Man ist sie leid geworden, diese Familienchroniken aus Lateinamerika, diese Verheißungen von Spannungsbögen über drei Generationen, mit starken Frauen, denen die Gesellschaft nicht zugesteht, das Heft in der Hand zu haben, und die daher immer im Hintergrund blieben, bis dass die Jüngste sich schließlich traut und allein ihren Weg macht. Was bei Gioconda Bellis, Isabel Allendes oder Marcela Serranos Erstlingen einen originellen Blick auf weibliche Genealogie verhieß, hat sich längst abgegriffen. Nicht nur wegen der immergleichen Klappentexte, nicht nur wegen der unweigerlichen Stammbäume auf der ersten Innenseite. Die vorhersehbare Emanzipation einer – meist weiblichen – Schlüsselfigur, die die Logik des Bildungsromans letztlich nicht überwindet, macht solche Romane unzeitgemäß, ja trivial.
Nun ist „Antonio“ auch eine Familienchronik über drei Generationen. Doch der Roman ist alles andere als eine Neuauflage des überkommenen Modells. Beatriz Bracher hat mit ihm die Gattung runderneuert. Zunächst einmal der Titel. „Antonio“ ist noch gar nicht geboren. Damit dieses Ungeborene eine Gegenwart und eine Zukunft bekommt, muss seine Vergangenheit erst noch rekonstruiert werden. Die bevorstehende Geburt Antonios ist das Motiv, das den zukünftigen Vater, Benjamin, antreibt, Gewissheit über seine eigene Vergangenheit und Familie zu suchen. Denn in der Familie gibt es, wie so oft, ein Geheimnis. Der gründlich Verunsicherte, seine Wurzeln Erkundende, ist in Brachers Roman ein Mann. Die Mutter Antonios kommt bemerkenswerterweise nicht vor.
Benjamin befragt bei seiner Spuren- und Sinnsuche zwei Freunde der Familie, Raul und Haroldo, sowie die an Krebs erkrankte Großmutter Isabel an ihrem Sterbebett. Die Reihenfolge der kapitelweise Sprechenden folgt keinem erkennbaren Prinzip. Es gibt keine ordnende oder erklärende Instanz. Raul, Haroldo und Isabel antworten einem „Du“, also Benjamin, der selbst nie spricht. Damit hat die Verunsicherung des künftigen Vaters sein Pendant im Schwebezustand der/des Lesenden. Wer spricht, hat zunächst einmal (sein/ihr) Recht, was gerade gewonnene Zuordnungen immer wieder in Frage stellen lässt. Nur allmählich fügt sich ein Bild von Antonios Familie zusammen. Es verweist auf eine Gesellschaft im Wandel, in der Geschlechterverhältnisse wanken. Das wiederum ist nicht nur befreiend. Die Familie ist jedenfalls kein Rettungsanker für ihre Mitglieder. Intellektuell gehört sie zur Mittelschicht, ökonomisch aber verliert sie zunehmend an Boden.
Die in São Paulo lebenden Urgroßeltern, zeichnet sich ab, waren in den 50er Jahren strikt gegen die Beziehung ihres Sohnes Xavier, eines vielversprechenden jungen Rechtsanwaltes im Praktikum, zu der erst fünfzehnjährigen Waisen Elenir, vor allem wegen des sozialen Gefälles. Xavier wendet sich von seinem Freundeskreis ab, zieht aufs Land und mit Elenir zusammen, ein Junge wird geboren. Das Baby überlebt die bei einer so jungen Frau sehr schwierige Geburt nur wenige Tage. Die Eltern holen Xavier zu sich zurück, Elenir verschwindet zunächst einmal aus der Geschichte – wie gesagt, es gibt keinen allwissenden Erzähler.
Xavier fügt sich seinen Eltern, klinkt aber ob des Verlustes aus. Irgendwann heiratet er Isabel, eine Literaturwissenschaftlerin. Die beiden bekommen vier Kinder. Das tote Kind Xaviers, der fünfte Bruder, ist der abwesende Anwesende, das Tabu der Familie. Xavier ist Chaot und Künstler, ruiniert mit verrückten Projekten das familiäre Budget zusehends, dazu hat er vor Isabel verheimlichte Affairen. Er ist ein fröhlicher, aber auch schwieriger, widersprüchlicher Vater und stirbt früh. Isabel dagegen ist erfolgreich in der Fakultät, zu Hause das Gegenteil einer Glucke.
Die in den 50er- und 60er-Jahren geborenen Kinder wachsen zu sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten heran, wohl auch als Reaktion auf das Elternhaus, in dem die klassischen Rollenvorgaben aufgeweicht sind, ohne anders neu definiert zu sein. Das unmittelbare Umfeld der Diktatur wie der internationale Kontext Anfang der 70er Jahre tun ein Übriges. Wenn es eine Botschaft der Eltern für die Kinder gab, sagt Isabel einmal, dann die: jegliche Verantwortung zu hassen, gleichzeitig aber immer die Besten zu sein. Ein schwieriger Auftrag! Nur Henrique macht „normale“ Karriere, Leonor wird Musikerin, Flora Hippie. Der 1960 geborene Teo lässt irgendwann die Uni sausen, geht aufs Land nach Minas Gerais, will mit den Armen leben. Bei einem Krankenhausaufenthalt verliebt er sich in eine etwas ältere Ärztin, Elenir. Die beiden werden ein Paar. Elenir wird mit 45 schwanger, stirbt bei der Geburt.
Wusste Teo, dass er und sein Vater mit ein und derselben Frau mit dreißig Jahren Abstand ein Kind gezeugt haben? War es seine Art, den Vater zu überwinden? Ödipus? Nach Elenirs Tod zieht Teo das Kind allein auf, kümmert sich zunächst liebevoll um den Jungen, fällt aber irgendwann zunehmend in geistige Umnachtung und stirbt. Das Kind ist Benjamin, der künftige Vater Antonios, Halbbruder seiner Onkel, das „Du“ des Romans auf der Suche nach einer stimmigen Vergangenheit.
Am Ende des Romans fehlen einige Puzzleteile dauerhaft. Das muss so sein. Der Anlage des Romans nach wird keine Frage explizit gestellt, daher gibt der polyphone Chor Rauls, Haroldos und Isabels auch nur unvollständige Antworten. Im Schlusskapitel des Romans kann Großmutter Isabel nicht mehr sprechen, sie ist gestorben. Das Krankenzimmer ist leer, als Benjamin eintrifft. In einem wunderbaren Bild, das hier nicht beschrieben werden soll, deutet Beatriz Bracher an, dass alles herausmuss und wie befreiend es ist, wenn es denn alles herauskommt. Auch wenn es erst einmal erschreckt. Es sind, wen wundert’s, die Frauen der Familie, die das als erste begreifen und für sich akzeptieren.
„Antonio“ ist der dritte Roman der 1961 geborenen Beatriz Bracher und ihr erster in deutscher Übersetzung. 2008 war er Finalist für den Jabuti-Preis. Auch die beiden anderen Romane Brachers machen neugierig, insbesondere Não falei („Ich habe nichts gesagt“ – Besprechung in ila 386) von 2004 über einen vermeintlichen Verräter, der die Militärdiktatur überlebt. Der wird 2014 ebenfalls bei Assoziation A erscheinen.