Für die Kinder der Verfolgten

Ein kleines Mädchen landet in Colonia Valdense

Ich lernte Rübchen 1938 kennen. Zum ersten Mal sah ich sie, als wir im Hafen von Montevideo an Land stiegen, mein Bruder Peter (11 Jahre), meine Schwester Lore (10 Jahre), ich (6 Jahre) und meine Eltern. Verzweifelt nach der Flucht aus Nazi-Deutschland, wie meine Eltern waren, fiel ihnen nichts Besseres ein, als uns Kinder gleich vom Hafen aus in den alten Ford von Rübchen zu setzen und uns allein nach Colonia Valdense zu verfrachten, 120 km von Montevideo entfernt. Das wurde für mich zu einer unvergesslichen Fahrt. Hinten saßen Lore und ich, heulten untröstlich und ich machte in die Hose. Vorn saß Peter und unterhielt sich mit Rübchen. Lore versuchte, zwischen dem einen und dem folgenden Tränenguss, mich zu trösten.
Alles war Enttäuschung, die Nacht brach herein und das Land, hügelig gewellt, war stocklangweilig, wo ich mir vorgestellt hatte, den Dschungel, Affen und Krokodile zu erleben. So lebten wir zwei Jahre auf ihrem kleinen Landgut, ein Jahr alleine, das zweite mit meinen Eltern.
Während all dieser Zeit war sie stets um uns, aber aus einer gewissen Distanz heraus. Ich hatte alle Zeit, die Pflanzen da kennenzulernen, sie zu betrachten, zu berühren, zu riechen und manchmal zu essen. Ich konnte tagelang zusehen, wie ein Pferd starb, und Rübchen ließ mich. Für alles war Zeit und Platz. Es war die Zeit der Freiheit.
Jetzt denk ich, meine Eltern ließen uns dahin gehen, aber sie, Rübchen? Was für eine Lust zu helfen, angesichts der Ungerechtigkeit aktiv zu werden und eine derartige Verantwortung auf sich zu laden!
Rübchen half immer – und ich sage: immer – den Ausgegrenzten. Das, glaube ich, sah sie als ihre Mission an und nie missbrauchte sie ihre Macht … und das ist gewiss nicht wenig.
Marianne Trier

 

Insel der Freiheit

Ich weiß nicht das genaue Datum, aber es kann nicht lange nach unserer Ankunft in Montevideo Anfang Februar 41 gewesen sein. Auch weiß ich nicht mehr, von wem ich von der Existenz von Colonia Valdense erfahren habe, obwohl es so wichtig für mich wurde. Ich fuhr also mit dem Omnibus bis zum „Brisas del Plata“, einem Gasthof an der Landstraße nach Colonia, der ältesten Stadt von Uruguay. Dort holte mich, wie telefonisch verabredet, ein zweirädriges Pferdegespann, ein Charret, ab, das von einem jungen, blonden, deutschsprachigen Mädchen gelenkt wurde, um mich zu Rübchen zu bringen, die ich nicht kannte.
Annemarie trug eine sehr starke Brille, Hosen und ein kariertes Hemd. Sie hatte eine sanfte weibliche Stimme mit leicht rheinischem Tonfall, die mir recht wohltat und die das etwas männliche, dabei geschlechtslose Aussehen begleitete. Ich hörte die Stimme gerne und es tat mir besonders weh, als ich sie fast 50 Jahre später in Göttingen am Tisch nicht mehr vernehmen durfte und voller Hoffnung auf ein paar Worte von ihr wartete. Rübchens Stimme verstummte lange, bevor ihr Lebensfaden abriss.
Es war keine Ferienkolonie, keine Jugendherberge, keine Pension und erst recht kein Kinderheim. Für mich war „nach Valdense fahren“ identisch mit „zu Rübchen fahren“, eine Insel der Freiheit. Nach eineinhalb Jahren Krieg in Berlin fühlte ich mich in einem deutschsprachigen Kulturkreis mitten auf dem kargen uruguayischen „campo“ sehr wohl. Dazu trug auch bei, dass Rübchen nicht autoritär war, aber durch ihr souveränes, unaufdringliches, meist heiteres Wesen, die sich selbst auch mit Humor betrachtete, eine wirkliche Autorität war. Ich nahm auch die Kargheit der Räume und des Essens als eine harmonische Übereinstimmung. So taten es die meisten „Valdenser“.
Rübchen war ihrer Zeit in vielem voraus. Als deutsche „Wirtinnen“ noch keine Besuche im Zimmer duldeten und Jugendliche verschiedenen Geschlechts streng trennten, übersah Annemarie diese verlogene Moral.
Meine älteste Tochter wurde wahrscheinlich auf den harten Spiralen der Valdenser Betten gezeugt – aber natürlich nicht im „Kinderhaus“, wo Jungen und Mädchen getrennt schliefen. Und wie wohl tat es mir, wenn wir abends mit Annemarie zusammensaßen, die ich übrigens nie so nannte, auch nicht, als sich aus der Lehrer-Schüler-Beziehung eine Freundschaft entwickelte.
In dieser späteren Zeit, etwa 1975, ging ich mit Annemarie durch die Geschäftsstraßen von Buenos Aires. Zu meinem Schrecken – sie war immerhin 75 – sagte sie mir, dass sie, die damals unter der Diktatur nach Deutschland zurückgewandert war, Uruguay nicht besuchen konnte, was sie so gerne gewollt hätte. Sie sei gewarnt worden.
Eine Bemerkung von ihr, die äußerst kritisch sich auf meine nie festliegende Haltung – besonders politisch – bezog, war: „Du willst dir nicht deine weiße Weste schmutzig machen.“ Sie hatte recht und ich dachte oft an ihren Ausspruch.
Rübchen war weich und hart zugleich. Einmal hatte ich Freunde, deren Vater ein in Argentinien berüchtigter Nazi war. Sie verbot mir, mit diesen je ihr Haus zu betreten. Obwohl die Kinder, meine Freunde, sich nicht mit ihrem Vater identifizierten, blieb sie eisern.
Ihren Sohn zog sie allein auf, d.h. alle spielten wir mit ihm und erzogen an ihm herum, worauf er sich meist auf das Hausdach flüchtete oder seinerseits nicht gerade sanft an den anderen Kindern herumerzog.
Magda

 

Spuren von „Rübchen“, die in mir fortleben

Rübchen habe ich im Jahre 1957 kennengelernt, als sie noch ihr Ferienheim für Emigrantenkinder führte. Es war schon die letzte Zeit dieser ersten Phase ihres Ferienheims. Denn die meisten dieser Kinder, die selber oder deren Eltern Ende der 30er Jahre ins Land gekommen waren, waren ja inzwischen erwachsen geworden. Am Anfang besuchte ich sie einfach und so entstand langsam eine altersmäßig etwas ungleiche Freundschaft, denn sie war 57 und ich 17. Eines Tages schlug sie mir vor, ihr im Sommer bei der Betreuung der Kinder zu helfen, und ich sagte mir Freuden zu.
Die unendliche Güte, die ihre Augen ausstrahlten, war das erste, was mir an ihr auffiel. Dieser erste Eindruck hat sich später hundertfach bestätigt. Vieles von ihrem Verhalten und ihrem Wesen passte sehr gut zum Ausdruck ihrer Augen, auch ihre vegetarische Lebenshaltung, die mit einer großen Toleranz verbunden war. So manches Mal briet sie ihrem Sohn Thomas und mir leckere Steaks. Da wir schon beim Essen sind: Nie werde ich den Tomatensaft vergessen, der immer in einem Tonkrug beim Mittagessen auf den Tisch kam. Sie presste ihn aus frisch in ihrem Gemüsegarten gepflückten Tomaten. Noch eine Spezialität von Rübchen: ihre berühmte Zwiebelsoße. Frische klein geschnittene Zwiebeln in Butter rösten und dann über die Salzkartoffeln gießen.
In langen Gesprächen, mit mir alleine oder mit Thomas und mir oder auch mit weiteren Freunden (viele von ihnen waren als Kinder ihre Gäste gewesen), vermittelte sie uns etwas von der Wandervogelromantik: die Naturverbundenheit, das Unkonventionelle, der Traum und der Wille, eine bessere und schönere Welt zu schaffen. Aber es waren nicht nur die Gespräche. Oft saßen wir abends unter dem Sternenhimmel um ein Feuer, da sangen wir herrliche Lieder aus ihrer Jugendzeit, z.B. „Die Gedanken sind frei“ und viele andere.
Eine kleine Anekdote: Meine Mutter war auch sehr unkonventionell, ich war in dieser Beziehung also einiges gewohnt, aber nicht sowas. Eines Tages gingen wir die Dorfstraße entlang und als wir an einen Spielplatz gelangten, setzte sie sich auf eine der großen Schaukeln und begann zu schaukeln, als wäre es für eine 60-Jährige das Selbstverständlichste auf der Welt, wie eine Sechsjährige zu schaukeln. Man muss bedenken, dass damals die Altersunterschiede gerade äußerlich viel ausgeprägter waren als heutzutage. Ich setzte mich auf eine andere Schaukel und wir schaukelten um die Wette. Selten habe ich in meinem Leben so schön geschaukelt und natürlich war ich mehr als erstaunt darüber, dass eine 60-jährige ehemalige Pastorin ihre Lebensfreude in dieser Form äußerte.
Am meisten hat mich natürlich ihre Beschreibung ihrer letzten Stunden in Deutschland beeindruckt. Nach einer Hetzkampagne gegen die Juden im April 1933 hat sie ihren üblichen Gottesdienst gehalten, nicht ohne SA-Bewachung in den letzten Reihen. Ihre Predigt beendigte sie mit der Aufforderung: „Und nun beten wir für unsere jüdischen Volksgenossen.“ Für die jüngeren Leser sei hier gesagt, dass dieser Begriff dem Nazijargon angehörte und dass er natürlich nur für sogenannte – ich zögere, das Wort zu schreiben – „Reinrassige“ gedacht war. Danach schwang sie sich auf ihr Fahrrad und fuhr direkt in Richtung holländischer Grenze, bis sie auf der anderen Seite war. Von da ging kurz danach ihr Fluchtweg weiter.
Im letzten Sommer, in dem ich ihr bei der Betreuung der Kinder geholfen habe, hat sie mir ihr Exemplar vom „Lehrbuch der Geschichte der Philosophie“ von W. Windelband geschenkt, eine außerordentlich gute, in sich sehr schlüssige Darstellung, die mir jahrelang in meiner Laufbahn als Philosophielehrer immer sehr gute Dienste geleistet hat. Ich empfand es als große Ehre, dass sie mir dieses Buch zueignete. Auf der ersten Seite steht, von ihr in der damals noch üblichen Sütterlin-Schrift geschrieben – das Buch liegt jetzt vor mir – „Annemarie Rübens, Bonn, 1926“. Als ich dann 35 Jahre später nach Bonn kam und uns dort die Universität gezeigt wurde, auch mit Erwähnung einiger Berühmter, die dort studiert hatten – unter ihnen eine Zeitlang Karl Marx –, dachte ich für mich: „Die Reiseführer hier wissen zwar vieles, aber von Rübchen wissen sie gar nichts.“
Nun einige Sätze von ihr, die mir über diese ganzen Jahre in Erinnerung geblieben sind:
„Solange es nicht einen Pass für die ganze Welt gibt, soll man so viele wie möglich haben.“
„Gewalt ruft Gewalt hervor.“ „Wer sich für einen Beruf entscheiden will, muss zuallererst wissen, ob er mit Menschen oder mit Sachen arbeiten will.“ Von diesen Sätzen – besonders vom letzten – und auch von Rübchen selber habe ich oft meinen Schülern erzählt. Am Anfang der Laufbahn als Lehrer weiß man nicht, wie stark ein Wort, ein beiläufig gesagter Satz auf so manchen Schüler wirken kann. Solche Dinge erfährt man erst im Laufe der Jahre, wenn man ab und zu ehemalige Schüler auf der Straße trifft.
Dies war bei einem so außerordentlichen Menschen wie Rübchen natürlich erst recht der Fall. Zum Abschluss möchte ich noch etwas Wichtiges sagen: Sie war ein außergewöhnlicher Mensch, aber sie lebte und verhielt sich in so selbstverständlicher Form, dass sie sich gar nicht dessen bewusst war, wie außergewöhnlich sie war. Aber das war sie wirklich. Auch wenn es ihr nicht so bewusst war. Oder vielleicht gerade deshalb.
Hans Kupfer

 

Ausruhen

Es gibt Erinnerungen, tief im Grunde des Gedächtnisses, die über viele Jahre hinweg wieder ins Blickfeld rücken, um sich da mit anderen Gefühlen zu verbinden. Sich an Ana María zu erinnern, bedeutet eine Visitenkarte mit ihrem Namen, ein Fahrrad, das durch Amsterdam fährt, ein neues Wohnhaus in Colonia Valdense, ein Wort des Trostes und „Ruhe aus, du musst jetzt ausruhen.“
Das sagte sie mir, als ich sie kennenlernte inmitten der Ruinen meines Hauses. Die Todesschwadron hatte eine Bombe in mein Haus gelegt, die um 12 Uhr Mitternacht explodierte. Als ich am Tag darauf nach Hause kam und eintreten wollte, fand ich auf dem Boden der Garage, deren Tor zusammen mit der Haustür fortgeschleudert worden war, eine Karte von Ana María Rübens mit ihrer Adresse und Telefon. Zu jener Zeit, verfolgt von Polizei und Militär, misstrauten wir allen und jedem.
Da ich den Namen nicht kannte, rief ich nicht an. Nach ein paar Tagen war wieder so eine Karte da und das wiederholte sich dreimal, bis ich anrief. Tags darauf kam sie mich besuchen und bot mir ihre Hilfe an, vor allem riet sie mir, ich müsste ausruhen. Sie lud mich in ihr Haus in Colonia Valdense ein, und da verblieb ich einige Tage ihre Gastfreundschaft genießend.
In jenen Tagen erzählte sie aus ihrem Leben, von ihrer Mutterschaft, ihrem Exil in Amsterdam auf der Fucht vor den Nazis, ihrer Ankunft in Uruguay und ihrer Arbeit hier. Das war für mich starker Balsam, zumal ich alles verloren hatte, Ehemann und Kinder und nur das Haus geblieben war, das sie nun auch zerstören wollten.
Ich glaube, niemand, der mit ihr je zu tun hatte, kann sie vergessen, und es ist mir eine Genugtuung, mit diesen Zeilen mich auch der Huldigung durch ihre Freunde anzuschließen. Auf dass es viele Ana Marías gäbe in einer Welt, die es angesichts der Härte der gegenwärtigen Konfrontationen so nötig hat, Leiden zu lindern.
Baíta

 

Mit dem Jahrhundert geboren

Im Komitee der Familienangehörigen der politischen Gefangenen, in dem ich mitarbeitete, sagte man mir eines Tages im Jahre 72, ich solle nach Colonia Valdense fahren, um da mit einer „Alten“ zu reden, die angeboten hatte, den Kindern politischer Gefangener zu helfen. So fuhr ich dahin, etwa 120 km von Montevideo aus, um zu erkunden, worin das Angebot bestand und mir vor Ort die Leute da anzusehen. Eines Morgens kam ich mit den einzigen Bezugspunkten „ein großes Hoftor“ und „das Haus einer deutschen Frau“ in diesem Städtchen an.
28 Jahre danach kann ich nun die Gelegenheit wahrnehmen, Ana María Rübens in einer ihrer Lebensperioden in Uruguay zu gedenken. Wie sie mit großer Liebe vielen Kindern half, die daran litten, dass ihre Eltern ins Gefängnis gekommen waren, so wie sie es schon einmal zuvor mit anderen Kindern getan hatte.
Wie weit weg erinnere ich mich an sie, wie sie da zwischen der chilenischen Eiche und dem Ibirapitábaum von Artigas stand, der voller gelber Blüten reichlich Schatten spendete. Auch sehe ich „Mimo“ vor mir, jenes zahme Pferd mit seinem gemächlichen Trott und wie die Kinder ihm ins Maul zu fressen gaben.
Und weit weg vom Lärm der Stadt, im Frieden der Natur, von den Kindern umgeben, strömte die Gegenwart von Ana María Ruhe und inneren Frieden aus, ein Vertrauen in die Zukunft. Sie hatte die Gabe, mit den Kindern zu spielen, sie die Geheimnisse der Natur zu lehren, mit ihnen Kartoffeln und Paprikaschoten zu ernten, sie mit ausgedehnten Spaziergängen bis an den Fluss zu ermüden, ihnen Märchen zu erzählen und sich dabei an ihrem Lachen zu erfreuen.
Auch für die Erwachsenen war da eine geistige Zuflucht. Nach einem langen Tag konnten wir uns um das Feuer setzen, während sie schmerzhafte Geschichten aus der Vergangenheit und wir schmerzhafte aus der Gegenwart erzählten. Ihre warme und bedächtige Stimme, die Sanftheit, die ihre kleinen Augen hinter starken Gläsern ausstrahlten und die innere Kraft, die sie zu übertragen im Stande war, gaben uns Sicherheit und neue Stärke. Denn unsere Kinder waren in Sicherheit und gut behütet, sie gab ihnen ihre ganze Liebe, ihren Schutz, Hingabe und Weisheit, ihre Freude ohne jegliche Gegenleistung.
Sie war mit dem Jahrhundert geboren.
Daría Orono

 

Zuflucht

Mein Name ist María. Als ich dich, Ana María, kennenlernte, hast du mich sehr stark beeindruckt. Bei dir lernte ich etwas toleranter zu sein, die anderen, die Mitmenschen, ein wenig mehr lieb zu haben.
Als wir mit unseren Kindern traurig und verunsichert in Colonia Valdense ankamen, gabst du uns neuen Mut. Da endlich fanden wir unsere Ruhe wieder. Alles lag so natürlich und in Frieden da, das Haus mit der Feldküche, davor der große Tisch mit den langen Bänken, denn wir waren viele. Ein Pferd graste im Garten und auch eine Eidechse war da, die, wie du sagtest, zum Haus gehörte.
Mit den Kindern und ihren Streichen hattest du eine ungewöhnliche Geduld, lehrtest sie die Sachen im Haus bewahren, nicht nur weil sie kaputt gehen könnten, sondern auch aus Achtung vor der Arbeit und den Arbeitern, die sie hergestellt hatten.
Vor den Valdensern gabst du uns als eine Ferienaufenthaltsgruppe aus und den Kindern erklärtest du, dass viele Leute nicht verstehen, wieso ihre Papas und Mamas für ihre Ideen ins Gefängnis gesperrt wurden. Mir zeigtest du auch in einem Atlas deinen Fluchtweg aus Deutschland nach Holland, als die Nazis dich verfolgten.
Als ich von dir ging, weinte ich, aber etwas von dir ist mir geblieben: deine Solidarität, deine Nächstenliebe, deine Hingabe für alle Leidenden. So danke ich dem Leben, dass ich dich kennengelernt habe. Auch jetzt, wo du nicht mehr bist, denke ich liebend an dich.
María

 

Erinnerungen an Rübchen

Es klingelte an der Tür und ich machte auf. Die Person, die draußen stand, war mir unbekannt. Es war eine Frau von geringer Statur, in fortgeschrittenem Alter, in Hose und Hemd, mit kurzgeschnittenem, weichem, graumeliertem Haar, und hinter starken Augengläsern blickten mich ein paar hellblaue Augen aufmerksam an.
„Sind Sie die Frau des Pfarrers?“, fragte sie und als ich bejahte, „ach, dann können wir ja Deutsch sprechen.“
Während ich sie in den Flur führte, sagte sie mir, sie habe erfahren, was meinem Mann geschehen wäre und dass sie gekommen sei, um mir, soweit sie konnte, ihre Hilfe anzubieten. Auch hatte sie mir ein Buch mitgebracht – Zeugnisse deutscher Häftlinge aus Nazikerkern –, das mir gerade recht käme.
Ach ja – ich wußte noch gar nicht, wer sie war – im Ort kannte man sie als „die Frau Rubens“ und munkelte, sie wäre so ein bisschen verrückt. Ihr kleines Landgut lag weiter draußen. Man müsste nur den Sandweg weiter gehen bis zu dem rotbemalten Hoftor rechter Hand. Ich sollte kommen, wann immer ich wollte und die Kinder mitbringen. Ich sollte nicht auf mich warten lassen, sie  erwarte mich jederzeit.
So lernte ich Ana María Rübens kennen. Das war am 10. Novemb. 1974. Tags zuvor waren die „Milicos“ gekommen,  hatten das Pfarrhaus mit bewaffneten Leuten umzingelt und eine Hausdurchsuchung  im Schreibzimmer des  Pfarrers Carlos Delmonte  durchgeführt. Nachdem sie alle seine Papiere durchwühlt und bestätigt gefunden  hatten, dass er der Direktor des „Men- sajero Valdense“ (Waldenser Bote) war, nahmen sie ihn in ihrem Kombi mit.
Acht Monate zuvor waren wir von Argentinien nach Colonia Valdense gekommen und Carlos war zum Titularpfarrer der Waldenser Kirche in jedem Städtchen gewählt worden. Wir hatten vier Kinder zwischen zwei und zehn Jahren. In den acht Monaten hatten wir noch nicht alle Leute der Ortschaft kennengelernt und von jener Person hatte uns noch nie jemand etwas erzählt. Eine Deutsche, die in Colonia Valdense ansässig und offensichtlich eine „Subversive“ war. Es war die Zeit, wo man sich hüten musste, wen man besuchte. Alles wurde sofort bekannt, alles irgendwie gedeutet.
Vor dem imaginären militärischen Bewacher, der mich in jenen Tagen überallhin begleitete, suchte ich mich mit dem Argument zu rechtfertigen, schließlich hätte ich das Recht, eine Landsmännin zu besuchen. So ging ich zu dem Haus mit dem roten Hoftor. Nach unserem ersten kurzen Zusammentreffen im Stehen im Hausflur der Pfarrei nahmen wir uns jetzt erst mal Zeit, uns einander vorzustellen, ein jeder mit seiner eigenen Geschichte. Schon bei diesem zweiten Treffen sagte mir Rübchen, dass sie Theologie studiert habe, alle Kurse durchgemacht, die Prüfungen bestanden, aber nie das Pfarramt habe ausüben können. Dieses Thema beließ sie als notwendige, aber schon nicht mehr bedeutsame Einleitung, mehr wohl als Angabe einer Datei, auf deren Existenz sie zwar hinweisen, aber nicht näher darauf eingehen wollte.
Unsere „deutschen Vergangenheiten“ hatten so wichtige gemeinsame Elemente, als ob wir uns seit eh und je gekannt hätten. Köln-Lindenthal, wo sie aufgewachsen war und ich zwei Jahre gelebt hatte, das „Landschulheim am Solling“, wo ich aufgewachsen war, während sie ein ähnliches Internat, „Birklehof“ im Schwarzwald, kannte. Diese Erziehungs-Landheime waren aus der anti-bürgerlichen Jugendbewegung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts hervorgegangen. Sie beabsichtigten, der Jugend eine integrale, naturnahe Erziehung mit den Idealen der Kameradschaft unter den Schülern und zwischen Schülern und Lehrern fürs Leben mitzugeben.
Dann … die Witwe des Grafen von Schulenburg, die Mutter zweier meiner Klassenkameradinnen. Das Holländische! Sie erzählte mir von ihren Radfahrten quer durch Holland – mit demselben Rad, das sie noch in Colonia Valdense hatte –, wo sie Privatunterricht bei Familien gab, die sie zu „een kopje thee en een koekje“ einluden. Aber nur ein Stückchen Kuchen stets, wo sie doch so gern zwei genommen hätte.
So, nach Berichten aus deutscher und holländischer Vergangenheit und uruguayischer Gegenwart und über die Situation ihrer und unserer Familie, wuchs bald gegenseitiges Vertrauen. Wir entdeckten sogar, dass wir beide etwas Latein beherrschten, erinnerten uns an „Quousque tandem Catalina …“ und feierten es, dass das Zitat auf die Situation, die wir grad durchlebten, so gut passte. (Denn so begann die erste Rede Ciceros: „Wie lange noch, Catalina…“ wirst du unsere Geduld missbrauchen?)
Obwohl sie anscheinend abgewandt von der Waldenser Gemeinde lebte, verfügte sie über einen erstaunlichen Informationsdienst, wußte alles von allen und vor allem ganz genau, „wem zu trauen war und wem nicht“. Sie erzählte mir von Bruno Malán, damals noch Student der Veterinär-Fakultät, als ihrem Vertrauensmann und ganz besonderen Helfer.
Unmöglich, alle Treffen und Erinnerungen aufzuzählen, die bei Rübchens Namen einem wiederkommen. Als Carlos nach zehn Tagen aus der Haft freikam, gingen wir mit den Kindern hin. Die waren begeistert von „Mimo“, dem Pferd, das auf den Ruf „Komm Mimo“ reagierte, und baten oft: „Gehen wir doch zu Komimo.“ Sie zeigte uns den Park. „Diese Nussbäume habe ich aus Nusskernen von Weihnachtspaketen aus Deutschland gepflanzt.“ Und die Bücher! Die meisten auf deutsch, wir sollten nur sagen, was wir wollten. Und borgten uns biblische Erzählungen aus der Sicht eines kleinen Mädchens.
Im Winter 1975 bat sie mich um Hilfe: „Ich habe ein Kinderferienlager bei mir im Haus an der Ecke. Es sind Kinder von Gefangenen. Komm doch nachmittags mit ihnen spielen, Märchen erzählen und singen …“ So ging ich einige Male hin und hörte mir an, was sie, die so gut die Probleme eines jeden Kindes kannte, von ihnen erzählte und wie sie ihnen zu helfen suchte.
Carlitos erzählt: „Einmal unterhielt sie sich mit mir im Schreibzimmer des Pfarrhauses, als ein Kind reinkam, der Sohn eines Gefangenen, der bei ihr zu Hause spielte. Ana María hörte ihm aufmerksam zu, und als er sie einlud, ein Schneckenwettrennen, das er veranstaltete, anzusehen, verließ sie, ohne zu zögern, mein Schreibzimmer, um da zuzuschauen. – Ana María war für mich stets eine wahre Persönlichkeit. Eine Frau, die nicht durch ihre Erscheinung, sondern durch ihr Innenleben beeindruckte.“
Ich sprach schon von unserem Wiedersehen, doch ich wiederhole es nochmal. Das war im Omnibus, der die ankommenden Passagiere auf dem Flughafen von Carrasco fährt. Das war im Januar 1982, ich kam von Lima an einem Sommermittag an. Als ich, ohne sonderliches Interesse, mir meine Mitpassagiere anschaute, bemerkte ich plötzlich eine winterlich gekleidete Gestalt. Dieses mattgraue Haar, diese starken Augengläser … Rübchen! Wo kommst du her? Was machst du hier? Sie war mit einem Charterflug von Belgien nach Santiago gekommen und von da nach Montevideo. Nachdem sie in Brüssel eine fürchterliche Kälte durchstanden hatte, schwitzte sie jetzt in Montevideo. Nein, niemand erwarte sie hier, wir könnten zusammen nach Colonia Valdense fahren.
Ja, besteht denn keine Gefahr mehr?
„Nun … eine alte 81-Jährige werden sie doch wohl nicht einsperren!“
Elisabeth

 

Annemarie Rübens – eine Begebenheit

Es war im Oktober 1975, als Rübchen auf der Cap San Diego von einem Deutschlandbesuch zurückkam. Ich hatte wenige Tage vorher durch einen privaten Kontakt zu einer uruguayischen Behördenangestellten in Erfahrung gebracht, dass die Militärs sie während ihrer Abwesenheit in Colonia Valdense gesucht hatten. Dies wollte ich ihr sagen, bevor sie wieder uruguayischen Boden betrat. So wartete ich frühmorgens auf das Einlaufen des Schiffes und konnte Rübchen dann über ihren gepackten Koffern die unerfreuliche Nachricht überbringen. Sofort entschied sie sich, nach Buenos Aires weiterzureisen, um dort wieder auf demselben Schiff nach Deutschland zurückzukehren. Blieb die Frage, was sie unter diesen Umständen nun mit dem Tag in Montevideo anfangen sollte. Um ihren Pass nicht vorzulegen und sich so zu erkennen zu geben, durfte sie nur als gewöhnlicher Transitpassagier an Land gehen, der nach einigen Stunden wieder an Bord zurück muss. Das geschieht mit einem Tagesschein des Bordoffiziers, den die Einwanderungsbehörden akzeptieren, man braucht kein persönliches Dokument vorzulegen.
Wir hatten uns unterhalten, so wusste Rübchen, dass meine Frau und ich abends ins Theater wollten. Nach vielen Bemühungen hatten wir Karten für die „Hexenjagd“ von Arthur Miller bekommen. Das Werk, das er als Protest gegen die Ermittlungen des US-Kongresses unter McCarthy geschrieben hatte. Hier in Montevideo hatte dieses Theaterstück seit Wochen großen Erfolg und war ständig ausverkauft, der Anlass war ein Satz, bei dem das Publikum in einen nicht abreißenden Beifall ausbrach. Hier lässt der Autor sagen: „Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Kinder unterrichtet werden von Menschen, die religiös und politisch doktrinär und voller Hass gegen Andersdenkende sind.“
Gleich nach Errichtung der Diktatur in Uruguay hatten die Militärs vor allem die Pressefreiheit eingeschränkt und ihre Ausübung zu einer gefährlichen Tätigkeit gemacht. Vor allem war das gesamte Unterrichts- und Schulwesen schon in Händen von Personen, die keine ausgebildeten Lehrer, sondern nur stramme Antikommunisten waren, die auch die Handtaschen der Lehrerinnen nach „subversiver“ Literatur durchsuchten. Dieses Theaterstück war daher eine willkommene Gelegenheit, um den Militärs die Ablehnung durch das Volk zu demonstrieren.
Als sie davon hörte, wusste sie, was sie mit ihrem Bordschein anfangen wollte, meine Frau verzichtete auf ihre Karte und ich saß mit Rübchen abends in der ersten Reihe des Theaters und wartete auf den „Satz“. Der dann einsetzende Beifall war massiv, es wurde nicht nur geklatscht, es gab Zurufe und Pfeifen und ein Ende schien lange nicht zu erwarten zu sein. Mit der Zeit vernahm man ein Summen im Publikum, das Geräusch, das entsteht, wenn man tief im Hals bei geschlossenem Mund einen tiefen Ton produziert. In dieser ganzen Zeit bewegte sich Rübchen neben mir auf ihrem Sitz, sie klatschte nicht, sie hob und senkte beide Füße mit Kraft und schaukelte mit ihrem Oberkörper nach vorn und wieder zurück. Fünf Minuten, zehn Minuten, und dann wurde das Publikum müde und der Beifall wurde geringer und hörte auf – Rübchen hörte schon schlecht und in der ersten Reihe sah sie nicht, was im Saal geschah, sie machte weiter mit ihrem Protestbeifall, den sie in Deutschland von den jungen Studenten gelernt hatte und der hier noch völlig unbekannt war. Eine kleine, grauhaarige Frau mit dickglasiger Brille, die so plötzlich zur von allen beachteten Akteurin in einem neuen Theaterstück geworden war.