Fälscher für die internationale Revolte

Seine erste Reise nach Lateinamerika macht Lucio 2008. Er fährt nach Argentinien, Uruguay und Brasilien, um den Dokumentarfilm[fn]Lucio. Anarquista, Atracador, Falsificador pero sobre todo … Albañil (Lucio – Anarchist, Bankräuber, Fälscher, aber vor allem … Maurer). Von Jose Mari Goenaga und Aitor Arregi, 90 min, Baskenland 2007[/fn] vorzustellen, der im Vorjahr über ihn erschienen ist. Bei der Veranstaltung in einer anarchistischen Druckerei in La Teja, einem Arbeiterstadtteil von Montevideo, meldet sich ein älterer Mann zu Wort: „Lucio, du kennst mich nicht, aber ich möchte mich bei dir bedanken für alles, was ihr für uns getan habt, für die Tupamaros, für uns Anarchisten, für alle.“ Sein Sohn ist ebenfalls zur Veranstaltung gekommen. Als Kind hatte er eines Tages seinen Teddybär aufgeschnitten und darin eine große Menge Dollars gefunden. Das gab Ärger mit seinem Vater, der dort das Geld, das er mit gefälschten Citibank-Schecks abgehoben hatte, für die Bewegung bunkerte. „Ich erinnere mich noch gut an diese Geschichte. All die Jahre habe ich davon geträumt, dich kennenzulernen.“

Solche Erlebnisse hat Lucio immer wieder, seit er öffentlich über seine Abenteuer spricht. Unzählige Menschen griffen damals auf das Geld und die falschen Papiere aus Paris zurück, aber nur wenige kannten den unauffälligen Anarchisten, der im Zentrum dieser Infrastruktur stand. Sein größter Coup ging zu Lasten der Citibank, einer der weltweit größten Banken. Lucio und seine Freunde druckten Ende der 70er Jahre zentnerweise deren Travellerschecks nach. Die Fälschungen waren so gut gemacht, dass sie in den Filialen nicht erkannt werden konnten. Überall auf der Welt lösten GenossInnen die Schecks ein. Die Citibank spricht von einem Betrug in Höhe von mehr als 15 Millionen US-Dollar.

Für Lucio war immer klar, dass dieses Geld „für die Sache“ bestimmt war und nicht für private Zwecke. Seinen Lebensunterhalt als Arbeiter zu verdienen war ihm wichtig. Bis zu seinem 72. Lebensjahr arbeitete er als Maurer und Fliesenleger auf dem Bau, zunächst für verschiedene Unternehmen und später – nach dem gescheiterten Versuch, mit einigen Compañeros eine Kooperative aufzubauen – in seinem eigenen Betrieb. Währenddessen genoss er es, mit vollen Händen geben zu können und den Bewegungen stapelweise gefälschte Papiere und Geld zukommen zu lassen. Tupamaros und Anarchisten aus Uruguay, Montoneros aus Argentinien, Gewerkschafter aus Bolivien, Befreiungskämpfer aus Mittelamerika, Deserteure des Vietnamkrieges, Black Panther, Militante aus bewaffneten Gruppen in Europa… im Pariser Exil trafen sich Revolutionäre aus aller Welt. Mit diesen Kontakten wurde ein Netz der Solidarität geknüpft. Wer alles letzten Endes mit dem Geld der Citibank und den falschen Papieren unterstützt wurde, kann Lucio bis heute nicht sagen. Er war und ist mit vielen bewaffneten Aktionen der betreffenden Gruppen und Organisationen nicht einverstanden. Aber er war immer bereit, verfolgte Compañeros, die für ihre Ideale kämpften, praktisch zu unterstützen. Wenn ein befreundeter Compañero mit einem Hilfeersuchen für andere an ihn herantrat, fragte er nicht weiter nach, sondern machte sich an die Arbeit.

Lucio ist selbst Migrant. Er wurde 1931 in einem kleinen Dorf in Navarra, im spanischen Baskenland geboren. Seine Kindheit war geprägt von extremer Armut und dem Terror der Franquisten. Schon früh musste er arbeiten. Ende der vierziger Jahre stieg er mit seinem Bruder ins Schmuggelgeschäft ein. Immer wieder überquerten sie die Pyrenäen und brachten Waren über die spanisch-französische Grenze. Kurz danach wurde er zum Militärdienst eingezogen. Dort ermöglichte ein Posten im Lager den Ausbau der Geschäfte. Gemeinsam mit anderen schaffte er tonnenweise Material aus der Kaserne. Als diese Aktivitäten entdeckt wurden, desertierte er 1954 nach Frankreich. In Paris fand er Arbeit auf dem Bau, wo er andere Flüchtlinge aus Spanien kennen lernte. Er freundete sich mit anarchistischen Kollegen aus Katalonien an, die ihm libertäre Ideen näherbrachten. Sie führten ihn ins Zentrum der CNT ein, wo sich Arbeiter und Intellektuelle zu Vorträgen und Diskussionen trafen. Für Lucio erschloss sich eine neue Welt.

1957 lernte er Francisco „Quico“ Sabaté kennen – eine der entscheidenden Begegnungen in seinem Leben. Quico war damals einer der meistgesuchten Anarchisten in Spanien. Er hatte im Bürgerkrieg gekämpft und 1939 nach Frankreich fliehen müssen. Aber er reiste immer wieder nach Spanien ein, um sich an bewaffneten Sabotageaktionen zu beteiligen. Er überfiel Banken, um den Widerstand gegen Franco zu finanzieren, und transportierte in Frankreich gedrucktes Propagandamaterial über die Grenze nach Spanien. Als er einen Unterschlupf in Paris brauchte, brachten ihn anarchistische Compañeros zu Lucio. Zwischen den beiden entwickelte sich eine enge Freundschaft. Um einer drohenden Auslieferung nach Spanien zu entgehen, beschloss Quico, sich den französischen Behörden zu stellen und eine Haftstrafe in Frankreich abzusitzen. Vorher übergab er Lucio sein Waffenarsenal.

Damit begann Lucios Geschichte als Enteigner der Banken. Mit Quicos Maschinenpistole und einem Kumpel, der genauso wenig Erfahrung in diesem Metier hatte, überfiel er Sparkassen in Paris, planlos und unmaskiert, doch sie hatten Glück. Sie wurden nicht geschnappt und brachten bis zu Quicos Entlassung aus dem Knast eine ordentliche Summe zusammen, die dann den Gefangenen des Franco-Regimes in Spanien zugute kam. Aber die Methode gefiel Lucio nicht. Ihn quälte die Vorstellung, dass eine Bankangestellte oder er selbst bei einer solchen Enteignung mit Waffengewalt sterben könnte – und das nur wegen Geld. So entwickelte er mit befreundeten anarchistischen Druckern bessere Ideen. Sie nutzten bestehende Druckereien, um dort in klandestinen Nachtschichten besondere Produkte herzustellen: Ausweise verschiedener Länder für die vielen Flüchtlinge, Lohnschecks spanischer Banken und schließlich die Travellerschecks der Citibank.

Auch die Fälschung von Dollarnoten war Anfang der 60er Jahre bereits vorbereitet. Lucio war damals ein großer Bewunderer der cubanischen Revolution und überlegte, wie er die Compañeros gegen das Imperium unterstützen könnte. Wäre es nicht möglich, die USA zu destabilisieren, indem sie den Markt mit gefälschten Dollars überschwemmten? Er hatte sich mit der cubanischen Botschafterin in Paris angefreundet und erzählte ihr von der Idee. Sie stellte den Kontakt her, und 1962 traf sich Lucio in der Nähe von Paris mit Che Guevara, um ihm den Vorschlag zu unterbreiten, diese Fälschungsaktion gemeinsam in Angriff zu nehmen. Aber der damalige cubanische Wirtschaftsminister ließ sich nicht dafür begeistern.

Rechtsanwälte empfahlen Lucio, statt Dollars lieber Schecks zu fälschen, da die Strafe im Falle einer Verhaftung geringer wäre. Dazu kommt es 1980: In einem Pariser Café wird Lucio mit einem Koffer voll falscher Schecks festgenommen. Er kommt in U-Haft und die Lage sieht düster aus. Aber draußen gehen die Geschäfte mit den falschen Schecks weiter. Das Netzwerk funktioniert auch ohne Lucio. Für die Citibank wird das zu einem ernsthaften Problem. Viele Filialen nehmen die Travellerschecks nicht mehr an, die Touristen sind empört und der Ruf der Bank ruiniert. So lässt sie sich notgedrungen auf Verhandlungen mit dem Delinquenten ein. Gegen Herausgabe der Druckplatten und das Versprechen, keine weiteren Citibank-Schecks zu drucken, würde sie auf die Strafverfolgung verzichten. Lucio legt noch einen drauf, verlangt im Gegenzug eine Entschädigung – und bekommt sie.

Trotz seiner beeindruckenden Serie von Gesetzesbrüchen ist es Lucio gelungen, nur relativ wenig Zeit in Knästen zu verbringen. Die Polizei traute dem einfachen Arbeiter und Migranten derart ausgefuchste Aktionen lange Zeit nicht zu, und Lucio selbst war sehr verschwiegen. Nur wenige wussten von seinen nächtlichen Aktivitäten. In Frankreich wurde er 1974 zum ersten Mal verhaftet, im Zusammenhang mit der Entführung eines spanischen Bankdirektors, einer Protestaktion gegen die Hinrichtungen in Spanien. Mangels Beweisen mussten er und seine Frau Anne nach kurzer Zeit wieder freigelassen werden. Und auch der Knastaufenthalt wegen der Citibank-Schecks endete dank des Geschicks seiner prominenten Anwälte und der Verhandlungen mit der Bank schon nach einem halben Jahr. Zum Glück hat sich Lucio im Ruhestandsalter doch noch entschlossen, seine Erfahrungen öffentlich zu machen. Seine Autobiografie ist soeben auch auf Deutsch erschienen.

Lucio Urtubia: Baustelle Revolution – Erinnerungen eines Anarchisten, Übersetzung: Alix Arnold und Gabriele Schwab, Verlag Assoziation A, ISBN 978-3-935936-84-2, 256 Seiten, 19,80 Euro