen Literatur ist, nicht nur, weil er die Diktatur thematisiert, sondern weil er am Anfang einer typisch karibischen Romangattung steht, dem Musikerroman. Der kam in den 70er- und 80er-Jahren in Mode. Und René del Risco Bermúdez war einer der ersten, weil er auch über den Bolero-Musiker Daniel Santos schrieb. Der erste war der Kubaner Severo Sarduy (1937-1993), der 1967 den Roman De dónde son los cantantes schrieb. Und Ende der 80er-Jahre veröffentlichte der Puertoricaner Luis Rafael Sánchez (geb. 1936) La importancia de llamarse Daniel Santos.
Die dominikanische Literatur steht also in Verbindung mit den Nachbarländern, wird auch in anderen lateinamerikanischen Ländern gelesen?
Ja, junge dominikanische Autorinnen und Autoren erscheinen auch in Costa Rica, Argentinien oder Spanien. Die Leute haben die Dominikanische Republik als Land des Merengue wahrgenommen, über dieses Bild entstand das Interesse an unserer Literatur, die nicht sozialkritisch ist, sondern vom Vergnügen, vom Trinken, Essen und Sex erzählt. Also leichte Kost. Und dann gab es diesen Dominoeffekt durch den Erfolg von Junot Díaz. Julia Alvarez (Jg. 1950) ist uninteressant, auch wegen ihrer Klischees über das Land, sie hat keinen Zugang zu den jungen Leuten, schreibt eher Romane für das Bildungsbürgertum.
Du hast einen dominikanischen Erzählband in deutscher Sprache[fn]Miguel Mena (Hg.), Sonne und Fenster. Erzählungen aus der Dominikanischen Republik. Aus dem Spanischen von Alexander Weise, Cielonaranja, Santo Domingo 2010[/fn] herausgegeben. Gibt es dafür einen Markt?
Ja, die Deutschen lesen gerne über die Länder, in die sie reisen. Ich muss meine Bücher nach Puerto Plata und in andere touristische Orte bringen. Irgendwann mache ich das. Doch fürs Erste bleibe ich hier in Berlin.
Welche Rolle spielt die Hauptstadt in der dominikanischen Literatur?
Die Hauptstadt ist alles und eine Straße mit Namen El Conde ist alles. Wir sind nie erwachsen geworden, wir sind auf diese eine Straße fixiert. Am Anfang steht La Sangre (1914) von Tulio M. Cestero (1877-1955). Es gibt unzählige Romane, die in Santo Domingo spielen, bis heute. Bei unserem bekanntesten zeitgenössischen Autor, Marcio Veloz Maggiolo (1936), geht es immer um Villa Francisca, das Stadtviertel, in dem er geboren wurde. Die neue Generation aber, Frank Baez (1978), Rita Indiana Hernández (1977), Juan Dicent (1969), sie schreiben eher über das Polígono Central, sie schreiben über das Leben und die neue Mittelklasse, die in den riesigen Hochhäusern leben, die mehr Ahnung haben von Miami als von Santiago oder Puerto Plata. Wir wollen nicht akzeptieren, dass wir hier auf einer Insel leben, das ist unser Problem. Wenn wir über die Stadt schreiben, dann nur über Santo Domingo und El Conde oder jetzt über das Polígono Central. Ich habe so etwas wie einen Literaturatlas gemacht, da wird deutlich, dass es nur ganz wenige Orte gibt, die in unserer Literatur eine Rolle spielen. Das ist schade.
Junot Díaz aber hat in seinem Roman „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ andere Orte gewählt, die außerhalb des Stadtzentrums liegen. Er kommt aus Villa Juana, einem Armenviertel, so wie Robert Marcallé Abreu (1948), der auch daher stammt und darüber geschrieben hat. Junot Díaz aber hat für die Welt geschrieben, sein Roman ist dezentral, die Romane der anderen hingegen sind zentral. Das ist ein besonderes Phänomen in unserer Literatur.
Und was ist mit der ruralen Literatur, dem Zuckerrohrroman?
Ja, das war in den 40er-Jahren. In den 60er-Jahren ging es um die Revolution, in den 70er-Jahren um Politik und jetzt nur noch um Trujillo. Das ist eine richtige Mode, von der sich die jungen Autorinnen und Autoren zu distanzieren versuchen.
Ist das die notwendige Aufarbeitung der Vergangenheit wie in Spanien, Argentinien oder auch in Deutschland?
Nein, das ist eine Mode. Wenn es nicht um Trujillo geht, verkauft es sich nicht. Wenn über Trujillo geschrieben wird, dann geht es immer um Sex, auch bei Vargas Llosa, eine richtige Mode ist das.[fn]Rafael Leónidas Trujillo Molina war nicht nur ein äußerst brutaler Diktator, sondern zudem berüchtigt, weil er von allen Frauen, die ihn interessierten, sexuelle Dienste verlangte.[/fn] Trujillo war aber keine Episode, Trujillo war eine Entwicklung von Autoritarismus, ein Punkt in einer Kette, das dauert bis heute an. Die Dominikanische Republik ist ein Land, das trujillisiert ist, immer noch. Ja, Trujillo wurde 1961 ermordet, aber die trujillistische Kultur hat überlebt und sich etabliert. Was will man erwarten von einem Land, in dem Balaguer[fn]Vizepräsident unter Trujillo und Präsident von 1960-61, 1966-78 und 1986-96. Unter seinen Regierungen gab es schwerste Menschenrechtsverletzungen.[/fn] noch immer verehrt wird.
Was ist mit der Kulturszene, konzentriert die sich auch auf Santo Domingo?
Nein, das kulturelle Leben ist dezentralisierter. Auch in anderen Städten gibt es eine florierende Kulturszene, in San Francisco de Macorís, Baní oder Moca. Aber es gibt keinen Roman über Santiago oder Samaná. Die Leute schämen sich, wir hassen uns. Im Ausland ist es normal, wenn man sagt, ich komme aus Michigan oder Hamburg. Aber hier schämt man sich, wenn man aus Azua kommt oder aus San Juan, die Stadt der Hexerei, oder aus Baní, wo die Frauen mit den hässlichen Beinen herkommen. Das hat sich seit den Kolonialzeiten nicht geändert. Keiner will aus der Provinz kommen, aber alle aus Santo Domingo.
Früher war man stolz, wenn man aus dem Cibao kam, aber das betraf nur die reiche Oberschicht. Trujillo hat ein primitives Konzept der Dominikanität durchgeboxt, per Anordnungen. Jeder musste sein Haus in einer bestimmten Farbe streichen, weil er der Besitzer der Farbenfabrik war. Dann hieß es, Dominikaner kochen nicht mit Schweinefett, sondern nehmen Erdnussöl, weil Trujillo Besitzer riesiger Erdnussfarmen war. Er hat das Land wie einen Privatbesitz organisiert. Seitdem stecken wir in einer kulturellen Identitätskrise.