Die Gegensätze unter den Generationen auf Cuba sind nicht viel anders als in anderen Ländern. Der cubanische Schriftsteller Leonardo Padura beschreibt dies mit den Worten eines Gymnasialdirektors aus der Hauptstadt[fn]Leonardo Padura: Handel der Gefühle, S. 40/41, Unionsverlag Zürich, 2004[/fn]: „Ich weiß nicht, was im Moment los ist, aber die Jugendlichen interessieren sich immer weniger dafür, etwas zu lernen … Und ich habe das Gefühl, dass es immer schlimmer wird. Irgendetwas läuft da falsch, glauben Sie mir. Die Jugend von heute ist anders. Es ist so, als würde sich die Welt zu schnell drehen … Man sagt, das sei ein Symtpom der postmodernen Gesellschaft. Dann sind wir also postmodern, mit dieser Hitze und den übervollen Bussen? Ich sag ihnen was, jeden Tag gehe ich hier mit Kopfschmerzen raus. Ich verstehe ja, dass sie sich für ihre Frisuren und ihre Kleidung und ihre Schuhe interessieren und dass sie jetzt schon mit 15, entschuldigen Sie den Ausdruck, herumvögeln wie die Wilden … Aber ein klein wenig könnten sie sich ja um die Schule kümmern … Aber am meisten macht es mir Sorgen, dass Sie sich einen von ihnen rausfischen können, irgendeinen aus der 12, drei Monate vor dem Abitur, und sie fragen ihn, was er studieren will, und er sagt, er weiß es nicht, und wenn er es weiß, dann weiß er nicht warum.”
Cuba ist das Land, in dem ich meine Kinder am liebsten aufwachsen sehen würde, sagen nicht wenige ausländische BesucherInnen – mit gutem Grund. Die Kleinen und ihre Mütter werden vor und nach der Geburt gesundheitlich umsorgt, die landesweite Kindersterblichkeit ist eine Staatsangelegenheit und liegt sogar unter derjenigen der USA. Kinderkrippen (und ganz viele Großmütter) erleichtern den Müttern nach dem Mutterschaftsurlaub zum Teil den Berufsalltag und den künftigen SchülerInnen das Zusammenleben mit Gleichaltrigen. Die gesamte Ausbildung, bis hin zu Spezialisierungen an den Unis, ist kostenlos, einschließlich verschiedener Formen von Internaten für Jugendliche aus ländlichen Gebieten. Dazu kommt die Hingabe und der Respekt für die Kinder. Ein Kind in einer Erwachsenenrunde braucht sich vor Langeweile nicht zu fürchten, denn es wird immer von einer oder mehreren Personen in ein Gespräch verwickelt werden. Die Kinder bewegen sich mit für AusländerInnen ungewohnter Freiheit und Selbstvertrauen in ihrer Umgebung und die Eltern wissen, dass viele NachbarInnen ebenfalls ein Auge auf ihre Sprösslinge haben. Dazu kommt, dass sie den Konsumeinflüssen und den Gewaltszenen via Fernsehen etc. viel weniger ausgesetzt sind als in marktwirtschaftlichen Ländern.
Danach kommen die Kinder in die „schwierigen” Jahre, beginnt die Jugend, allerorts geprägt von Rebellion, dem Bestreben, anders zu sein, sich abzugrenzen, den eigenen Charakter zu formen, Unabhängigkeit zu erlangen. Die große Mehrheit nimmt die Bildungschancen wahr, vor allem die Frauen, die rund zwei Drittel der UnistudentInnen ausmachen. Die Anzahl an Plätzen pro Studienrichtung wird nach einem Numerus Clausus auf Grund der Bedürfnisse des Landes eingerichtet, je besser der Notendurchschnitt, umso größer die Auswahl. UniabsolventInnen haben das Recht auf einen garantierten Arbeitsplatz. Unerwünschte Elternrollen sind dafür selten ein Hinderungsgrund. Dafür sorgen, trotz frühem Beginn des Sexuallebens, das hohe Bildungsniveau, die relative Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln und schließlich das gesetzlich und sozial verankerte Recht der Frau, über ihren Körper zu entscheiden. Also alles wunderbar, könnte mensch von außen denken, bis die Jugendlichen selbst zu Wort kommen und den Finger in die nicht nur für sie offenen Wunden legen.
Zwar sei das toll mit der Ausbildung, meinen viele, aber mit der Aussicht auf einen Monatslohn in cubanischen Pesos, der zwischen umgerechnet zehn und 15 Euro liegt[fn]Der Durchschnittslohn in Cuba beträgt derzeit 399 Pesos pro Monat, rund 13 Euro. Allerdings sind viele Artikel und Dienstleistungen kostenlos oder zu stark subventionierten Preisen (Miete, Wasser, Strom, Grundnahrungsmittel, Mittagstisch in Arbeit und Schule, Gesundheit etc.). Verschiedene Schätzungen gehen von einem durchschnittlichen Prokopfeinkommen von knapp 3000 Euro im Jahr aus. Somit gehört Cuba zu den Ländern mit mittlerem Einkommen.[/fn] und kaum Spielraum für Vergnügen, Reisen etc. bietet, lässt die Motivation bei vielen nach. Da ist es dann viel verlockender, sich einen Platz in der Tourismusbranche zu ergattern oder gar dem Traum des leichten Lebens im hochentwickelten Ausland nachzujagen. „Aus dem Kreis meiner besten FreundInnen bin nur ich übrig geblieben hier”, erzählt eine junge Frau aus Havanna. „Die anderen haben Ausländer geheiratet und die materielle gegen die soziale Monotonie ausgetauscht. Keine ist glücklich geworden, sie vermissen Cuba, unsere Mentalität, die Partys.“ Vielleicht ist diese Migration ja auch eine Art des Protestes, der Abgrenzung gegen die Eltern. Eine ältere, gesundheitlich angeschlagene Uniprofessorin erzählt unter Tränen, dass ihre einzige Tochter nach Mexiko und von dort in die USA emigriert sei. „Sie hatte eine gut bezahlte Arbeit hier mit Zugang zu Devisen und sogar eine eigene Wohnung, aber sie wollte einfach weg.” Ein harter Schlag für eine Mutter, die sich für dieses gesellschaftliche Projekt derart engagiert hat, dass ihre Gesundheit bleibend geschädigt wird, als die Tochter auswandert – dazu noch nach Miami!
Ein anderer Ausdruck für die fehlende Motivation sind die so genannten desvinculad@s, Jugendliche, die weder studieren noch einen festen Arbeitsplatz haben. Als klar wurde, dass Zehntausende, vor allem junge Leute, sich mit Gelegenheitsjobs jeglicher Art durchschlagen, seien diese legal, halblegal oder gänzlich illegal, schellten in verschiedenen Bereichen die Alarmglocken. In wohltuender Abhebung zur „harten und superharten Hand” und Nulltoleranz, wie sie von rechts propagiert wird, wurde versucht, Alternativen anzubieten. Jeder einzelne dieser Jugendlichen wurde besucht und befragt. Dafür zuständig waren die kommunistische Jugend und die für diese gesellschaftlichen Untersuchungen ausgebildeten SozialarbeiterInnen.[fn]Bis vor Kurzem gab es in Cuba keine SozialarbeiterInnen. In diesem Beruf wurden Jugendliche ausgebildet, die vor allem den marginalisierten Schichten (jugendlichen Arbeitslosen, alten pflegebedürftigen Leuten, alleinstehenden Müttern, Familien mit behinderten Kindern) zur Seite stehen sollen. Sie werden außerdem im nationalen Energiesparprogramm eingesetzt.[/fn] Den Jugendlichen wurde angeboten, eine Ausbildung zu machen, die nicht nur kostenlos war, sondern für die ihnen auch ein Gehalt ausbezahlt wurde, als würden sie bereits im Erwerbsleben stehen. Nach Abschluss der Ausbildung bekommen sie dann auf jeden Fall einen Arbeitsplatz. Diese gezielte und präventive soziale Intervention wurde von vielen genutzt, hat aber bei „normalen” Familien auch Unverständnis hervorgerufen, weil nicht genau erklärt wurde, wieso genau diese Jugendlichen eine Vorzugsbehandlung genießen sollen. Mit dieser „aufsuchenden Sozialarbeit” wurde das Problem der desvinculad@s zwar nicht vollständig gelöst, aber ein klares Zeichen gesetzt – Integration statt Ausgrenzung und Repression.
Die historische Wohnungsnot erschwert die Unabhängigkeit und zwingt junge Menschen auf Cuba oft, bis ins dritte Lebensjahrzehnt bei den Eltern zu wohnen und dort gar ihre Familie zu gründen. Das Recht auf eine eigene Wohnung muss hart erarbeitet werden – und ist u.a. eine Motivation für das Gesundheitspersonal, sich für einen Auslandseinsatz zu bewerben, der den Weg zur eigenen Wohnung ebnet. Trotz nationaler Wohnungsbauprogramme sind die Aussichten für Jugendliche eher düster, was eigenen Wohnraum angeht, eine wirkliche Lösung für dieses historische Problem (es fehlen rund 500 000 Wohnungen, viele bestehende sind dringend sanierungsbedürftig) wird im besten Fall noch mindestens zehn Jahre dauern.
Selbstverwaltete Räume wie Jugendzentren gibt es praktisch nicht und wenn, dann müssen sie mit anderen Organisationen und Generationen geteilt werden. In einem Hauptstadtviertel wurde mit Unterstützung der Gemeindeverwaltung und ausländischen Mitteln ein ehemaliges Kino in ein Stadtteil- und Kulturzentrum umgewandelt. „Unsere Rocker haben sich bei der Renovierung des Gebäudes ganz schön ins Zeug gelegt, die waren am Abend immer fix und fertig, aber zufrieden. Jetzt können sie hier proben und Konzerte abhalten. Nun diskutieren sie, wie diese Infrastruktur auch von anderen Gruppen ohne Lokal genutzt werden könnte”, erzählen die dort arbeitenden SozialarbeiterInnen. Dies hat allerdings eher Seltenheitswert. Zwar ist mittlerweilen Rock – auch einheimischer – auf den offiziellen Bühnen durchaus zu hören, beispielsweise anlässlich des Festivals in Alamar, und viele junge LiedermacherInnen in der Tradition von Silvio Rodríguez und Pablo Milanés – wie zum Beispiel das Duo Buena Fé oder David Torrens – werden landesweit bejubelt. Aber Hiphop, Rap und vor allem Reaggaeton sind nach wie vor nicht gesellschaftsfähig – dafür bei vielen Kreisen umso beliebter – und werden von den offiziellen Studios zumindest vorerst nicht aufgenommen. Dies angesichts ihrer Texte, die ihren US-Vorbildern an Machismo und Gewaltverherrlichung wenig nachstehen. Eine Debatte darüber kommt nur langsam in Gang. Vielleicht helfen ja Stadtteilrapper wie der Sohn eines Bekannten, der auf Geburtstagsfesten und ähnlichem seine Lieder zum Besten gibt: Da geht es ums barrio, um das Leben der Jugendlichem im heutigen Cuba und natürlich – um die Liebe.
Das offizielle staatliche Kultur- und Sportangebot ist zwar ansehnlich und gratis bis erschwinglich, deckt aber nur einen Teil der Bedürfnisse ab. Viele Gebäude, von Kinos, Kulturhäusern bis hin zu Sportarenen, benötigen nach vielen Jahren erhebliche Renovierungsarbeiten. Dazu kommt das gewaltige Transportproblem. Nicht nur für Jugendliche ist ein Kinobesuch ein Tagesausflug. In den Abendstunden in die Außenbezirke oder zurück aufs Dorf zu kommen ist eine zermürbende Angelegenheit. Schließlich ist ein attraktiver Teil des Unterhaltungsangebotes nur gegen Devisen erhältlich und bleibt somit einem Großteil der CubanerInnen verschlossen. Aber die harten Krisenjahre haben nicht nur am materiellen Wohlstand, sondern auch am Wertegerüst der cubanischen Gesellschaft gesägt. Wo früher kaum Türen abgeschlossen wurden, wollen heute die Familie ihre Wohnung nicht mehr alleine lassen und haben Gitter an den Fenstern angebracht. Am Abend sind bestimmte Gegenden nicht zur Stadtbesichtigung zu empfehlen und die soziale Antwort auf die zunehmende Kleinkriminalität lässt nach – was nun nicht heißen soll, dass Havanna unsicherer sei als Berlin, vom cubanischen Dorf ganz zu schweigen! Gerade der wirtschaftliche Rettungsring Tourismus war in dieser Hinsicht verheerend. Nicht nur, dass es die CubanerInnen als beschämend empfinden, keinen Zutritt zu ihren Hotels zu haben, sondern sie müssen auch mit ansehen, wie mit Digitalkameras und Markenbekleidung ausgestattete TouristInnen aus aller Welt die glitzernde Welt des Wohlstandes vorführen und für ein Abendessen einen cubanischen Monatslohn hinblättern. Sextourismus, Prostitution, Emigration durch Heirat etc. sind weitere, vieldiskutierte Themen. Wie in anderen Tourismusdestinationen ist dies Teil des Alltags und beeinflusst das Leben und die Wertvorstellungen vieler Jugendlicher.
Schwierig zu beantworten ist die Frage, inwieweit der Tourismus die Drogenproblematik verschärft hat. Generell scheint Cuba auch im Bereich der illegalen Drogen eine Insel und der Markt klein zu sein. Aus militärischen Gründen ist die Grenze relativ gut bewacht, Kaufkraft ist – außer von Seiten der TouristInnen – kaum vorhanden und das Land somit weder als Durchgangsplatz noch als Markt interessant. Schließlich ist auch niemand in Cuba daran interessiert, die Jugendlichen in ärmeren Gebieten mittels Drogen ruhig zu stellen. In potentiellen Anbaugebieten für Marihuana werden regelmäßig Überprüfungen durchgeführt, dies vor allem auch, um der US-Regierung keinen Vorwand zu liefern, das Land des Drogenschmuggels bezichtigen zu können. Die öffentliche Debatte dreht sich viel mehr um Tabak und Alkohol (und klammert den Medikamentenmissbrauch weitgehend aus), mit dem Ziel, den Konsum auf einem vertretbaren Niveau zu halten. Das wird teilweise durch die wirtschaftliche Situation „erleichtert”: Viele verfügen ganz einfach nicht über genügend Bares, um ihren Bedarf zu decken. Gleichzeitig ist ein Sichvolllaufenlassen auch unter Jugendlichen keine Heldentat und somit nicht besonders populär.
Vielerorts wird eine Tendenz zu vermehrter Individualisierung angesichts der Abnahme der kollektiven, staatlichen Antworten beklagt. In diesem Sinn ist die historische Warnung von Fidel Castro im November 2005 anlässlich einer Rede zu verstehen, in der er auf die inneren Gefahren für den revolutionären Prozess verweist und die Priorität der Überzeugungs- und Erklärungsarbeit unterstreicht. Dies wurde von seinem Nachfolger Raul Castro auf dem Gewerkschaftskongress aufgenommen, als er die Funktionäre mit harten Worten aufforderte, sich den ArbeiterInnen und ihrer Kritik zu stellen und der Diskussion in den Betrieben nicht auszuweichen.
Auch die kommunistische Jugend (UJC) und in gewissem Maße die SchülerInnen- und StudentInnenorganisationen arbeiten in diese Richtung. Vor allem die UJC mit über einer halben Million Mitgliedern (bei insgesamt rund 11 Millionen EinwohnerInnen) versucht, traditionelle revolutionäre Wertvorstellungen mit jugendlicher Unrast zu verbinden. Starker Akzent wird dabei auf lokale Kultur gelegt: Neben den Hymnen von Silvio Rodríguez und Pablo Milanés wird auch jungen Kulturschaffenden eine Bühne eröffnet, deren kritisch-zärtliche Texte über die Realität auf den gut besuchten Gratiskonzerten begeistert mitgesungen werden. In einer Artikelserie über Basisversammlungen der UJC wurden heikle Themen angesprochen und ein Schwerpunkt auf die Notwendigkeit verstärkter Überzeugungsarbeit unter den Jugendlichen gelegt. „Wir waren uns immer bewusst, dass unsere größte Herausforderung darin besteht, der Jugend kommunistische Wertvorstellungen zu vermitteln und antikapitalistisch zu sein, ohne dass sie miterlebt haben, wie viel moralischen Schaden und Entwürdigung eine auf Egoismus, Individualismus, Gewinnsucht und Oberflächlichkeit basierende Gesellschaft verursacht”, so Carlos Lage in seiner Rede zum 45. Jahrestag der UJC. Dass dies nicht ganz einfach sein wird, räumt er gleich ein, denn „die heutige Jugend kennt weder den Kapitalismus, unter dem wir litten, noch den Sozialismus, den wir aufgebaut hatten, sondern nur die heutige Realität mit zunehmenden Ungleichheiten und unerwünschten Auswüchsen”.
Die Kinder der Período Especial werden nun als Jugendliche und junge Erwachsene die biologisch bedingte Ablösung der Revolutionsgeneration miterleben und -prägen. Die Begeisterungsfähigkeit und die Qualifikation der Jugendlichen, zusammen mit einer relativen gesellschaftlichen Öffnung gegenüber „anderem”, sind dafür zweifellos Pluspunkte. Andererseits wird entscheidend sein, inwieweit die bei nicht wenigen Jugendlichen spürbare Apathie mittels Bewusstseinsarbeit und materieller Verbesserung in aktive Beteiligung am Aufbau einer gerechten Gesellschaft umschlägt.