Vier Dokumentar- und vier Spielfilme zeichnen ein lebendiges Bild eines Landes im Griff von organisierter Kriminalität und staatlicher Repression, von individuellem Leiden und kollektiver Angst und vom langen Weg, das Lachen und die Hoffnung zurückzuerobern. Die Regisseurinnen setzen sich dabei in ganz verschiedener Art und Weise mit den weiblichen Protagonisten und ihrer Gefühlswelt auseinander. So begleitet Christiane Burkhards Tranzando Aleida („Auf den Spuren Aleidas“, Mexiko 2008) eine junge Frau auf der Suche nach ihrem Bruder. Als Kinder des „Schmutzigen Kriegs“ im Mexiko der 70er-Jahre, als die Regierung ihren brutalen Militäreinsatz mit dem Kampf gegen verschiedene Guerillagruppen begründete, von ihren verschleppten Eltern getrennt, wuchsen sie bei unterschiedlichen Adoptivfamilien auf. Nur durch Zufall erfährt Aleida von ihrer wahren Identität und lernt ihre leibliche Großmutter kennen. Sie begibt sich daraufhin auf die schmerzliche Suche nach ihrem großen Bruder, stets begleitet von Regisseurin Christiane Burkhard, die zur engen Vertrauten wurde. Als sie ihn in Washington findet, beginnt die zaghafte Annäherung zwischen Fremden, die keine sein sollten. Für Aleida wird diese Suche nach ihrem Bruder mehr noch zur Suche nach sich selbst, nach der Frau, die sie sein will. Christiane Burkhard macht mit diesem Film über das von der damaligen PRI-Regierung getrennte Geschwisterpaar, das seine wahre Identität erfuhr und sich wiederfand, auf ein Thema aufmerksam, das in Mexiko und der Welt lange totgeschwiegen wurde. Wo in den letzten Jahren 30 000 Menschen gewaltsam verschwanden, ist das Trauma ein kollektives, doch es fehlt jegliche psychologische Betreuung und die Unterstützung der Behörden beschränkt sich auf leere Versprechen. Kein einziger der Verantwortlichen des gewaltsamen Verschwindenlassens der 70er-Jahre, einer bis heute fortgesetzten Methode, wurde bislang verurteilt.
Bekannter ist die Praxis des Verschwindenlassens von der Militärregierung in Argentinien. El Tiempo Suspendido („Unterbrochene Zeit“, Mexiko 2015) von Natalia Bruschtein erzählt die Geschichte von Laura Bonaparte, Mitbegründerin der Bewegung Madres de Plaza de Mayo, die sich aktiv gegen das historische Vergessen einsetzen und Wiedergutmachung einfordern. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in Mexiko, wo sie selbst das verlor, wofür sie ihr Leben lang gekämpft hatte: die Erinnerung.
Auch Tatiana Huezos Kurzfilm Ausencias („Abwesenheiten“, Mexiko/Slowakei 2015) handelt von einer Frau, die mit der Abwesenheit ihres entführten Ehemanns und des Sohnes zu leben lernen muss.
Als besonderes Fundstück zeigte das IFFF La mujer de nadie („Niemandes Frau“, Mexiko 1937), den ersten von einer Frau gedrehten Tonfilm Mexikos. Weniger politisch motiviert, karikiert er aber doch eine von Männern dominierte Gesellschaft, in der Schein oft wichtiger ist als Sein. Adela Sequeyro, die gleichzeitig Regie führte und die weibliche Hauptrolle spielte, verdreht als Ana María drei jungen Bohemiens den Kopf und lockt sie aus ihrer von Nichtigkeiten geprägten Welt der Lebemänner, in der Frauen keinen Platz haben. La mujer de nadie ist ein erstaunlicher Film über Liebe, Leidenschaft und Eifersucht im Mexiko der 30er-Jahre, vor allem aber ein Loblied auf die Macht der Frau.
Ebenfalls aus dem ansonsten durch und durch politisch- aktuellen Duktus der anderen Filme fällt Sabrás que hacer conmigo („Du wirst wissen, was mit mir zu tun ist“, Mexiko 2015) von Katina Medina Mora. Der Spielfilm über das holprige, ungelenke Sich-Verlieben von Isabel und Nicolás ist im gut situierten mexikanischen Umfeld platziert, wo wir keine ernsthaften Probleme vermuten. Doch dass schon die erste Begegnung der beiden im Krankenhaus stattfindet, lässt die Abgründe hinter der Fassade erahnen. Ebenso holprig, wie sich die Liebe des jungen Paares entwickelt, erfahren auch die ZuschauerInnen erst nach und nach, welche inneren Kämpfe beide ProtagonistInnen mit sich austragen und welche Hindernisse sie überwinden, um zueinander zu finden. Das tragische Ende der leidenschaftlichen Liebe trifft dann umso heftiger. Mit der Dramatik einer ernsthaften Erkrankung befasst sich auch der auf realen Fakten beruhende Spielfilm A los Ojos („In die Augen“, Mexiko 2015), in dem Victoria und Michel Franco von der Sozialarbeiterin Mónica erzählen. Deren Sohn leidet an einer schweren Augenerkrankung und das mexikanische Gesundheitssystem ist ihr keine große Hilfe. So sieht sie sich gezwungen, extreme Maßnahmen zu ergreifen. Der Film führt uns nah heran an das Leben der Straßenkinder von Mexiko-Stadt. Er will wachrütteln, uns nachdenken lassen über ethische Grenzen und eine Realität, die wir jeden Tag sehen, aber die uns selten ins Bewusstsein dringt.
Alejandra Sánchez‘ Film Seguir viviendo („Weiterleben“, Mexiko 2014) befasst sich vorrangig mit den Folgen von Gewalt für das Umfeld der Betroffenen. Die Journalistin Martha soll die Geschwister Jade und Kaleb nach Mexiko-Stadt bringen. Die Mutter der beiden wurde Opfer eines Attentats und liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Der Film nimmt sich Zeit, um auf der Reise die Emotionen der drei ProtagonistInnen zu erzählen, die alle mit dem Verlust eines geliebten Menschen konfrontiert sind und versuchen müssen, angesichts des Schmerzes weiterzuleben. (vgl. Interview in dieser ila)
Der große Sturm aber fegte über das IFFF in Gestalt des gleichnamigen Films Tempestad (Mexiko 2016) hinweg. Tatiana Huezos Tempestad ist ein Dokumentarfilm von einer solchen Heftigkeit, wie man sie selten auf der Leinwand sieht. Er verwebt die Leidensgeschichten zweier Frauen, die in die Fänge der organisierten Kriminalität in Mexiko geraten sind. Mit der Protagonistin, einer Jugendfreundin der Regisseurin, begibt sie sich auf eine Reise quer durchs Land, von Matamoros nach Tulúm, einmal die Atlantikküste hinunter. Dabei erzählt die Protagonistin von ihrem Schicksal als eine von zahlreichen pagadores, Menschen, die für die Verbrechen mächtiger krimineller Organisationen unschuldig im Gefängnis landen. Das Gesicht der Erzählerin sehen wir dabei nie: „Damit wollte ich eine unendliche Verletzbarkeit ausdrücken. In dem Film werden viele Gesichter gezeigt. Es handelt sich nicht um ein Einzelschicksal, es könnte jeden treffen“, erklärt Tatiana Huezo im Filmgespräch. Wenn wir dann die Bilder vom wolkenverhangenen, sturmgeschüttelten Mexiko sehen, sind wir gefangen im Strudel der abgrundtiefen Empfindungen. Gebrochen wird die Erzählung immer wieder durch die Geschichte einer Zirkusartistin, deren Tochter Entführungsopfer der organisierten Kriminalität wurde. Tatiana Huezo gibt uns Raum zum Nachdenken, sie verlangt viel von den ZuschauerInnen. Aber sie zeichnet auch den Weg zurück ins Leben nach, den Sonnen- strahl am Gewitterwolkenhimmel.
Aufschlussreich wurde das Programm des Filmfokus besonders durch die Anwesenheit mehrerer der Regisseurinnen, die in Filmgesprächen Rede und Antwort zu ihren Werken standen. Für die ZuschauerInnen bot dies die Möglichkeit, sich nicht nur emotional, sondern auch geistig einspannen zu lassen von den Filmen und sich einzudenken, eindenken zu müssen, in das facettenreiche Mexiko von heute. Ein Filmfokus, der in Herz und Kopf nachklingt.