Bereits einmal, 1997, bekamen deutschsprachige LeserInnen eine zweisprachige Ausgabe von Gedichten der zeitgenössischen nicaraguanischen Autorin Michèle Najlis in die Hände: „Gesänge der Iphigenie/Cantos de Ifigenia“ (Klagenfurt/Celovec: Drava Verlag). Nun wird uns ein neuer Ausschnitt aus dem dichterischen Schaffen der ursprünglich als sandinistische Revolutionspoetin bekannt gewordenen Michèle Najlis präsentiert, in deren Namen sich sowohl ihre französischen als auch osteuropäisch-jüdischen Wurzeln manifestieren: Ihr Großvater Henri Nakhliss war aus Odessa nach Frankreich ausgewandert, wo er heiratete und vier Kinder zeugte. In den späten 30er Jahren gelangte die Familie nach Nicaragua, wo Michèle 1946 geboren wurde. Sie lehrte an der Universidad Centroamericana (UCA) Literatur und bekleidete nach dem Sieg der FSLN 1979 wichtige Posten als Leiterin der Migrationsbehörde sowie als Beraterin des Unterrichtsministeriums.

Von 1990 bis 1996 war sie Directora de Cultura der UCA, lange Zeit arbeitete sie auch in der Kulturabteilung des Fernsehens und unterhielt eine wöchentliche Kolumne in der Zeitung El Nuevo Diario in Managua. Dort entspann sich 2007 eine heftige Polemik zwischen ihr und dem erzkonservativen Kardinal Miguel Obando y Bravo wegen dessen Anbiederung an den Sandinistenführer Daniel Ortega. Auch protestierte Najlis zusammen mit anderen intellektuellen und kunstschaffenden Frauen (wie z.B. Claribel Alegría, Vidaluz Meneses und Gioconda Belli) gegen das im Oktober 2006 erlassene strenge Abtreibungsverbot, das sogar im Fall von medizinisch begründeter Indikation bzw. Vergewaltigung mehrjährige Haftstrafen für die betroffenen Frauen und behandelnden Ärzte und Ärztinnen einführte.

Diese biographischen Informationen über die Autorin sollten im Auge behalten werden, wenn wir uns aus literarischer Sicht die prinzipielle Frage stellen, ob wir es bei den hier vorliegenden Texten überhaupt mit „Lyrik“ in herkömmlichem Verständnis zu tun haben oder nicht eher mit Gebeten – eine Frage, deren nicht ganz einfache Auflösung wohl der Perspektive der LeserInnen überlassen bleiben muss. Am deutlichsten werden Nachklänge und Anklänge an die spanische Mystik des Siglo de Oro, etwa eines San Juan de la Cruz, spürbar, dem auch der Titel La Soledad Sonora zu verdanken ist, Zitat aus seinem bekannten Cántico, der auch sonst immer wieder intertextuell durchscheint. Andere „Quellen“, aus denen sich die rituell-poetischen Texte in fast biblischem Sinne speisen, sind – wie könnte es anders sein – das Alte Testament, hier vor allem die Psalmen und der Prophet Jesaias, aber auch Thomas von Aquin, Gregor von Nazianz, Meister Eckhardt, Francisco de Quevedo, Rubén Darío, José María Arguedas, Octavio Paz und ein junger nicaraguanischer Dichter, Héctor Avellán (geboren 1973).

Untergliedert wird das schmale Büchlein (96 Seiten, spanisch und deutsch) in zwei Hauptteile, deren erster Liturgia de las Horas (Stundengebet) betitelt ist und deren zweiter nicht nur Misa Solemne heißt, sondern auch die bekannten liturgischen Texte, wie Introitus, Confiteor, Kyrie, etc. zum Ausgangspunkt von eigenständigen Variationen nimmt. Interessant sind die Abwandlungen, die durch eine feministische Grundhaltung traditionelle Bilder sprengen, etwa wenn Gott im Credo als Mutter und „Heilige Materie“ apostrophiert wird:

Ich glaube an Gott, die Mutter, die barmherzige
Schöpferin des Flammenbaums und der blühenden 
Felder,
und an die Heilige Materie, Kore, ihre Tochter
empfangen durch ein Werk der Liebe […]
und lacht und spielt zu Rechten ihrer Mutter […] (S. 59)

Ansonsten sind sowohl die Textstrukturen als auch die Bilder für eine ehemalige Revolutionsdichterin überraschend konventionell, mit zahlreichen rhetorischen Figuren wie Anaphern und Epiphern sowie liturgisch-beschwörenden Wiederholungen, die dem Corpus einen sakralen Charakter verleihen. Überwiegen am Anfang semantisch negativ besetzte Elemente aus dem entsprechenden Titelteil „Einsamkeit“ (Soledad), so findet gegen Ende ein langsames Übergleiten in einen „jubilierenden“ Ton statt (das „Tönende (Sonora) aus dem Titel). Auffallend ist hier die zunehmende „Feminisierung“ des Diskurses, der auch eine verstärkte erotische Note hinzugewinnt.

Der erste Teil wendet sich an ein lyrisches Du, das manchmal mit Señor (Herr), manchmal mit Dios (Gott), manchmal als Amado (Geliebter) bzw. Amor (Liebe) bezeichnet wird, jedenfalls aber männlich ist; auch die Personal- und Possessivpronomina der 2. Person sind meist (aber nicht durchgehend) in Ehrfurcht heischender Form groß geschrieben: Tu nombre (Deinen Namen), wobei der Übersetzer diese Tradition ebenfalls nicht immer konsequent durchgehalten hat. Was Gerhard Hammerschmied ausgesprochen gut getroffen hat (und dafür ist er als Theologe bestens geeignet), ist der rituell-liturgische, feierliche Ton auch im Deutschen, mit all den uns aus Messbesuchen bekannten Formeln. Auch sein Nachwort, in dem er den Schwerpunkt auf die „Vielfalt der Kulturen und Inschriften“ (S. 92) und auf die Jahrhunderte andauernde „Unterdrückung des Weiblichen“ (S. 94) in der herkömmlichen Theologie und Frömmigkeit legt, ist sehr aufschlussreich und einfühlsam.

Alles in allem also eine durch die zweisprachige Ausgabe vielfältig einsetzbare Textsammlung, die einerseits LiebhaberInnen nicaraguanischer Lyrik ästhetischen Lesegenuss bringen wird, andererseits aber auch für interdisziplinäre Projekte zwischen Spanisch- und Religionsunterricht sehr brauchbar ist, insbesondere im Sinne einer gewissermaßen „poetischen“ feministischen Theologie.

Michèle Najlis: „Tönende Einsamkeit – La Soledad Sonora“. Übertragen von Gerhard Hammerschmied. Geleitwort Janko Ferk und Gerhard Hammerschmied. Klagenfurt/Celovec – Laibach/Ljubljana – Wien/Dunaj: Verlag Mohorjeva Hermagoras, 2006/2007. ISBN 978-3-7086-0274-5, 96 Seiten, 12,- Euro

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