Wenn Sie zufällig Ende Oktober in unsere Siedlung Kami hoch oben in den bolivianischen Anden kommen, mögen Sie sich fragen, welches Fest die Bergarbeiterfamilien gerade feiern mögen. Es beginnt mit einem Besuch, der an verschiedene Türen klopft, um Familienangehörige und Freunde einzuladen, sich in den kommenden zwei Wochen aktiv an den Festlichkeiten bei sich zu Hause zu beteiligen. Diese Einladung wird begleitet von Wein und einem kleinen Teller mit etwas Wurst, Salat, Käse und Oliven, eine Art Vorspeise. Es ist nicht das einzige Haus im Ort, sondern verschiedene Familien laden ihre Freunde und Verwandten zum Fest ein. Die restliche Gemeinde organisiert sich in Gruppen von Gleichaltrigen, um gemeinsam bekannte Lieder und Tänze einzuüben oder auch ein paar neue zu komponieren. Damit wollen sie an den Festtagen so viele Familien wie möglich aufsuchen, bei denen gefeiert wird.
Doch zunächst helfen noch die Freunde und Verwandten bei den Vorbereitungen. Die wichtigste: das Backen der T’anta Wawas, der „Brotkinder“, aus Mehlteig gestaltete Figuren in Form von Menschen, Tieren, Sternen, der Sonne, dem Mond… Am Ende wird auf einem Tisch ein Altar aufgebaut, auf dem einige der T’anta Wawas Platz finden; darüber hinaus Blumen, Palmwedel, Gerichte, Getränke, Obst und allerlei Zuckerwerk. Jede Familie schmückt ihren Altar in ihrer eigenen Weise. Die Männer müssen noch die Wallunk’as aufbauen. Das sind an hohen, tief in den Boden gerammten Baumstämmen zum Schaukeln befestigte Seile. Derweil kneten manche erwachsene Frauen noch den Teig für besondere T’anta Wawas. Diese formen sie zu einer weiblichen Gestalt, die die Mutter Erde darzustellen scheint. Diese Figur werden sie einer anderen Frau anbieten, mit der sie in Zukunft eine Art Gevatternschaft eingehen wollen, die ähnlich respektiert wird wie Familienbande oder die Beziehung zu den Paten. Diese Beziehung wird später an der Wallunk’a besiegelt. Am 31. Oktober um die Mittagszeit ist es endlich so weit. Das Fest, das nicht nur in den Bergwerkszentren, sondern überall in Bolivien gefeiert wird, kann beginnen. Alle versammeln sich in den Häusern, um die Hauptpersonen des Festes in Empfang zu nehmen: Es sind die Seelen… schließlich ist Todos Santos.
Das Allerheiligenfest ist in den andinen Kulturen ein Ritual der Begegnung zwischen den Wesen, die wir noch immer auf dieser Seite des Seins leben, die Erde, Kay Pacha, genannt wird, und jenen Verwandten, die sich auf der Reise durch den Leib der Muttererde, dem Ukju Pacha, befinden. Alle, die in diesem Leben ein geliebtes Wesen verloren haben, bereiten sich mit Verwandten, Freunden und Nachbarn darauf vor, unsere verlorenen Seelen auf die bestmögliche Weise zu empfangen. Deshalb ist der Tag der Toten – ein Fest und deshalb wird er seit langer Zeit als solches auch gefeiert. In der vorkolonialen Zeit wurden zum Fest der Seelen die Mumien (Chullpas) aus ihrem heiligen Grab nach Hause getragen, um ihnen Opfergaben, etwas zu essen und zu trinken zu geben. Eine Woche lang wurde mit ihnen gefeiert, um sie dann bis zum nächsten Jahr in ihr Grab zurück zu bringen.
Heute nehmen die T’anta Wawas den Platz der Chullpas ein. Zwar wurden musikalische Elemente und religiöse Symbole aus dem Christentum in die Rituale einbezogen, doch der ursprüngliche Kern blieb erhalten, die aus dem Tod geborene Fruchtbarkeit, worauf wir später noch eingehen werden. Am ersten Festtag werden die Seelen derer erwartet, die als Kinder gestorben sind. Die Jungen und Mädchen des Dorfes pilgern von Haus zu Haus und bieten im Chor ihre Gebete und Gesänge dar. Jedes Kind bekommt dafür ein T’anta Wawa, manchmal auch ein Bonbon oder etwas zu trinken. Am Ende des Tages tragen sie einen Sack nach Hause, der vollgefüllt ist mit Brot und Süßem.
Am zweiten Tag kommen die als Erwachsene Verstorbenen, die machu almas. Und diesmal gehen auch die Erwachsenen von Haus zu Haus. Die aber singen nicht, sondern beten nur am Altar und bekommen dafür T’anta Wawas, Zuckerbrot und alkoholische Getränke. Wer um die Mittagszeit kommt, erhält ein richtiges Essen, zubereitet nach dem Geschmack des Verstorbenen. Am späten Nachmittag wird das Fest dann privater, es wird wieder gegessen, getrunken und die ganze Nacht gespielt. Am dritten Tag werden die Seelen verabschiedet. Wieder trifft man sich zur Mittagszeit, nur diesmal auf dem Friedhof. Erneut baut jede Familie einen Altar auf dem Grab des Verstorbenen auf und erwartet die Gruppen derer, die vorbeikommen, um wieder für den Verstorbenen der Familie zu beten und zu singen. Am späten Nachmittag wird eine Person, die den Verstorbenen gekannt haben muss, gemeinsam mit der Familie den Verstorbenen in einem letzten Ritual verabschiedet. Dafür bekommt er all das, was auf dem Altar noch übrig ist.
Damit endet der erste Teil des Festes. Mit dem Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, zieht sich die Gemeinde langsam vom Friedhof zurück. Hinter all dem verbirgt sich ein Opferritual. Man opfert dem Tod, um ihm den Hauch des Lebens zu geben, mit dem neues Leben geschaffen werden, Leben wiedererschaffen werden kann. Auch deshalb verwandelt sich das T’anta Wawa von der Gestalt des Todes zur Darstellung von Mutter Erde. Und das heißt: des Überflusses, der Fruchtbarkeit, des Lebens. Und damit beginnt der zweite Teil des Festes, der sich vor allem an der Wallunka, der großen Schaukel, abspielt.
Die ein oder andere Frau wird mit ihrem speziellen T’anta Wawa nun die von ihr ausgewählte Gevatterin besuchen, um die Freundschaft zu besiegeln. Einige hängen hoch oben und schwer erreichbar kleine Körbe vor der Schaukel auf, die mit Eiern und Süßigkeiten gefüllt und außen mit Geldscheinen, Blumen und Papierschlangen geschmückt sind. Alle alten und neuen Gevatterinnnen werden nun eingeladen, auf die Schaukel zu steigen und sich hochzuschaukeln, um einen Korb herunter zu fischen. Währenddessen machen sich die Frauen in kurzen Versen über die Männer lustig. Zwei der Männer sind dazu abgestellt, die Frauen mit kleineren Seilen, die an das große Seil geknüpft sind, in Bewegung und in die Höhe zu bringen. Die anderen Männer antworten in improvisierten Versen auf die Beleidigungen. Dabei geht es recht derbe zu, dennoch wird der Augenblick auf poetische Weise eingefangen.
K’ellu t’ika loma ay palomitay
Puka t’ika loma por vos viditay,
Kasaray munasqa ay palomitay
Burrukanka aycha por vos viditay.
Gelbe Blüte vom Hügel, ei, mein kleines Täubchen
Bunte Blume vom Hügel, für dich, mein kleines Leben
Haut wie gegerbtes Eselsfell, ei, mein kleines Täubchen
Ausgerechnet der will mich heiraten, für dich, mein kleines Leben.
Sauce wallunk’ita, ay palomitay
Molle wallunk’ita por vos viditay
Kasaray munani, ay palomitay
Wawan suyaj jina por vos viditay.
Kleine Schaukel aus Weidenholz, ei, mein kleines Täubchen
Kleine Schaukel aus Molleholz, für dich, mein kleines Leben
Ich will nur heiraten, um zu warten, ei, mein kleines Täubchen
Während ihre Tochter heranwächst, für dich, mein kleines Leben.
All dies spielt sich so oder ähnlich beim Fest der Seelen in den Dörfern der Tälerregion oder der Hochebene Boliviens ab. Und tatsächlich ist die Art, wie wir Bergarbeiter dieses Fest feiern, im Kern eine Wiederholung dessen, was wir aus den ländlichen Gemeinden mitgebracht haben, als wir in die Bergbaugebiete gezogen sind. Und wir haben diese Form des Feierns bewahrt, weil wir die Nabelschnur zu den ländlichen Gemeinden, aus denen wir stammen, nie ganz getrennt haben. Sicher, die meisten von uns Bergarbeiterfamilien haben versucht, unseren indigenen Ursprung zu leugnen. Und beim Handel und Tausch von Produkten haben wir Beziehungen etabliert, die unsere Brüder benachteiligen.
Und wen verwundert es, dass wir nach Jahrhunderten der Ausbeutung der indigenen Bevölkerung den Fortschritt nur mit der ökonomischen Messlatte bestimmen. Und niemand wird ihnen das legitime Recht verweigern, sich zu wünschen, dass ihre Kinder nicht so unter Diskriminierung zu leiden haben, wie sie selbst gelitten haben, nur weil sie Quechua oder Aymara sind. Außerdem bedeutete, zwischen 1950 und 1975 Bergarbeiter zu sein nicht nur, in der sozialen Rangordnung eine Stufe über den „Indios“ zu stehen, sondern man stand auf Tuchfühlung mit der Moderne. Die ersten elektrischen Küchengeräte, Fleisch in Dosen, das Fernsehen und sogar das Kino gab es früher in den Bergbaugebieten als in mancher bolivianischen Stadt. Doch letztendlich haben die fehlende Sicherheit in den Bergwerken und die um sich greifenden Krankheiten wie Staublunge dazu geführt, dass tief im Innern des Bergwerks und der Seele der Bergleute ununterbrochen der Dialog zwischen Leben und Tod geführt wird. Deshalb ist der Bergmann auf den Pakt mit den Wesen angewiesen, die Mutter Erde bewohnen, und ganz besonders mit den bösen Wesen wie dem Teufel, der sich hinter der Bezeichnung des Tio, des Onkels, verbirgt. Diese Wesen sollen den Bergmann schützen, und dafür bringt er sein Opfer. Doch trotz aller Opfer, trotz dieses Paktes, ist der Friedhof in Kami immer überbevölkert. Und deshalb strömen die Massen an Allerheiligen zu diesem Ort. Wahrscheinlich ist es für die Bergarbeiterfamilien das wichtigste Fest des Jahres.
Und deshalb finden auch die Familien, die nach der Krise des Bergbausektors in die Städte oder andere Länder abgewandert sind, immer einen Weg, unsere Traditionen zu feiern und neu zu beleben. Egal, wo wir sind, in Cochabamba, Santa Cruz, Spanien, Italien oder England. Bei meiner Feier in diesem Jahr in Osnabrück begleiten mich in Gedanken auch die am 11. September im bolivianischen Pando ermordeten indianischen Kleinbauern, die am 27. September im kolumbianischen Medellín zusammen mit ihren Kindern getötete Friedensaktivistin Olga Marina Vergara und die in den USA geborene Menschenrechtlerin Marcella Sali Grace, die in Oaxaca ermordet wurde.