Freiwild JournalistInnen

Wie zahlreiche andere Kollegen und Kolleginnen war auch Martínez zuvor schon bedroht worden. Doch bisher schien es so gewesen zu sein, dass das nationale und internationale Prestige von Proceso für die MitarbeiterInnen im Vergleich zur Situation anderer Medien einen höheren Schutz bedeutete. Mit dieser Illusion ist es nun auch vorbei. „Es waren das mörderische Hirn, das das Verbrechen anstiftete, und die ausführende Hand gemeinsam, die unsere geliebte Kollegin umbrachten“, schrieb Proceso. „Aber ebenso waren es die Auflösungserscheinungen, die wie eine Krebserkrankung in das Land und im konkreten Fall in den Bundesstaat Veracruz eingedrungen sind, in denen sich solche Verbrechen im Kontext absoluter Straffreiheit wiederholen, und die sie ihres Lebens beraubten.“ Ein Treffen mit dem Gouverneur von Veracruz, Javier Duarte, am 29. April brachen die Verantwortlichen von Proceso nach wenigen Minuten ab, weil sie Floskeln und Phrasendrescherei wie „bis zur letzten Konsequenz“ und „herausragende Journalistin“ nicht länger ertrugen.

Nur fünf Tage nach dem Mord an Regina Martínez wurden in Veracruz die für verschiedene Medien arbeitenden Fotoreporter Gabriel Huge, Guillermo Luna und Esteban Rodríguez sowie Irasema Becerra, Verwaltungsangestellte der Tageszeitung El Dictamen, entführt und ermordet. Die zerstückelten Körper tauchten in Plastiksäcken in einem Abwasserkanal auf. Am 13. Mai wurde im Bundesstaat Morelos der ehemalige Polizeireporter René Orta Salgado tot aufgefunden. Er hatte 20 Jahre lang für die Tageszeitung El Sol de Cuernavaca berichtet, bevor er die Redaktion im Dezember 2011 verließ und den Wahlkampf des PRI-Präsidentschaftskandidaten Enrique Peña Nieto unterstützte. Und am 18. Mai tauchte im Bundesstaat Sonora die Leiche des Journalisten Marcos Ávila García mit Folterspuren auf. Er war tags zuvor von drei bewaffneten und maskierten Männern entführt worden. Ávila Garcia war Polizeireporter bei der Tageszeitung El Regional de Sonora und für seine gewissenhafte Arbeit bekannt.

Angesichts der ständigen Morde an JournalistInnen sind der Beschuss von Redaktionsgebäuden, manchmal mit Mörsergranaten, und die telefonischen Bedrohungen, die bei vielen Medien eingehen, kaum noch eine längere Nachricht wert. So unklar in Einzelfällen die Hintergründe sein mögen, die Tendenz ist eindeutig: Die unbefangene und freie Berichterstattung soll unmöglich gemacht werden, ganz besonders wenn es sich um Themen handelt, die mit dem Drogenkrieg und der organisierten Kriminalität zu tun haben. Wer sich diesem Diktat widersetzt, riskiert sein Leben. Mit einer Aufklärung der Morde an JournalistInnen darf niemand rechnen. Diese Situation hat vielfach zu einer Selbstzensur geführt, die im Interesse des organisierten Verbrechens und gleichfalls vieler staatlicher Institutionen ist. Mexiko festigt seine Position als die für Medienschaffende gefährlichste Nation in Lateinamerika. (Dabei soll hier auch kurz auf die traurige Situation in Honduras verwiesen werden: Die dortige systematische Gewalt gegen JournalistInnen hat seit Februar – vgl. ila 352 – weitere Todesopfer gefordert, zuletzt das Leben des am 15. Mai mit zwei Kopfschüssen aufgefundenen Alfredo Villatoro Rivera vom Radiosender HRN.)

Nach Angaben der staatlichen Menschenrechtskommission CNDH und verschiedener nationaler und internationaler Gremien sind seit dem Jahr 2000 über 80 JournalistInnen in Mexiko umgebracht worden, die meisten von ihnen seit 2005; in den vergangenen zwölf Monaten ist ein extremer Anstieg zu verzeichnen. Dazu kommen mindestens ein Dutzend verschwundene MedienmitarbeiterInnen. Da ist es doch sehr beruhigend, wenn Omeheira López Reyna, die Leiterin der Abteilung Förderung und Verteidigung der Menschenrechte im mexikanischen Innenministerium, versichert, für das Inkrafttreten des erwähnten Schutzgesetzes Mitte Juni sei alles vorbereitet. Unterdessen ermitteln die Strafverfolgungsbehörden von Veracruz im Fall von Regina Martínez mit dem Schwerpunkt Raubmord. Die Vorgeschichte ihrer Arbeit als Journalistin ist für sie nur ein Nebenaspekt.