Das Jahr 2011 war gekennzeichnet durch weltweite Proteste, die in ihrer Kraft und Ausdauer – ähnlich wie vor 20 Jahren der Fall des sowjetischen Sozialismus – weder von Wissenschaft noch Publizistik vorhergesehen wurden. Selbst in den Epizentren der globalen Finanzökonomie entstanden Formationen des Widerstands. So zeigt die Occupy-Bewegung exemplarisch, dass es auch in den reichsten Regionen der Welt zunehmend Menschen gibt, die sich an den Rand gedrängt fühlen und nach Antworten suchen. Viel wurde geschrieben über „die Wutbürger“ oder „die Empörten“ in Griechenland, Spanien oder London.
Dass Menschen gegen herrschende Missstände demonstrieren und nach Alternativen suchen, ist in Lateinamerika kein neues Phänomen. Finanzkrisen, Sparprogramme, soziale Marginalisierung und auch vielfältige Praktiken des Widerstands gehören zur bewegten Geschichte des Kontinents. Deswegen ist es in Lateinamerika mittlerweile zu Versuchen gekommen, die staatlichen Politiken zu verändern und – zumindest rhetorisch – den Kapitalismus zu überwinden. Unklar ist allerdings, wie das aussehen kann und inwiefern eine Transformation mit oder im Staat überhaupt möglich ist. In welche Richtungen bewegen sich die neuen Versuche und lassen sie sich kanalisieren? Wie lässt sich die gesellschaftliche Emanzipation fragmentierter Gesellschaften denken? Diesen Fragen widmet sich der Schriftsteller, Politikwissenschaftler und ila-Autor Raul Zelik in seinem Buch „Nach dem Kapitalismus?“.
Zelik beginnt seine Erkundungen über „Perspektiven der Emanzipation“ bei der Finanzkrise mit dem Appell, die Suche nach einer Alternative nicht aufzugeben. Dass die Alternative aber an den Wurzeln der bisherigen Strukturen rütteln muss, zeigt der Professor der Universidad Nacional de Colombia mit einer pointierten und originellen Analyse der strukturellen Grenzen kapitalistischen Wirtschaftens am Beispiel des Green New Deal. Diese Suche nach einem nachhaltigen Kapitalismus verschiebe die Probleme nur auf andere Ebenen, wie Zelik feststellt: „Ungleiche, nicht-nachhaltige und imperiale Verhältnisse sollen ökologisch aufgehübscht werden, ohne die strukturellen Widersprüche zu berühren“. Damit es wirklich zu ökologischen und sozialen Besserungen kommen kann, müsse man sich gegen „das Recht des Kapitals auf möglichst rentable Verwertung“ stellen, fordert Zelik. Aber wer soll das tun? Zelik nimmt sich zunächst die vergangenen Versuche staatssozialistischer Modelle vor und zeigt konzise, wie diese durch ihre autoritäre Ausrichtung den institutionellen Charakter des Staates nicht aushebeln, sondern im Gegenteil im Kampf um den „revolutionären Machterhalt“ die Dynamik von sozialen Bewegungen begrenzen.
Am Beispiel der neuen linken lateinamerikanischen Ansätze zeigt Zelik, dass Repräsentationskrisen einer Bewegung von unten neue Spielräume eröffnen. Dabei sind soziale Bewegungen aber mit zwei Tendenzen konfrontiert: Zum einen kommt es zur Mitgestaltung gesellschaftlicher Prozesse, zum anderen aber auch zur Assimilierung an die staatlichen Strukturen und damit dem Abweichen von eigentlichen Zielen. Hierbei stellt Zelik eine Reihe von Konzepten vor, die einen Kommunismus oder, wie Zelik schreibt, Communismus nicht mehr als Zielvorstellung begreifen, sondern als fortdauernden Prozess von unten.
Diese eher zeitgeschichtlichen Einschätzungen sind eingebettet in eine einsichtige Auseinandersetzung mit wichtigen theoretischen Debatten, wobei Zelik die politische Praxis nie aus dem Blick verliert. „Nach dem Kapitalismus?“ lässt sich damit stellenweise als Einführung in die heutige Landschaft kritischer Theoriebildung lesen, es bietet allerdings mehr. So stellt Zelik einem orthodox-marxistischen Verständnis von Geschichte den Blochschen Begriff der „konkreten Utopie“ entgegen, die sich gerade dadurch auszeichne, dass sie keine entkoppelten Visionen der Zukunft entwickelt, sondern die Brüche im Bestehenden aufgreift und weiterdenkt. Mit diesem Motiv unternimmt das Buch eine Suche nach Diskursen, Erfahrungen und Praxen, „mit denen eine Gesellschaft ihre Überwindung vorwegnimmt“. Im Rückgriff auf Gilles Deleuze und Félix Guattari fragt es nach „Fluchtlinien der Emanzipation“ in der politischen Ordnung der Gegenwart. Es fordert strategische Interventionen und politische Organisation der einzelnen Bewegungen, die Deleuze und Guattari als „Flucht aus den Zuständen“ beschreiben. Hier drückt sich ein Freiheitsbegriff aus, der sich stark von liberalen Vorstellungen unterscheidet, indem er das Tun vor die formale Möglichkeit, den Prozess vor den Zustand setzt. Freiheit muss ausgeübt, sie kann nicht einfach nur gewährleistet werden.
Zelik weiß, dass die „Demokratisierung als strategisches Projekt von unten“ zwangsläufig antagonistisch verlaufen muss, gibt aber zu bedenken, dass nicht jede Konfrontation ausgetragen, nicht jede Feindschaft angenommen werden muss. Besonders Beispiele wie die peer-production, also die unentgeltliche Produktion von frei zugänglichen Gütern aus Gemeinressourcen, stimmen ihn optimistisch: In den Nischen der Ökonomie können sich ganz ohne Konfrontation Praktiken entwickeln, die unsere Art zu leben, zu produzieren und zu konsumieren grundsätzlich hinterfragen. Auch wenn dieses an Marx’ freie Assoziation der Produzenten erinnernde Phänomen als äußerst voraussetzungsreich anzusehen ist, erkennt Zelik hier wichtige Impulse für ein alternatives Denken über Gesellschaft. So verwundert es trotz der großen Hindernisse, die einem Leben „nach dem Kapitalismus“ im Wege stehen nicht, dass er mit einem hoffnungsvollen Zitat Michel Foucaults schließt: „Denke nicht, dass man traurig sein muss, um militant zu sein, auch wenn das, wogegen man kämpft, abscheulich ist“.
Raul Zelik: Nach dem Kapitalismus? Perpektiven der Emanzipation oder: Das Projekt Communismus anders denken. VSA-Verlag, Hamburg 2011, 143 Seiten, 12,80 Euro