Der Wahlkampf in Peru beginnt gerade. Mit welchen programmatischen Schwerpunkten gehen die KandidatInnen ins Rennen und wie sind deren Aussichten?
Im Prinzip gibt es im Moment fünf aussichtsreiche KandidatInnen, die alle die politische Rechte repräsentieren. (dies hat sich inzwischen erfreulicherweise geändert, damit Veronica Mendoza von derFrente Amplio in den Umfragen deutlich zugelegt hat und je nach Prognose auf dem dritten oder vierten Platz liegt – die Red.) Für sie alle ist überlebenswichtig, dass die neoliberale Politik im Zeichen des Washington-Konsens[fn]Washington Konsens: von IWF und Weltbank propagierter Akzent auf neoliberaler Wirtschaftspolitik, dem viele lateinamerikanische Länder lange kritiklos folgten[/fn] unangetastet bleibt. Daher zeichnet sich der Wahlkampf durch hohe Aggressivität aus. Der Opposition gegen dieses Modell wird landesweit keinerlei Raum im Fernsehen, den wichtigen Radiostationen und den großen Zeitungen gewährt. Es werden keine wirklichen politischen Debatten geführt, vielmehr hört man einen homogenen Diskurs mit einer einzigen Botschaft: Wir brauchen „Mehr vom Gleichen“. Das heißt, weitermachen mit dem Rohstoffexportmodell, mit noch intensiverer Ausbeutung von Naturressourcen, nicht nur von Bodenschätzen, deren Erlöse wegen der fallenden Weltmarktpreise rückläufig sind, sondern auch von Soja, Kakao und Ölpalmen, für die die Amazonasregion massiv gerodet wird. Sehr laxe Auflagen für die Öl- und Bergbauförderung sowie für Holzeinschlag, Fischfang und Agroindustrie unterstützen dieses Modell.
Die letzte Wahlkampagne lag vor der weltweiten Krise der Rohstoffpreise. Der neoliberale Diskurs konnte also durchaus verfangen. Wieso können sich die führenden KandidatInnen im Zeichen globaler Rezession trotzdem mit den alten Rezepten verkaufen?
Nun, das ist Mythos und Demagogie, was sie betreiben. Sie behaupten, die Lösung bestünde in Expansion. Wenn bislang Bergbau in zehn Prozent des Landes betrieben worden sein, müsse das zukünftig im gesamten Territorium geschehen. Da die Arbeitskraft oder das Wasser in Peru extrem billig seien, müsse Peru in der aktuellen Rezession seine Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Ländern nutzen. In Chile beispielsweise seien die Löhne im Kupferabbau oder die Wasserpreise höher, weil es weniger Wasser gebe und die Umweltauflagen und -kontrollen schärfer seien. Das sei die Gelegenheit für Peru, seinen Export auszubauen, da es eben weniger Umweltkontrollen, mehr Wasserreserven und mehr Erze im Boden habe. Die großen Wortführer aus der Wirtschaft deuten die Krise als Chance für Peru um und fordern gleichzeitig, in deren Namen Löhne, Wasserpreise und Auflagen niedrig zu halten. Das ist absurd.
Es gibt aber auch Stimmen, nicht nur aus der Linken, sondern auch von wenigen Rechten, die sagen: Wir haben ein Jahrzehnt verloren. Wir haben einige notwendige Schritte nicht unternommen. Kolumbien etwa hat in Ölhochpreiszeiten einen Rentenfonds geschaffen. Chile hat seine Wirtschaft weiter diversifiziert und Reserven geschaffen, weswegen das Land jetzt das Thema der öffentlichen Bildung angehen kann. Aber in Peru wurde mit den hohen Rohstoffeinkünften ein großes Fest gefeiert. Vielfach unnütze Infrastruktur wurde gebaut. Die Korruption nahm vormals unbekannte Ausmaße an. Die Präsenz des Drogenhandels in der Politik stieg an und Peru überrundete beim Kokainhandel Kolumbien. Das Parteiensystem wurde stark geschwächt und die Konzentration von wirtschaftlicher und politischer Macht nahm zu.
Wurde in Hochpreiszeiten auch in soziale Infrastruktur investiert?
Ja, aber für wen? Das Straßennetz wurde ausgebaut, wenn auch nicht ausreichend. Früher gab es etwa zwei Flüge wöchentlich zwischen Cajamarca und Lima. Heute sind es sechs Flüge täglich. Der Ausbau der Landepiste wurde über den Bergbau finanziert. Wie viele Menschen aber können sich einen Flug leisten? 68 Prozent der Bevölkerung der Region Cajamarca ist ländlich. Doch für die bäuerliche Landwirtschaft wurden Bewässerungssysteme nicht erweitert und der Marktzugang nicht erleichtert. Die Verbesserungen haben die Gräben zwischen Arm und Reich in Peru vertieft. Das sieht man auch in Städten wie Cajamarca und Lima. Die Mittelschichtsektoren haben jetzt alle Kreditkarten. Sogar die Armen bekommen im Rahmen des Programms Juntos ihre 150 Soles monatlich (ca. 38 Euro) auf einer Kreditkarte. Noch im letzten Dorf steht ein Bankautomat.
Es gibt viel mehr Privatuniversitäten. Wir haben mehr Grundschulen, aber deren Qualität ist miserabel. Nur in Bolivien und Haiti sind die Schulen schlechter. Daher fehlt auch gut ausgebildetes Personal. Stipendienprogramme sollen jetzt für mehr beruflich Qualifizierte sorgen.
Auch das Stromnetz wurde erweitert. Angeschlossen wurden Dörfer, die vorher ohne Strom waren. Aber alternative Energiequellen werden nicht genutzt. Das wäre möglich gewesen, aber Peru hat mit die wenigsten Kleinkraftwerke für Wasser, Sonne oder Wind für entlegene Siedlungen. Stattdessen wurden mehr als 70 Prozent der großen Kraftwerke privatisiert und Strom kommt von weit her. Das Modell zielt auf Reichtums- und Machtkonzentration. Verbesserter Zugang zu Dienstleistungen geht mit einer Vergrößerung des Armutsgefälles einher.
Heute kommen Indígenas aus dem Amazonasbecken mit Stipendium zur privaten Jesuitenuniversität nach Lima, aber ihr Vorbildungsgrad liegt auf Grundschulniveau. Was bringen mehr Schulen, wenn die Lehrergehälter auf niedrigstem Niveau sind? Für Bildung werden in Peru drei Prozent des Haushalts ausgegeben, das ist ein historisches Tief. In Lateinamerika liegt der Durchschnitt zwischen vier und fünf Prozent. Für Wissenschaft und Technologie sind es in Peru ganze 0,4 Prozent des BIP, in Chile dagegen 1,2 Prozent.
Unsere Nachbarländer gehen inzwischen in einigen Bereichen vorsichtig auf Distanz zur neoliberalen Politik. Chile kündigte an, die Verfassung zu ändern und die öffentliche Schulbildung zu stärken. Kolumbien sieht neuerdings den Schutz von Feuchtgebieten sowie die Stärkung der staatseigenen Ölproduktion vor. Peru dagegen verschärft die Privatisierungspolitik noch.
Was kann die Linke in dieser Situation dagegenhalten?
Nun, die Linke in Peru steckt in einer der größten politischen Krisen ihrer Geschichte. Die letzten 40 Jahre linker Geschichte waren von großen Aufs und Abs geprägt. Ende der 70er-Jahre gab es den Übergang von der Militärdiktatur zur repräsentativen Demokratie. Damals war die Linke stark und breit in der Bevölkerung verankert. Dann entstanden bewaffnete Gruppen wie der Leuchtende Pfad und die MRTA. Die Linke wurde für viele Menschen zum Synonym für Gewalt und Terrorismus. Alan García und dann vor allem Fujimori bekämpften unter dem Deckmantel des Krieges gegen die Subversion radikal Gewerkschaften, Bauern, oppositionelle politische Bewegungen. Fujimori wandte faschistoide oder genozidartige Methoden an, angefangen von den Zwangssterilisierungen indigener Frauen bis zum Mord an Linken, ausgeführt durch die Regierung, durch paramilitärische Gruppen oder auch den Leuchtenden Pfad.
Führungsfiguren der Linken wurden umgebracht, Gewerkschaften zum Sündenbock für wirtschaftlichen Niedergang gemacht, deren Rechte eingeschränkt und die sozialen und ökonomischen Systeme wurden dereguliert. Das war das erste große Debakel der traditionellen Linken Perus.
Unterdessen wurde die Linke in den sozialen Bewegungen wieder aktiv. Die Demokratisierung der Gesellschaft Perus in dieser Zeit ist äußerst interessant. Überall entstanden Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, Frauengruppen, Basisgemeinden oder indigene Bewegungen. Nichtregierungsorganisationen begannen eine alternative Entwicklung einzufordern. Das waren aber alles keine politischen Linken im Sinne einer organisierten Alternative zur herrschenden Regierungsmacht. Dennoch führte deren basisdemokratische Stärke letztlich zum Sturz Fujimoris.
Es folgte eine Phase der Hoffnung auf demokratische Regeln, auf Korruptionsbekämpfung. Stichworte sind der erfolgreiche Kampf um die Auslieferung Fujimoris, die Arbeit der Wahrheitskommission, Geschichtsaufarbeitung, Organisationen gegen Zwangssterilisierungen. Überall agieren UmweltverteidigerInnen: In Piura scheiterte das Bergbauprojekt Tampogrande, dann Majaz, in Cajamara Conga, in Espinar Xstrata, in Moquegua ein Abwasserprojekt. Gleichzeitig erfolgte eine Offensive von Freihandelsabkommen genau in dem Moment demokratischer Öffnung. Sie beschnitten gerade erkämpfte Rechte wieder, etwa in den Bereichen der Arbeitsrechte, Gesundheit oder biologischen Ressourcen.
Die politische Linke lebte vor den letzten Wahlen wieder neu auf. Ein Großteil setzte auf einen Caudillo, nämlich Humala. Warnungen aus linken Spektren kamen indessen von zwei Seiten, von zivilgesellschaftlichen Gruppen, genauer von Menschenrechtsgruppen, die an Humalas Vorgeschichte als Militär in Madre Mía im „antisubversiven Kampf“ erinnerten, und von Gruppen wie Tierra y Libertad. Wir machten auf drei Aspekte aufmerksam, erstens auf die Notwendigkeit, das Rohstoffexportmodell vollkommen infrage zu stellen. Entwicklungen in Bolivien, Ecuador und Brasilien seien nicht einfach Vorbilder. Es gelte, sich den Kampf der Indígenas um ihr Land zu eigen zu machen; dann den Kampf gegen den Klimawandel auf der Basis einer anderen Energieversorgung und des Rechts auf Wasser aufzunehmen und schließlich gegen die Landkonzentration vorzugehen, die das Rohstoffexportmodell mit sich bringt. Aber unsere Stimme, ich würde sie menschenrechts- und ökologisch orientiert nennen, war absolut in der Minderheit gegenüber einer traditionellen Linken, die Humala enthusiastisch feierte, an Umverteilung glaubte und Peru in die neue Welle Lateinamerikas einordnen wollte.
Dann kam Humala an die Macht. Er ist letztlich vieles noch aggressiver angegangen als die Rechte. Erst letzte Woche kündigte er die Privatisierung des größten Trinkwasserwerks Perus an, Sedapal in Lima. Das hat schon Fujimori in seiner zweiten Amtszeit versucht und scheiterte. Toledo wollte die Elektrizitätswerke in Arequipa privatisieren, aber es gab einen Aufstand und die Energieprivatisierung wurde gestoppt. Alan García wollte das Programm des vormaligen IWF-Direktors Michel Camdessus zur Wasserprivatisierung durchsetzen und schaffte es ebenfalls nicht. Und dann kommt Humala und macht sich an die Privatisierung eines öffentlichen Unternehmens mit zehn Millionen KundInnen. Wenn das gelingt, werden die anderen, kleineren Wasserwerke in Peru bald folgen. Außerdem stellte Humala den Verkauf der 30 Prozent Energieunternehmen, die noch in öffentlicher Hand sind, in Aussicht. Bei den Häfen ist die Privatisierung bereits weit fortgeschritten. Zurzeit wird die Ausweitung Öffentlich-Privater Partnerschaften für den Bau von Straßen, Brücken, Krankenhäusern oder Schulen vorangetrieben, ein Schleichweg in die Vollprivatisierung. Viele, die Humala gewählt haben, fühlen sich dadurch betrogen. Dagegen proklamiert die Rechte, dass dies alles nicht gestoppt, sondern im Gegenteil noch verstärkt werden müsse.
Weil sie keinerlei Einfluss auf die Regierungspolitik nehmen konnte, wandte sich die Linke bald enttäuscht von Humala ab. Die Frustration war enorm und wirkte demobilisierend. Derzeit bin ich an dem Versuch beteiligt, die Linke erneut in der Frente Amplio zusammenzubringen.
Macht auch die traditionelle Linke dort mit?
Zum Teil. Einige halten uns Umweltleute für zu radikal für Peru. Andere wollten den peruanischen Prozess in den der lateinamerikanischen Linken einbinden, aber wir stehen den neoextraktivistischen Politiken linker Regierungen kritisch gegenüber. Zwei weitere linke Plattformen gründeten sich und scheiterten beim Versuch zu kooperieren. Die Kommunistische und Sozialistische Partei und Ciudadanos por el Cambio entschieden, in die Frente Amplio einzutreten. Jetzt versuchen wir, eine strategische Einheit auf die Beine zu stellen, gegen die fünf neoliberale KandidatInnen mit all ihrem Geld. Unsere Kandidatin ist eine Frau und 35 Jahren jung. Viele Leute um sie herum sind keine alten Hasen in der Parteipolitik.
Wir wissen, dass nach Umfragen mehr als 60 Prozent der PeruanerInnen gegen die traditionellen Politiker jedweder Couleur sind. Mehr als 50 Prozent sind mit dem Wirtschaftsmodell unzufrieden. Die gleichen Umfragen besagen, dass 30 Prozent sich vorstellen könnten, eine linke Kraft zu wählen.
Wir stehen vor folgenden Herausforderungen: Erstens, können wir alle diese Unzufriedenen zusammenbringen? Zweitens, können wir in einer Krisenkonjunktur ein machbares Wirtschaftsprogramm vorstellen? Das bedeutet, nicht nur gegen die Rechte zu kämpfen. Unsere Diskussion zielt auf Neuland. Die extraktivistische Politik ist gescheitert, externe Faktoren wie der Rückgang der Nachfrage Chinas und die Rezession in den USA und Europa sind dabei am sichtbarsten. Aber es geht um eine tiefgreifende Diversifikation der Produktion im Land aus mehreren Gründen.
In dem Kontext steht in unserem Ansatz etwa die Förderung der völlig vernachlässigten kleinen und mittleren Landwirtschaft. 70 Prozent dessen, was heute in Peru auf den Tisch kommt, stammt von der kleinen und mittleren Bauern und Bäuerinnen. Auch die peruanische Gastronomie baut ihren Erfolg auf deren vielfältigen Produkten auf. Mit einer Unterstützung dieser Landwirtschaft könnte zudem die Ernährung in Peru grundlegend verbessert werden. Unterernährung von Kindern und Anämie bei Frauen sind hier sehr gravierend.
Klimaschutz und das Recht auf Wasser müssen zentrale Eckpfeiler sein. Große Betriebe zahlen heute für Wasser nach Selbsteinschätzung. Hier muss die Politik tätig werden, die wahren Kosten eintreiben und Wasserschutzgebiete ausweisen. Dann muss sich die Finanzpolitik ändern. Großunternehmen zahlen für Kredite zehn bis zwölf Prozent jährlich; ein kleiner Betrieb zahlt 30 bis 40 Prozent. Ein Fonds von zehn Milliarden Soles aus den existierenden Devisenreserven könnte Abhilfe schaffen. Damit könnten Kleine bezahlbare Kredite, zum Beispiel für den Ausbau technisch adäquater Bewässerungssysteme, aufnehmen.
Damit sagen wir nur, dass der Staat seine elementaren Pflichten als Garant für Basisdienstleistungen wahrnehmen und sicherstellen soll, dass die gesamte Ökonomie nicht nur von zwei, drei Branchen abhängen darf. Diversifizierung, auch des Exports, ist wichtig. Ein Beispiel: Im Süden des Landes sind in den letzten Jahren zwei Firmen mitten in der Krise um mehr als 160 Prozent gewachsen. Sie verarbeiten Alpaca- und Vicuñawolle. Aber sie erhalten keinerlei Förderung. Der Klimawandel und extreme Temperaturen machen die Produktion jedoch sehr anfällig. Aber genau solche Betriebe müssten von Grund auf bis zur Vermarktung gefördert werden.
Ein anderes Beispiel: Acht Familien kontrollieren mehr als 90 Prozent des Fischfangs in Peru, zwei davon zählen zu den 700 Reichsten der Welt auf der Forbes-Liste. Dabei haben wir mehr als 30 000 kleine Fischer. Was PeruanerInnen essen, stammt mehrheitlich aus deren Fängen. Aber auch sie haben keinen Zugang zu günstigen Krediten, um ein GPS-System oder Kühlsysteme für ihr kleines Schiff zu kaufen. Unseres Erachtens sollte hier eingegriffen und technifiziert werden.
Wir sind auch für den Schutz des Amazonasgebietes. Titel für zwei Millionen Hektar Land müssten auf die Amazonasvölker eingetragen werden, aber nichts bewegt sich. Unternehmer beklagen sich dagegen schon, wenn ein Konzessionsverfahren ein paar Monate dauert. Die Amazonasvölker wollen in ihrem Territorium über ihre Wirtschaftsform bestimmen, egal ob Ackerbau, Aquakultur oder auch Goldabbau, ohne Quecksilber oder Zyankali, im Kleinen. Darüber muss man mit ihnen diskutieren. Schließlich muss auch das Recht auf Konsultation bei Projekten auf ihrem Gebiet respektiert werden. Die ILO-Konvention 169 und das entsprechende Ausführungsgesetz sind toter Buchstabe in Peru.