Feminicidios werden wieder unsichtbar

Interview mit dem mexikanischen Rechtsanwalt David Peña

Soeben ging eine international besetzte Mission zu Ende, die zehn Tage lang den Stand der Bekämpfung der feminicidios in Zentralamerika und Mexiko untersucht hat. Wie hat sich die Gewalt und die öffentliche Aufmerksamkeit dafür in den letzten Jahren entwickelt?

Ich würde die Frage gerne zunächst anhand von Ciudad Juárez beantworten. Ich selbst arbeite seit 2002 zu feminicidios in Ciudad Juárez und vertrete mehrere Fälle von verschwundenen und ermordeten Frauen.
In Ciudad Juárez hat der allgemeine Anstieg der Gewalt in den letzten vier Jahren dazu geführt, dass die feminicidios sozusagen unsichtbar geworden sind. Zielscheibe der eskalierenden Gewalt sind heute nicht nur Frauen, sondern alle: Jugendliche, Erwachsene, es kann jedeN treffen. In den Mordstatistiken fallen daher Morde an Frauen gar nicht mehr auf. Von 2006 bis heute zählt man durchschnittlich 2500 bis 2600 Morde pro Jahr in der Stadt. Von den Opfern sind acht bis zehn Prozent Frauen. Logischerweise ist es schwierig auszumachen, wie viele davon unter die Kategorie feminicidios fallen. 

Ein junges Mädchen beispielsweise liegt vergewaltigt und ermordet auf der Straße. Wenn es zwei, drei Schusswunden aufweist, schließen die Behörden: Das war organisierte Kriminalität. Wir haben den Fall eines feminicidio an einer 15-Jährigen. Sie wurde tot auf der Straße gefunden und wies Spuren einer Vergewaltigung auf. Aber sie war mit Klebeband geknebelt. Für die Behörden war damit klar: organisiertes Verbrechen. Das heißt, heute ist es möglich, jeden Frauenmord der Kategorie organisiertes Verbrechen zuzuschlagen, egal, ob das Opfer vergewaltigt und/oder verstümmelt wurde. Das hat den Kampf gegen feminicidios in Ciudad Juárez komplizierter gemacht.

Anfang der 90er Jahre hat Ciudad Juárez traurige Berühmtheit damit erlangt, dass in dieser Stadt das Phänomen des feminicidio erstmals als solches beschrieben und damit fass- und bekämpfbar gemacht wurde. Da ist es geradezu grotesk, dass es genau hier wieder unmöglich zu werden scheint, Frauenmorde als spezifische Form der Gewalt hervorzuheben und zu bestrafen.

Wir haben versucht, das Thema im Bewusstsein zu halten, indem wir über die Verschwundenen reden. Verschwindenlassen hat ebenfalls mit organisierter Kriminalität zu tun, aber das ist nicht direkt evident. Und es betrifft Frauen in besonderer Weise.

Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Der Kampf gegen Drogenhandel hat dazu geführt, dass sich einige Kanäle geschlossen haben. Der Drogenhandel musste sich diversifizieren. Bekanntlich ist der Drogenhandel der lukrativste Zweig, danach kommt Menschen- und etwa gleichrangig Waffenhandel. Das heißt, wem der Drogenhandel verwehrt ist, verlegt sich auf den nächstgrößten Markt, nämlich Entführungen und Menschenhandel – nicht nur zur Grenzüberquerung in die USA, sondern auch mit spezifisch sexuellen Absichten, also Frauenhandel. Viele Netzwerke, die anfangs nur mit Drogen handelten, haben sich inzwischen darauf verlegt. Aus diesem Grunde stieg die Zahl der Verschwundenen von 2006 auf 2007 um 400 Prozent. Betroffen waren vor allem junge Mädchen. Von 2007 auf 2008 stieg die Zahl nochmals um 130 Prozent. Und entsprechend erhöhte sich die Zahl in den letzten Jahren weiter.

Wir bemühen uns, das Verschwindenlassen als eine Form der feminicidios sichtbar zu machen. Warum? Viele der Frauen, die irgendwann ermordet aufgefunden werden, waren vorher verschwunden, eine Woche, einen Monat, Monate oder sogar Jahre. Der vom Staat angeführte Begründungszusammenhang – das organisierte Verbrechen – stimmt so nicht oder meist nicht, was weiter in den Vordergrund gerückt werden muss.

Nun lässt sich die Lage in Ciudad Juárez nicht ohne weiteres auf ganz Mexiko übertragen.

Richtig. Zunächst ist es sozialen Netzwerken in den letzten Jahren gelungen, die Präsenz und den Anstieg von Frauenmorden zu dokumentieren. Das Problem aber ist geblieben: keine Behörde will ernstlich eingreifen, weder auf Länder- noch auf Bundesebene. Auf Bundesebene sind eine Staatsanwaltschaft für Delikte im Bereich Gewalt gegen Frauen und Menschenhandel und eine Sonderkommission für Prävention und Abschaffung von Gewalt gegen Frauen zuständig. Weder die eine noch die andere sind real in der Lage, Untersuchungen oder auch nur eine öffentliche Präventionspolitik in Sachen Gewalt gegen Frauen durchzuführen. Die Regierung präsentiert diese beiden Instanzen als Beweis, dass sie sich des Phänomens annimmt, aber sie zeitigen keinerlei effiziente Ergebnisse. Auf Länderebene weigern sich Staatsanwaltschaften weiterhin, Frauenmorde als geschlechtsspezifische Form von Gewalt anzuerkennen. Von daher stellen sie weder Personal noch Gelder bereit, um feminicidios zu untersuchen, zu bekämpfen und Präventionskampagnen zu initiieren.

Mit anderen Worten, nach all den Jahren, in denen die Sensibilisierung für feminicidios allmählich gewachsen und diese spezifische Form der Gewalt ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist, führen die Schaffung der beiden Instanzen auf Bundesebene und die Bewilligung einiger öffentlicher Gelder dazu, dass die Aufmerksamkeit wieder schwindet. Selbst auf internationaler Ebene hat der Druck auf Mexiko nachgelassen. Offenbar glaubt man, das Thema sei gelöst oder zumindest im Griff.

Neben dem Europäischen Parlament hat sich auch Spanien eine Zeitlang für geschlechtsspezifische Gewalt in Mexiko interessiert, ebenso Finnland. Es gab eine Reihe von Botschaften, die bei der mexikanischen Regierung vorstellig wurden, ebenso amnesty international und FIDH (Internationale Liga für Menschenrechte). Einige haben Berichte verfasst, aber keine hat den vormaligen Druck auf Mexiko aufrechterhalten. Vorher hat die Regierung schon nicht gerade viel unternommen, jetzt wo der Druck nachlässt, macht sie noch weniger.

Ist aus Zentralamerika Erfreulicheres zu berichten?

In fünf Ländern, Nicaragua, Guatemala, Honduras, El Salvador und Mexiko findet derzeit eine gemeinsame Kampagne gegen feminicidios statt, um an diesem Beispiel Gewalt gegen Frauen anzuprangern und Erfahrungen auszutauschen. Guatemala hat einige richtungweisende Gesetze in dieser Hinsicht verabschiedet, in Mexiko sind verschiedene Netzwerke und Organisationen aktiv, in El Salvador ist ein bestimmtes medizinisches Protokoll bei Fällen sexueller Gewalt sehr interessant. Die Idee ist, bis Mitte nächsten Jahres die Grundzüge für ein Standardprotokoll ausgearbeitet zu haben, das bei jedem Verdacht auf feminicidio zur Anwendung kommen könnte. Damit meine ich eine Art Handbuch zu dem, was die Behörden tun müssen, sobald sie vom Mord an einer Frau erfahren: Was muss die Polizei am Tatort alles bedenken und aufnehmen, welche Spuren müssen wie gesichert werden, was muss der Untersuchungsrichter am Tatort tun, bevor der Leichnam abtransportiert wird, was muss die Pathologie beachten, wie müssen die Verletzungen ausgewiesen werden? Denn ein Mord an einer Frau kann nicht genauso dokumentiert und untersucht werden wie der an einem Mann.

Wir haben großen Wert darauf gelegt, vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof nachzuweisen, dass ein Mord an einem Mann oder sogar an einer Frau, der im Rahmen einer Abrechnung innerhalb des organisierten Verbrechens in Ciudad Juárez begangen wird, etwas anderes ist als ein Mord an einer Frau oder einem jungen Mädchen aus dem alleinigen Grund, dass sie eine Frau ist und dass daher auch andere Entschädigungszahlungen an die Hinterbliebenen zu leisten sind. Die Anerkennung des feminicidios als Mord aus geschlechtsspezifischen Gründen durch den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof (CIDH) war ein sehr wichtiger Beitrag für die internationale Rechtsprechung. Noch einmal: Nicht alle Morde an Frauen geschehen aus diesem Grund; aber es gibt eine spezifische Form des Mordes, der an Frauen allein aufgrund ihres Frauseins begangen wird – das ist jetzt internationale Rechtsprechung.

Was ist seither geschehen? Hat Mexiko das Urteil gegen sich umgesetzt?

Das Campo Algodonero-Urteil war in mehrerlei Hinsicht bahnbrechend, ich nenne nur die Anerkennung des feminicidio als geschlechtsspezifische Gewalt, dazu die erstmalige Anerkennung, dass ein Staat jenseits der Interamerikanischen Menschenrechtskonvention auch die Konvention von Belem do Pará über Gewalt gegen Frauen verletzen kann. Des Weiteren bestimmt der Gerichtshof Reparationszahlungen aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive, deren Nutznießerinnen Frauen sein müssen. Er urteilt, dass die Beweisaufnahme künftig geschlechtsspezifische Kriterien einbeziehen muss. Außerdem sieht das Urteil eine vom Staat bezahlte Öffentlichkeitskampagne in Ciudad Juárez vor, etwa mit Fernseh- und Kinospots, um gegen das negative Frauenbild anzugehen, das den Nährboden für feminicidios bildet.

Das Urteil ist ein Jahr alt und die mexikanische Regierung hat nur einen Punkt erfüllt, sie hat die Veröffentlichung des Urteils im Amtsblatt bezahlt. Sicher, einige Aspekte setzen einen Prozess voraus. Für die Entwicklung der Standardisierung geschlechtsspezifischer Protokolle etwa hat die Regierung drei Jahre Zeit. Dazu muss eine verlässliche Datenbank über verschwundene Mädchen und Frauen mit genetischen Profilen erstellt werden, die diesen 10. Dezember stehen sollte, was nicht der Fall sein wird. So eine Datenbank ist wichtig. Ciudad Juárez ist eine Stadt voller MigrantInnen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass viele der Ermordeten aus dem Süden Mexikos, aus Guatemala oder El Salvador stammen. Sie haben vielleicht keine Verwandten in Ciudad Juárez, so dass niemand sie sucht. Der Leichnam wird eine Zeitlang im Leichenhaus aufbewahrt und dann anonym beerdigt. Es wäre auch wichtig, die genetischen Daten mit Zentralamerika auszutauschen.

Ist das eine realistische Forderung – Mexiko wollte noch nie mit Zentralamerika in einen Topf geworfen werden?

Auf der Ebene von Netzwerken arbeiten wir schon ziemlich gut zusammen. Jede Gruppe muss nun intern Druck auf die jeweilige Regierung ausüben. Das Urteil von Campo Algodonero muss weit über Ciudad Juárez auch institutionell auf die gesamte Region ausstrahlen. Dazu ist auch internationale Aufmerksamkeit und Druck gefragt.