Das kann ein schöner Sommer werden: Mehrere, zum Teil altbekannte LieblingsmusikerInnen haben im Juni neuen Stoff veröffentlicht. Beginnen wir mit der Grand Dame der kolumbianischen Musik, die diesen Sommer 75 Jahre alt wird: Totó la Momposina. Im Jahr 1993 hatte sie mit dem Album La Candela Viva ihren internationalen Durchbruch, also recht spät, wenn man bedenkt, dass sie praktisch ihr ganzes Leben lang schon Musik gemacht hatte (siehe auch Porträt von Totó in der ila 367). In jungen Jahren hatte sie das indigene und afrikanische Erbe der kolumbianischen Musik ergründet, zog an der Karibikküste von Dorf zu Dorf und sog die traditionelle Musik in sich auf. Später ging sie nach Europa, um Musik zu studieren. Ihr Auftritt beim englischen WOMAD-Festival machte sie einem größeren Publikum bekannt, so dass sie 1992 ins Tonstudio des renommierten Produzenten John Hollis eingeladen wurde. Aus diesen Aufnahmen entstand schließlich der Welterfolg La Candela Viva. Dieses Album enthält eine Reihe Hits von Totó, die zum Teil von anderen Musikern gesampelt wurden, etwa von Timbaland oder dem schweizerischen Dancemusic-Producer Michel Cleis („La Mezcla“). Als John Hollis – mittlerweile Schwiegersohn der kolumbianischen Musikerin – für den Schweizer nach den Master Tapes von den damaligen Aufnahmen suchte, stieß er auf eine wahre Schatztruhe: 40 Takes von 20 verschiedenen Songs, die zum Teil noch nicht veröffentlicht waren. Um diesen Schatz zu heben und vor allem zu bewahren, mussten die analogen Bänder zunächst gebacken werden (im wahrsten Sinne des Wortes!), um sie von Feuchtigkeit zu befreien und anschließend digitalisieren zu können. Für Tambolero wurden die wiedergefundenen Aufnahmen neu abgemischt; bei der Gelegenheit kamen auch Totós Enkeltöchter als Backing-Sängerinnen zum Einsatz. Das neue Album ist also mehr als eine reine Wiederveröffentlichung, auch wenn einige von Totós größten Hits, wie „El Pescador“ oder „Curura“ darauf sind. Das musikalische Spektrum der qualitativ astreinen Aufnahmen erstreckt sich von Cumbia über stark perkussive, afrokolumbianische Stücke wie „Adiós Fulana“ „Tambolero“ oder dem schon fast Trance mäßigen „Gallinacito“, das traditionelle Instrumentalstück „La Acabación“ mit markanten Flöten im Mittelpunkt, das melancholische Liebeslied im Son-Stil „La sombra negra“ bis hin zum schnellen „Malanga“, das wie eine afrocubanische Descarga daher kommt. Diesen Sommer werden Totó la Momposina y sus Tambores übrigens wieder auf europäischen Bühnen zu sehen sein, unter anderem am 19. Juli im Berliner YAAM. Ein opulentes Konzertereignis ist garantiert.
Ebenfalls einige Jahrzehnte auf den Bühnen dieser Welt unterwegs ist MC Ruzzo, bekannt geworden als Rapper, der in einem wahnwitzigen Tempo Reime hinlegt und expressive Live-Auftritte absolviert: mit der cubanischen Band Orishas, die 1999 mit der damals absolut neuartigen Fusion von Salsa, Son und Hiphop für Begeisterung sorgte. Diese Formation löste sich nach einigen sehr erfolgreichen Alben und vielen internationalen Tourneen im Jahr 2009 auf. Nun haben sich einige der ehemaligen Orisha-Musiker um MC Ruzzo zusammengeschlossen – vier Cubaner und ein Spanier –, um als Cuban Beats All Stars den Faden dieses interessanten musikalischen Mischgewebes wieder aufzunehmen. Natürlich ist das heutzutage nicht mehr der neue heiße Scheiß wie vor gut 15 Jahren, aber tanzbar und sommerlich ist das allemal, einige Songs auf ihrem Album Receta lassen auch aufhorchen. Einen schwungvollen Einstieg bietet der erste Track „Cubañol“, bei dem Ruzzo sein Rap-Talent rasant zum Besten gibt. Darauf folgt „Black Benny“, mit dem die Salser@s unter uns beglückt werden, passenderweise ist es auch eine Hommage an Salsa-Legende Benny Moré. „La Cuerda“ ist die Single-Auskopplung und wird im Waschzettel der CD als Song zum politischen Zeitenwechsel auf Cuba angekündigt. Der Refrain hat Ohrwurmqualitäten und einen markanten Text – Yo veo todo esto mareao’/Habana cambió la cuerda/aprieta la tuerca (Mir wird schwindelig/Habana hat neue Seiten aufgezogen/und jetzt wird die Schraube festgedreht). Der Song spiegelt den vorsichtigen Optimismus wider, den viele CubanerInnen seit Dezember letzten Jahres verspüren, gleichzeitig wird aber auch das bisher Erreichte gewürdigt: vea créalo o no lo crea esto no es una simple tarea/porqué está visto y demostrao’ que somos humildes pero bien capacitaos’ (guck’, glaub’ es oder nicht, das ist keine leichte Aufgabe/denn wir haben gesehen und bewiesen, dass wir bescheiden aber gut ausgebildet sind). Der persönliche Rezensentinnen-Favorit ist jedoch Track 5, „Razón“, Melodie, Tanzbarkeit und Stilmix sind mitreißend, der Text richtet sich gegen den unterschwelligen Rassismus auf Cuba, der immer noch in weiten Teilen der Gesellschaft ein Tabu-Thema ist. „Do Coração“ handelt von der Verbundenheit mit Brasilien und seinem Afro-Erbe in Religion und Musik, was die beiden ungleichen Länder zu Geschwister-Nationen macht. Ein schönes Reggae-Stück ist „Lágrimas Rojas“, ein Lied gegen den Krieg, im Großen wie im Kleinen. Überraschend jazzig-funkige Anleihen sind in „Yemayá“ zu hören. Wer die Orishas mochte, dem müsste auch dieses abwechslungsreiche Album gefallen.
Mit einem neuen Album am Start sind auch die Sunnyboys Paco Mendoza und Caramelo, die auf vielen Hochzeiten – auch als Solo-Musiker – tanzen (siehe Interview mit Paco Mendoza in der ila 369). Zusammen bildet das Brüderpaar die deutsch-lateinamerikanische Combo Raggabund, die im Jahr 2006 ihr Debüt-Album mit dem genialen Titel Erste Welt veröffentlichte. Buena Medicina heißt ihr neues Album vielversprechend, das sie zusammen mit den Schweizer Reggae-Musikern The Dubby Conquerors aufgenommen haben. Die „gute Medizin“, die Raggabund dieses Mal mitgebracht hat, besinnt sich auf die Reggae-Wurzeln der beiden, die im Laufe ihrer musikalischen Karriere immer mehr Stile gekonnt miteinander verquickt haben. Entschlackung ist also angesagt, zumindest in musikalischer Hinsicht. Textlich geht es mal anspruchsvoll, mal chillig zur Sache. Ambitioniert etwa in dem Stück „So nicht geht“, das in einem Rundumschlag die Fehlentwicklungen in den westlichen Gesellschaften thematisiert, oder in „Nazimann“, das sich gegen eben jene Titelfigur richtet und mit einem kämpferischen Sample endet: „Rassismus ist eine Meinung und kein Verbrechen. Wenn die Gerichte es nicht verbieten, muss man halt selbst aktiv werden“. Übrigens hat in diesem Stück der mexikanische Reggae-Musiker Lengualerta mit seiner charakteristischen leicht nasalen Stimme einen Gastauftritt.
Die erste Single-Auskopplung „Nada sirve“ kommt sehr sommerlich und relaxt rüber, auch wenn das Video im kalten Berlin spielt und von Beziehungsunstimmigkeiten handelt. Absoluter Lieblingssong ist Nr. 10, „Chilling”, bei dem peruanische Cumbia-Anleihen im Mittelpunkt stehen, was absolut süffig und tanzbar treibend ist. Der Text wartet mit einem witzigen Sprachmix auf: „Me gusta el sol/me gusta gozar lo every day/me gusta el chilling/con toda mi family“ (Ich mag die Sonne/ich genieße sie jeden Tag/ ich mag das Chillen/mit meiner ganzen Familie). Im Vergleich zum Vorgänger-Album „Mehr Sound“ haben die Brüder dieses Mal etwas Tempo aus dem Ganzen rausgenommen und setzen auf warme analoge Sounds. Ihre neuen Tracks werden sie diesen Sommer auf einigen Gigs in Europa vorstellen (unter anderem auf dem Afrika-Karibik-Fest in Wassertrüdingen am 19. Juli) oder am 4. September in München. Im Herbst geht es auf eine ausgedehnte Tournee in Lateinamerika. Wer also die Gelegenheit diesseits oder jenseits des Ozeans dazu hat – hingehen! Denn live sollen Raggabund der absolute Hammer sein.