Über Kriminalromane zu schreiben ist eine heikle Aufgabe. Man soll etwas über ein Buch sagen und darf doch nicht allzu viel verraten, weil die Lektüre sonst nicht mehr spannend ist. Was für den Kriminalroman im Allgemeinen zutrifft, gilt im Besonderen für die Bücher des in Cuba lebenden Uruguayers Daniel Chavarría. Kann man bei den meisten Krimis immerhin auf den Inhalt eingehen und muss sich nur verkneifen das Ende der Geschichte preiszugeben und stattdessen zur beliebten Formulierung des „überraschenden Schlusses“ greifen, darf man bei Chavarría eigentlich schon über die Story kaum etwas sagen, weil sich die meist erst in der zweiten Hälfte der Bücher wirklich erschließt. Eine Handlungsskizze in der Besprechung würde also den späteren LeserInnen des Romans die Irritation ersparen, dass sie auf den ersten hundert Seiten des Buches überhaupt nicht wissen, worauf das Ganze hinauslaufen könnte.
Auch wenn Chavarría für mich neben dem Asturo-Mexikaner Paco Ignacio Taibo II und dem brasilianischen Altmeister Ruben Fonseca zu den großen Drei des lateinamerikanischen Kriminalromans gehört, ist sein Werk im deutschsprachigen Raum noch relativ unbekannt. Zwar sind bis 2002 schon fünf Bücher des Autors in deutscher Übersetzung erschienen, die aber in vier verschiedenen Verlagen, was der Verbreitung und Pflege des Werks eines Schriftstellers nicht gerade förderlich ist. Da zudem hierzulande das Feuilleton Titel zu ignorieren pflegt, die direkt als Taschenbücher erscheinen, überging es bisher auch weitgehend Daniel Chavarría, denn einzig sein Roman „Die sechste Insel“ ist 1984 als Hardcover erschienen, der aber in der DDR, ein anderer Grund für die bundesdeutsche Kritik, Buch und Autor nicht zur Kenntnis zu nehmen. Nun hat sich mit der Edition Köln endlich ein Verlag vorgenommen, die Veröffentlichung der Bücher Chavarrías im deutschsprachigen Raum zu betreuen. Seit dem letzten Jahr sind dort drei seiner Romane in gebundener Form erschienen, erstmalig auf Deutsch „Jenes Jahr in Madrid“ und „Das Rot im Federkleid des Papageien“, sowie „Die sechste Insel“ als Neuauflage.
Chavarría gehört nicht zu den Krimiautoren, die denselben Ermittler/dieselbe Ermittlerin in jedem Buch von neuem losschicken, um es mit den Widrigkeiten der Welt aufzunehmen. Genau genommen wird in seinen Büchern überhaupt nicht ermittelt. Bei der Lektüre von „Jenes Jahr in Madrid“ hat man lange Zeit nicht den Eindruck, es mit einem Kriminalroman zu tun zu haben. Der Erzähler, der in diesem Fall identisch mit dem Autor zu sein scheint, berichtet, wie er sich auf seiner ersten großen Reise von Uruguay nach Europa auf dem Schiff unsterblich in eine argentinische Mitreisende namens Gaby verliebt. Gerade erst 19jährig und in Liebesdingen reichlich unerfahren, umgarnt er die um einiges ältere, verheiratete Frau. Doch die zeigt dem Grünschnabel zunächst die kalte Schulter. In Madrid kommen sich die Beiden dann doch näher, aber nicht wirklich nah, weil Gaby ihm nach einigen Wochen eröffnet, dass sie von einem Deutschen schwanger sei und nach München reisen werde, um mit ihm zu leben. Jahrzehnte später ist Daniel Chavarría anlässlich einer Lesung bei einer Solidaritätsgruppe in München zu Gast und beim abendlichen Gespräch in der Kneipe erzählt er diese Geschichte. Da müsse er doch den Aufenthalt nutzen, um zu sehen was aus Gaby geworden sei, meinen die Münchener GenossInnen. Tatsächlich findet sich im örtlichen Telefonbuch ein Eintrag mit dem Namen Kurt von Pahlen, jenem Deutschen, wegen dem sie seinerzeit nach München gezogen war. Er ruft tatsächlich dort an, doch Gaby trifft er nicht. Vielmehr erzählt ihm von Pahlen nach langem Zögern, Gaby habe ihn damals nach nur wenigen Monaten verlassen, um mit einem Uruguayer namens Daniel Chavarría zu leben. Nun wird die Geschichte mysteriös und der Rezensent hüllt sich in Schweigen ob ihres weiteren Verlaufs.
„Das Rot im Federkleid des Papageien“ spielt dagegen in Cuba, aber zwei der drei Hauptpersonen, deren Wege sich in Havanna kreuzen, sind Argentinier. Da ist zum einem Aldo, ein in Italien erfolgreicher Geschäftsmann. Hinter der strahlenden Fassade verbirgt sich ein zutiefst traumatisierter Mann, der durch die Hölle der geheimen Gefängnisse der argentinischen Diktatur gegangen ist und dort seine Compañera und seine Selbstachtung verloren hat. Der andere Argentinier, Alberto, residiert in Cuba als Repräsentant eines uruguayischen Unternehmens. Auch er war in den argentinischen Folterkellern, allerdings nicht als Opfer, sondern als Täter. Nach der Diktatur lebte er zunächst als Geschäftsmann in Uruguay, doch wurde er dort von seinen Opfern aufgespürt und Zielscheibe eines Attentats, welches er nur knapp überlebte. Auf der Suche nach einem sicheren Ort zum Untertauchen hatte er die geniale Idee, sich mit falscher Identität als Geschäftsmann in Cuba niederzulassen, dort würde ihn sicherlich kein Linker vermuten. Er wäre vermutlich auch nie aufgefallen, wäre er nicht Kunde der Jinetera (Prostituierten) Bini geworden. Denn deren Dienste nimmt auch Aldo bei einem Besuch Cubas in Anspruch. Was der Autor aus dieser Konstellation macht, wird natürlich nicht verraten. Nur soviel: Es lohnt sich absolut, diesen spannenden Politthriller zu lesen. Er setzt sich nicht nur auf ganz neue Weise mit den Themen Straflosigkeit, Rache und Gerechtigkeit auseinander, sondern zeichnet auch ein differenziertes Bild der cubanischen Gesellschaft in der so genannten Spezialperiode. Während die meisten versuchen, sich irgendwie durchzuschlagen und dabei halbwegs sauber zu bleiben, pflegen die neuen Reichen, wie zum Beispiel ausländische Geschäftsleute, einen pompösen Lebensstil. Sie wedeln mit ihren Dollars und denken, sich damit alles und jedeN kaufen zu können.
Wieder eine ganz andere Geschichte ist „Die sechste Insel“. Dieses Buch wird auf dem Cover als „Abenteuerroman“ bezeichnet. Und tatsächlich bietet es alle Zutaten, die dieses Genre ausmachen: finstere Gestalten, furchtlose Piraten, sogar so etwas wie edle Ritter – nur die guten Herrscher, für deren Ruhm und Ehre die Helden kämpfen, sucht man vergebens. So wird aus dem Leben des Uruguayers Bernardo Piedrahieta berichtet, der uns zur Zeit des Zweiten Weltkriegs als frommer Jesuitenzögling in Argentinien begegnet, später aber der Mutter Kirche den Rücken kehrt und in der Welt allerlei Abenteuer erlebt. Dazu bekommen wir gleich eine Einführung in die Geschichte und Struktur der „Gesellschaft Jesu“. Weiter erleben wir in dem Roman den Aufstieg eines ITT-Managers mit besonderen sexuellen Vorlieben, der im Verlauf der Geschichte Opfer einer Entführung wird, wobei nebenbei die Historie des genannten Konzerns höchst spannend aufbereitet wird. Schließlich bringt uns das Buch noch die Lebensbeichte des Alvaro de Mendoza zur Kenntnis, eines spanisch-flandrischen Edelmannes im 17. Jahrhundert, der nach diversen Händeln und Kriegen in Europa auf einem niederländischen Kriegsschiff in die Karibik kommt und sich dort Piraten anschließt. Fast überflüssig zu erwähnen, dass auch in diesem Erzählstrang das politische Panorama jener Zeit und die Kolonialpolitik der europäischen Mächte detailliert ausgebreitet ist. Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Wie bringt der Autor das alles zusammen? Die darf natürlich nicht beantwortet werden, aber soviel dann doch: Es gelingt ihm virtuos.
Daniel Chavarría ist ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler, der seine LeserInnen in den Bann schlagen kann. Aber er tut das nicht nur um der Geschichten willen, eher schon um der Geschichte willen. Denn seine Romane sind immer auch Geschichtsbücher, die die herrschende Sicht der Geschichte dekonstruieren. Danach setzt er die Fragmente anders zusammen und schreibt die Geschichte neu. Er tut dies aus einer Perspektive, die man vor zehn/fünfzehn Jahren sicher als „von unten“ bezeichnet hätte. Aber auch das trifft es nicht ganz, denn seine Protagonisten sind nicht einfach im klassischen Sinn „unten“, es können durchaus Erfolgsmenschen sein, die sich aber der herrschenden Logik konsequent verweigern und ihre eigenen Maßstäbe, ihre eigene Moral haben, aus denen sie ihr Handeln ableiten. Damit verweigert sich der Autor Chavarría auch der Einordnung in einfache Kategorien. Er kommt ebenso als post-moderner Dekonstruktivist wie als altmodischer Moralist daher und sieht sich gleichzeitig der Aufklärung und damit der Moderne verpflichtet.
Doch damit der Widersprüche nicht genug: Als politischer Autor hat er ein klares Verständnis von Gut und Böse, von Rechts und Links, von Täter und Opfer. Doch sind es die Täter, die ihn besonders interessieren. In „Das Rot im Federkleid des Papageien“ ist es der Folterer, dem er den meisten Raum widmet, dessen Psychologie er bis ins Detail auslotet, den er abstoßend faszinierend zeichnet. In „Die Wunderdroge“, einem anderen tollen Roman, der hoffentlich bald neu aufgelegt wird, ist es ein Faschist und CIA-Agent, der als ungeheuer attraktiv, intelligent und mutig beschrieben wird und gleichzeitig als ein menschenverachtender Zyniker der Macht. Chavarrías Romane sind hintergründig, sehr humorvoll, aber auch voller Fallstricke, weil sie sich eindeutigen Charakterisierungen verweigern und vermeintlich positive Werte hinterfragen. Das macht sie so spannend und einzigartig. Schön, dass sie endlich alle auf Deutsch erscheinen!