Vor ziemlich genau 40 Jahren begannen europäische Linke sich für Nicaragua zu interessieren. Damals tauchten in den deutschsprachigen Medien die ersten Berichte über den Widerstand der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN gegen die Diktatur Anastasio Somozas und seines Familienclans auf. Bald formierten sich die ersten Solidaritätskomitees und begannen, die Öffentlichkeit über den Kampf der SandinistInnen und die brutale Repression des Regimes zu informieren.
Nach dem militärischen Sieg der FSLN über Somozas Nationalgarde und dem triumphalen Einzug der Guerilleros/as in die Hauptstadt Managua am 19. Juli 1979 wurde aus der Nicaraguasolidaritätsszene eine echte Bewegung, in der sich Tausende von Leuten engagierten. Neben Öffentlichkeitsarbeit sammelten sie Geld für die Unterstützung von Projekten der revolutionären Regierung und der sandinistischen Massenorganisationen.
Als die Reagan-Regierung in den USA den Aufbau bewaffneter konterrevolutionärer Gruppen, der sogenannten Contra, gegen die sandinistische Regierung organisierte und die Gefahr einer direkten US-Militärintervention 1983/84 immer realer wurde, entsandten Solidaritätsgruppen aus der ganzen Welt Solidaritätsbrigaden nach Nicaragua. Auch aus der Bundesrepublik, Westberlin, Österreich und der Schweiz machten sich Freiwillige auf, um für einige Monate in Nicaragua zu leben und zu arbeiten. Ihr Arbeitseinsatz bei kleineren Bauvorhaben oder bei der Kaffeeernte war eher sekundär, primäres Ziel war die internationale Präsenz in den Konfliktzonen, von der man einen gewissen Schutz der dort lebenden Zivilbevölkerung vor den Terroranschlägen der Contra erhoffte.
Neben den BrigadistInnen, die meist aus dem studentischen Milieu kamen und nur über wenig wirkliche Kompetenz im Bauwesen oder in der Landwirtschaft verfügten, gab es auch InternationalistInnen, die Ärzte, Ärztinnen, Krankenschwestern und -pfleger, TechnikerInnen oder HandwerkerInnen waren, also eine Ausbildung in Berufen hatten, die in Nicaragua damals dringend benötigt wurden. Sie blieben häufig für eine längere Zeit, oft mehrere Jahre, um ihre Kenntnisse weiterzugeben.
Eine solche Internationalistin, Julia, steht im Mittelpunkt des Romans „Momotombo“ von Elisabeth Erdtmann. Sie kommt in den 80er-Jahren nach Nicaragua, um den Aufbau einer Textilkooperative für Frauen zu unterstützen. Wie viele ähnliche Projekte in jener Zeit wird der Aufbau der Genossenschaft von einem Verein in Deutschland materiell unterstützt und in Zusammenarbeit mit einer sandinistischen Organisation, hier dem Frauenverband AMLAE, durchgeführt. Da die Autorin selbst zwischen 1984 und 1988 in einem Ausbildungsprojekt für Frauen gearbeitet hat, kann die Protagonistin des Romans als ihr Alter Ego gelten, wenn auch sicher nicht eins zu eins. So endet Julias Tätigkeit in Nicaragua etwa erst 1990 mit der Wahlniederlage der FSLN.
Die Textilkooperative entsteht in einer ländlichen Gemeinde in einer Region, in der es häufig Überfälle der Contra gibt. Viele der dort lebenden Menschen sind vor dem Krieg geflohen und leben in provisorischen Unterkünften unter äußerst prekären Bedingungen. Sie haben nicht nur Hab und Gut und ihre Existenzgrundlage verloren (viele waren Mitglieder von Agrarkooperativen), sondern auch nahe Angehörige, die bei Angriffen der Contra getötet wurden. Teilweise schwer traumatisiert, haben sie keine Aussicht auf professionelle Hilfe, weil die sandinistische Verwaltung es mit ihren sehr beschränkten Möglichkeiten nicht mehr schafft als die Sicherheit (durch dort stationierte Soldaten) und die medizinische Versorgung zu gewährleisten und die Menschen bei der Errichtung ihrer provisorischen Unterkünfte zu unterstützen.
In diese angespannte Situation kommt Julia. Sie kann eine Reihe von Frauen für die Idee der Kooperative gewinnen und mit Unterstützung der sandinistischen FunktionärInnen vor Ort und der UnterstützerInnen in Deutschland gelingt es auch, diese ans Laufen zu bringen. Die Frauen produzieren Kleidung für Kinder und Erwachsene, die Nachfrage vor Ort ist groß.
Es könnte also eine Erfolgsgeschichte sein, die den beteiligten Frauen zu einem eigenen Einkommen und zu einem größeren Selbstbewusstsein verhilft. Wenn der Krieg nicht wäre. Der greift immer stärker in das Leben der Menschen ein. In kürzer werdenden Abständen werden die sterblichen Überreste getöteter sandinistischen Soldaten ins Dorf gebracht, immer wieder ist ein Angehöriger von Nachbarn oder Bekannten Julias oder der Frauen aus der Kooperative im Kampf gegen die Contra gefallen.
In den 80er-Jahren sind, auch in dieser Zeitschrift, viele Artikel über Nicaragua erschienen, dazu auch eine Reihe von Büchern. In vielen ging es um die US-Strategie der Low Intensity Warfare, also der „Kriegführung niederer Intensität“. Nach dem Vietnam-Debakel setzten Politik- und MilitärstrategInnen in der Reagan-Ära auf eine militärische Zermürbungspolitik gegen unliebsame Regimes. Möglichst ohne direkten Einsatz von US-Truppen sollten Söldner aus den jeweiligen Ländern angeworben, ausbildet und finanziert werden, um die dortigen Regierungen zu bekämpfen. Man ging nicht davon aus, dass diese Truppen in der Lage wären, militärisch zu siegen, vielmehr sollten sie durch dauernde Angriffe und die Zerstörung wichtiger Infrastruktur den Bevölkerungen vermitteln, dass es mit ihren Regierungen keine Perspektive für Frieden und Wohlstand gebe. Das wussten wir damals alles und es hat uns wütend gemacht und motiviert, etwa in der Antiinterventionskampagne der Mittelamerikasolidarität, gegen diese Politik und ihre Unterstützung durch die deutsche Bundesregierung zu kämpfen.
Dennoch habe ich vor der Lektüre von „Momotombo“ nie so klar wahrgenommen, wie diese Zermür-bungs-taktik kontinuierlich über Jahre den Alltag der Menschen in den Konfliktzonen prägte und sie immer mehr entmutigt und abgestumpft hat. Dies konkret und nachvollziehbar zu machen, ist eine der Stärken des Romans.
Eine weitere Stärke ist die Reflexion Julias über ihre eigene Rolle. Sie ist nach Nicaragua gegangen, um die dortigen Veränderungen zu unterstützen, und arbeitet mit großem Engagement in einem durch die Revolution möglich gewordenen Projekt, merkt aber auf Schritt und Tritt, dass sie nur Gast, nicht Teil des Prozesses ist. Gleichzeitig erlebt sie immer wieder, welche Fürsorge und Herzlichkeit ihr Freundinnen, Bekannte und ganz normale Nachbarinnen entgegenbringen. Es sind vor allem die Frauen, deren Kraft und Wärme sie fasziniert. Aber es bleibt eine unsichtbare Grenze, die nicht zu überschreiten ist. Denn nicht sie ist es, die Angehörige durch Überfälle der Contra verliert und sich Tag für Tag um ihre Söhne sorgen muss, die ihren Wehrdienst im Krieg leisten. Julia lernt, das zu akzeptieren und damit umzugehen, ohne zynisch zu werden oder die Überheblichkeit der Weißen des Nordens an den Tag zu legen.
Medium der Reflexion über ihre Rolle und deren Widersprüche sind lange Gespräche, überwiegend mit NicaraguanerInnen, teilweise auch mit anderen InternationalistInnen. Das ist nachvollziehbar, führt aber dazu, dass die Dialoge in Teilen des Romans etwas überfrachtet sind und sie auch die Funktion haben, die Handlung voranzutreiben oder den LeserInnen notwendige Hintergründe über die Entwicklung Nicaraguas zu vermitteln. Das bedeutet keineswegs, dass die Dialoge misslungen wären, viele sind sehr aufschlussreich und machen die Widersprüche deutlich, in denen Julia und viele der SandinistInnen permanent agieren. Aber insgesamt hätte ich mir etwas schmalere Dialogpassagen gewünscht, manche Informationen wären in einem Nachwort zum historischen Kontext besser aufgehoben gewesen.
Trotz dieser Einschränkung habe ich „Momotombo“ mit großen Gewinn gelesen. Denn der Autorin ist es trotz des inzwischen großen zeitlichen Abstands gelungen, die Stimmung der 80er-Jahre rüberzubringen. Bei einzelnen Passage kam mir wie damals die Wut hoch, was die Verantwortlichen in Washington mit Unterstützung ihrer Verbündeter damals den Menschen in Nicaragua angetan haben, deren „Verbrechen“ es war, etwas Würde und ein besseres Leben einzufordern.
Vor einiger Zeit las ich einen Artikel, in dem die InitiatorInnen von einer nicaraguanischen Ausstellung über die Alphabetisierungskampagne 1979/80 berichteten. Das „Museum“ war ein Bus, der viele Orte Nicaraguas anfuhr und den jeweiligen EinwohnerInnen die Möglichkeit bot, die Ausstellung zu sehen. Vor allem junge Nicas seien fasziniert gewesen und hätten erzählt, dass sie darüber eigentlich sehr wenig wüssten, obwohl die Alphabetisierung in den Unterhaltungen der Älteren manchmal erwähnt würde. Wenn schon in Nicaragua vieles dem Vergessen anheim fällt, wie ist es dann erst hier? Wie sollen sich Jugendliche heute vorstellen, was Nicaragua und die sandinistische Revolution vor 30 oder 35 Jahren für Menschen in ihrer Altersgruppe bedeutet hat, wie das, was dort geschehen ist, auch ein Stück weit deren Entwicklung mit bestimmt hat. Heute wissen wir (und damals ahnten wir), dass vieles davon Projektion war. Aber abgesehen davon gab es sehr viel echtes Interesse, ehrliche Solidarität und fundierte politische Reflexion. Daran lohnt es sich, sich zu erinnern. Elisabeth Erdtmann hat dies mit ihrem Roman „Momotombo“ getan und die, für die Nicaragua etwas bedeutet hat oder für die es heute wichtig ist, sollten ihn lesen.