Für die Opferbewegung Movimiento de Víctimas de Crímenes de Estado war der diesjährige 6. März ein Datum von historischer Bedeutung. Der geplante Gedenktag für die Opfer von Verbrechen des kolumbianischen Staates war von einem großen Bündnis aus Gewerkschaften, sozialen Organisationen, politischen Vereinen und Menschenrechtsgruppen unterstützt und vorbereitet worden. Schon im Vorfeld war die Nervosität, die dieses Ereignis bei den Adressaten des Protestes auslöste, zu spüren.
Regierungssprecher unterstellten der Opferbewegung, die geplanten Aktionen seien von der Guerilla gesteuert. Der Druck auf die OrganisatorInnen erhöhte sich. Doch weder durch Kriminalisierungsversuche noch durch die drohende Repression ließen sich die Menschen davon abschrecken am 6. März auf die Straße zu gehen. Alleine in Bogotá waren es schließlich mehr als 300 000. Nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in 24 weiteren Städten des Landes und insgesamt 102 Orten weltweit gab es Protestveranstaltungen und Solidaritätskundgebungen. Die Demonstrationen erwiesen sich als beeindruckender Erfolg für das Bündnis. Selbst in Gemeinden und Städten, in denen paramilitärische Banden das Sagen haben, beteiligten sich Tausende an Gedenkveranstaltungen.
Die besondere Brisanz dieser Massenproteste bestand in ihrer Absicht, den Staat als zentralen Gewaltakteur im kolumbianischen Konflikt sichtbar zu machen. Zehntausende Menschen hielten Fotografien von Ermordeten und Verschwundenen in die Höhe, deren Schicksale darauf verweisen, dass die kolumbianische Staatsmacht nicht etwa als schützende und unparteiische Kraft zwischen den Extremen von rechts und links agiert, sondern eine Gewaltgeschichte gegen die eigene Bevölkerung zu verantworten hat.
1982 hatte der kolumbianische Staat einen folgenschweren Strategiewechsel im Rahmen der Aufstandsbekämpfung im bewaffneten Konflikt gegen die Guerilla vollzogen. Die Zivilbevölkerung wurde in den Fokus militärischer Aktionen gerückt und soziale Bewegung als Systembedrohung definiert, der man mit allen Mitteln Einhalt gebieten müsse. Mit Unterstützung von Großgrundbesitzern und im Bündnis mit mächtigen Drogenkartellen wurden paramilitärische Todesschwadronen geschaffen, um diese Aufgabe zu erfüllen. Innerhalb von 20 Jahren vollzog sich eine der größten humanitären Katastrophen der Gegenwart. Bis 2005 wurden in Kolumbien fast vier Millionen Menschen gewaltsam von ihrem Land vertrieben. Mit unbeschreiblicher Gewalt wurden Massaker an der Zivilbevölkerung angerichtet, 3500 Menschen in Massengräbern verscharrt. Mehr als 15 000 KolumbianerInnen wurden verschleppt und Opfer des so genannten „gewaltsamen Verschwindenlassens”.
Systematisch kamen staatlich protegierte paramilitärische Todesschwadronen in den sozialen Konflikten des Landes zum Einsatz, um infrage gestellte Autorität wiederzuherstellen oder private wirtschaftliche Interessen gewaltsam durchzusetzen. Die paramilitärischen Gruppen sind unter anderem verantwortlich für die gezielte Ermordung von mehr als 2500 GewerkschafterInnen, von 1700 Indígenas sowie für die Vernichtung der kolumbianischen Linkspartei Unión Patriótica (UP): 5000 ihrer ParteianhängerInnen, nahezu alle Parteifunktionäre und gewählten RepräsentantInnen wurden Opfer von Mordanschlägen.
Der Paramilitarismus erwies sich als zentraler Stützpfeiler des politischen Regimes. Seine Strukturen wuchsen und verfestigten sich mit der Zeit. Als Präsident Álvaro Uribe Vélez 2002 sein Amt antrat und die Weichen für die Demobilisierung und Reintegrierung der paramilitärischen „Selbstverteidigungsgruppen“ (Autodefensas Unidas de Colombia – AUC) stellte, hatten sich diese (je nach Schätzung) zwischen vier und sieben Millionen Hektar Land gewaltsam angeeignet, die Kontrolle über weite Landstriche übernommen und in zahlreichen urbanen Zentren parallele Herrschaftsstrukturen geschaffen. Der Großteil der traditionellen Elite hatte sich mit dem Paramilitarismus eingelassen, 35 Prozent der politischen RepräsentantInnen wurden direkt oder indirekt von paramilitärischen Strukturen kontrolliert. Grundlage für die Reintegrierung der paramilitärischen Gruppen bildet das Gesetz „Gerechtigkeit und Frieden“.
Es wurde von der Regierung als faires und probates Mittel gehandelt, dem Land Frieden zu bringen und den Tätern in strafrechtlicher Hinsicht Zugeständnisse einzuräumen. Das Gesetz sieht u.a. vor, dass paramilitärische Kommandanten auf der Grundlage eines freien Berichtes Zeugnis über die von ihnen begangenen Taten ablegen können und im Gegenzug eine weitgehende Amnestie erhalten. Während in Regierungskreisen und Medien die Demobilisierung der sogenannten paramilitärischen „Selbstverteidigungsgruppen“ als Ende des Paramilitarismus in Kolumbien gefeiert wurde, übten Opferverbände und Menschenrechtsgruppen scharfe Kritik: Schwere Menschenrechtsverletzungen würden nicht geahndet, Hintermänner und verantwortliche Strukturen blieben im Dunkeln, die Geschichte würde von den Tätern geschrieben und die Rechte der Opfer verhöhnt und missachtet.
Vier Tage nachdem der Kongress im Sommer 2005 das Gesetz – nationalen und internationalen Protesten zum Trotz – mit großer Mehrheit verabschiedet hatte, formierten sich Menschenrechtsgruppen, soziale Organisationen, Opfergruppen und Hinterbliebene zum Movimiento de Victimas de Crímenes de Estado. Ziel des Bündnisses ist es, eine starke Lobby für diejenigen zu schaffen, deren Rechte und Ansprüche bei den Vereinbarungen zwischen Regierung und Paramilitärs keine Rolle gespielt haben. Es will den Opfern Gehör verschaffen, die Verantwortlichen für die begangenen Verbrechen benennen, für materielle Entschädigung kämpfen sowie aufzeigen, dass mit den Verbindungen des militärisch-paramilitärischen Komplexes nicht gebrochen wurde, sondern dass sich diese Strukturen bis in die Gegenwart fortsetzen.
Die hierzu von internationalen Menschenrechtsorganisationen genannten Zahlen sprechen für sich. Seitdem die Paramilitärs im Dezember 2002 verkündeten, jede Art von Feindseligkeit gegen die Bevölkerung einzustellen und nie wieder die Waffen zu erheben, wurden Jahr für Jahr mindestens 600 Menschen von paramilitärischen Kommandos gezielt ermordet. Hinzu kamen etliche Fälle, in denen das kolumbianische Militär selbst als Akteur von schweren Menschenrechtsverbrechen in Erscheinung trat. Von 2002 bis 2005 konnte ihm in 950 Fällen nachgewiesen werden, ermordete Bauern als „im Kampf gefallene Guerilleros“ präsentiert zu haben.
Auch erwies sich die Behauptung der kolumbianischen Regierung, dass der Paramilitarismus demobilisiert wurde, als fatale Fehleinschätzung der Lage. Es zeigte sich, dass der Demobilisierungsprozess nur in statistischer Hinsicht ein hinreißender Erfolg war. Über 31 000 Paramilitärs und nahezu alle in den AUC organisierten Gruppen hatten bis Ende 2005 ihre Waffen abgelegt. Trotzdem entglitt den Paramilitärs in keinem der von ihnen beherrschten Territorien die Kontrolle. An die Stelle der AUC traten die Aguilas Negras, die sich aus nicht demobilisierungswilligen Dissidenten aus den Reihen der AUC und kriminellen Banden rekrutierten. Sie nutzten dieselben Strukturen des institutionellen Paramilitarismus. Für die AktivistInnen der sozialen Organisationen ergab sich hieraus eine besonders schwerwiegende Situation. Zum einen hatte der bewaffnete Terror der Paramilitärs nicht aufgehört, sondern fand im neuen Gewand seine Fortsetzung. Zum anderen verlegten die demobilisierten Paramilitärs ihren Handlungsrahmen in öffentliche und legale Räume. Sie kontrollieren vielerorts die privaten Sicherheitsdienste, das Transportwesen und die Arbeitsvermittlungen. Sie gründeten Vereine, die – finanziell gut ausgestattet – soziale Arbeit in den Gemeinden aufnahmen, in denen zuvor die sozialen Organisationen mit brutaler Gewalt vertrieben worden waren. Der Terror wurde nicht demobilisiert und die Todesschwadronen der Aguilas Negras machen den Wiederaufbau der sozialen Bewegung unmöglich.
Die Reaktion der Todesschwadronen auf die Massenproteste am 6. März folgte unmittelbar. Schon im Vorfeld hatten die OrganisatorInnen den gegen sie aufgebauten Druck zu spüren bekommen. Wiederholt wurden sie von Regierungsvertretern als Freunde und Handlanger von Terroristen und Guerilleros diffamiert. Dann begannen die Morddrohungen. Am 4. März verschwand der Gewerkschaftsvorsitzende Leonidas Gómez Rozo, seine brutal zugerichtete Leiche wurde vier Tage später aufgefunden. Am 6. März wurden mehrere KoordinatorInnen von Protestveranstaltungen bedroht. Am 7. März entging der Gewerkschafter Rafael Borda nur knapp einem Anschlag auf sein Leben, noch in derselben Nacht wurde der Lehrer und Aktivist Gildardo Antonio Gómez ermordet. Es gab Einbrüche und Überfälle auf die Büros mehrerer Organisationen, denen Festplatten und Computer entwendet wurden. Am 9. März wurde Carlos Burbano, einer der Organisatoren des 6. Märzes, ermordet.
Am 11. März wurden zahlreiche Gewerkschaften, Menschenrechtsgruppen und internationale Organisationen, die die Proteste vom 6. März begleitet, getragen oder unterstützt hatten, von den Aguilas Negras zu „militärischen Zielen” erklärt. Mindestens 31 Personen aus dem Kreis der OrganisatorInnen wurden persönlich mit dem Tod bedroht. Sechs Angehörige der Opferbewegung wurden ermordet. Fast täglich gibt es neue Vorfälle.
In einer Pressekonferenz kommentiert der Sprecher der Opferbewegung Iván Cepeda mit den bitteren Worten: „Wir stellen fest, dass der Präsident es sehr schwer haben wird, der Welt weiterhin weiszumachen, dass Kolumbien dem Paramilitarismus ein Ende gesetzt hat, wenn nach einer Großdemonstration eine Unmenge von Attentaten, Drohungen und Übergriffen auf die Bevölkerung niedergeht.“