Nach „Menschen aus Papier“ liest man kein Buch mehr wie zuvor. Niemand hat vor Salvador Plascencia so unbekümmert, konsequent und einfallsreich Romanschemata dekonstruiert. Niemand hat so erfrischend das Ende jeder Möglichkeit kausaler Geschlossenheit und logischen Aufbaus vorgeführt und selbst die Denkbarkeit von Helden, die an ihrem Schicksal scheitern und in ihrem Scheitern reifen, ad absurdum geführt. Wollte man den auf englisch geschriebenen Erstlingsroman Plascencias, eines jungen US-Amerikaners mexikanischer Abstammung, überhaupt vergleichen, käme allenfalls ein Ausnahmeroman wie Julio Cortázars „Rayuela“ von 1968 in Frage. Oder, geht man noch weiter zurück und bezieht auch die typographische Form mit ein, Karel Capeks „Der Krieg mit den Molchen“ von 1936. Cortázar, wie Plascencia Migrant, war zu seiner Zeit unerhört innovativ, weil er in „Rayuela“ einlud, überkommene Darstellungs- und Rezeptionsformen zu sprengen.
Die durchnummerierten Kapitel des Romans, dessen Titel das im Deutschen meist „Himmel und Hölle“ genannte Hinkelspiel bedeutet, können linear, in einer vom Autor vorgeschlagenen Reihenfolge 7-1-2-116-3-84 etc. oder auch in beliebiger Abfolge gelesen werden und damit neue Deutungen und Zusammenhänge eröffnen. Auch bei Cortázar schlägt sich eine Reihe von MigrantInnen durchs Leben. Aber bei dem Argentinier sind die Mittellosen intellektuelle Bohemiens in Paris, wie Cortázar selbst, und später in Buenos Aires, und der unsägliche, unreflektierte Machismo auf der Handlungs- wie auf der Erzählebene, den man zur Güte lieber dem damaligen Zeitgeist als dem Verständnis eines der Hauptvertreter der lateinamerikanischen „Boom“-Literatur zuschreiben möchte, ist meilenweit entfernt von den hierarchielosen Geschlechterverhältnissen, wie sie bei dem 1976 geborenen Plascencia herrschen.
Der Tscheche Capek wiederum hatte in seiner hellsichtigen Parabel über die kapitalistische Entwicklung und die heraufziehende Katastrophe Mitte der 30er Jahre in Europa mit formalen Lesekonventionen gebrochen, indem er verschiedene Schrifttypen heranzog und etwa fiktive Anzeigen, Plakate und Zeitungsartikel in seinen stets verschmitzten Text mengte, dessen deutsche Ausgabe von 1987 (Aufbau-Verlag) noch einmal zusätzlich gewinnt durch die begnadet treffsichere Illustration von Hans Ticha (ein Tipp: diese erste oder spätere Ausgaben unbedingt antiquarisch besorgen!). Doch Capeks Fabel vom Krieg mit Geistern, die die Menschen selbst hervorgerufen haben, bleibt inhaltlich linear und chronologisch.
Bei Plascencia dagegen folgt B nicht mehr auf A. Im Gegenteil. Schon das Inhaltsverzeichnis des Romans ist mit seinen Ziffern, Pünktchen, Strichen und Handzeichen ein würdiger Nachfahre Capeks und Cortázars. Entsprechend überlagern Erzählstränge sich oder verlaufen parallel; Erzählinstanzen ergänzen und widersprechen sich. Und zwar wörtlich und auf den ersten Blick: Mal äußern sich drei Stimmen in drei Spalten nebeneinander, mal ist eine der Spalten um 90 Grad gekippt. Mal läuft ein Fließtext einfach aus der Seite hinaus, mal macht ein grauer Klecks einen Textteil unkenntlich. Mal breitet sich eine graue Bleiwüste so über einen Monolog so, dass er unleserlich wird; mal klinkt sich ein Sprecher einfach aus und lässt seine Spalte leer. Oder es zieht sich einer auf die Minimalkommunikation im binären 0 und 1 zurück.
Dem nicht mehr allwissenden Erzähler laufen die erfundenen Figuren davon und beginnen ein Eigenleben, wie es zu Anfang des Romans dem kleinen Antonio geschieht, der für seine in einem Metzgereischaufenster wiedergefundene ausgenommene Katze die Gedärme als Papierorigami ausschneidet und ihr wiedereinsetzt. Solcherart in ihrer Macht degradiert, nimmt die Erzählinstanz neuen Anlauf und mischt sich als Gott Saturn unter die Sprecher. Doch er erreicht damit nur, dass mexikanische Salatpflücker sich im Ort El Monte im Süden der USA organisieren und gegen ihn einen Krieg anzetteln, den keiner wirklich gewinnt. Wie im griechischen Götterhimmel ist Saturns Macht beschränkt, er macht Fehler und verstrickt sich in seine Gefühle. Irgendwann gibt er beiläufig zu, Salvador Plascencia zu heißen, um danach wieder im Figurenkarussell zu verschwinden.
Zum flüchtigen Personal gehören als Heilige verehrte Wrestler und Ikonen der Populärkultur wie Rita Hayworth ebenso wie eine Tochter, die stirbt und wiederaufersteht, ganz wie die Lieblingsfigur aus einer Fernsehserie, weil das Publikum dies so will. Dazu tauchen immer wieder aus Papier gefaltete Menschen auf, bei denen man sich beim Küssen die Lippen aufschneidet und die bei Regen in den Straßengulli gespült werden. Schließlich ist auch die Bill und Melissa Gates-Stiftung mit von der Partie in Form eines reichen Ehepaares aus New York, das für die Fertigstellung des Buchs verantwortlich zeichnet, sich aber stets von jeder Formulierung distanziert. Und selbstredend die unerwiderte oder verhinderte große Liebe, die auch bei Plascencia der Motor jedweder menschlicher Äußerung ist, sei es Kunst und Kitsch, Destruktion oder Kreation.
Was das alles soll? Nonsens? Keineswegs. Plascencia beschreibt das Leben selbst in all seiner Vielschichtigkeit, allen voran das eigene, mit einer Kindheit im mexikanischen Guadalajara und einer Jugend in El Monte bei Los Angeles, von wo er später zum Studium nach New York zog. Herausgekommen ist ein Kaleidoskop von Impressionen und schriftstellerischen Selbstreflexionen, das unversehens die Gattung Roman selbst runderneuert. „Und die Traurigkeit sollte keine Fortsetzung finden“, schreibt Plascencia dazu selbst als letzten Satz ebenso ironisch wie unprätentiös. Wozu sonst auch sollte Kunst und Kultur gut sein?
Salvador Plascencia: Menschen aus Papier, Edition Nautilus, Hamburg 2009, 288 Seiten, 19,90 Euro