Der Reichtum Europas gründet sich auf der Ausbeutung der Länder der Dritten Welt. Es ist Zeit für Europa, Verantwortung zu übernehmen.“ Mit dieser Aussage brachte Aleida Guevara, Tochter Ches und Ehrengast des Forums, den Nord-Süd Konflikt aufs Tapet. Auf einer der größten Veranstaltungen des ESF erntete sie damit großen Zuspruch des Publikums, annähernd 2000 Menschen applaudierten diesem und anderen Eckpunkten ihrer Rede. Damit war ihr Vortrag auf dieser Veranstaltung ein positiver Lichtblick zwischen platten demagogischen Reden gegen den US-Imperialismus und die Besatzung Iraks. Auch wenn kaum analytische Standpunkte gebracht, oder eine Brücke zur Politik der EU geschlagen wurde, hatten insbesondere die brillanten englischen Redner die Zustimmung des Auditoriums hinter sich.
Neben dem Thema US-Imperialismus waren die neue EU-Verfassung, die neoliberale Globalisierung und der Widerstand dagegen, sowie der Konflikt in Israel/Palästina zentrale Themen des Forums, das in einem Veranstaltungs- und Messezentrum im viktorianischen Stil – dem Alexandra Palace – außerhalb Londons stattfand. Vom grünen Hügel war das Zentrum der Stadt nur noch als im Dunst verschwindende Skyline zu erkennen. Auch über die Stadt verteilt fanden zahlreiche Veranstaltungen statt, die meisten davon im Studenten- und Universitätsviertel Bloomsbury. Mit etwas über 20 000 TeilnehmerInnen kamen weit weniger Menschen zum Forum als in den letzten beiden Jahren. Die Veranstaltungen waren ziemlich professionell durchorganisiert, vor allem dank Hunderter Freiwilliger, die in den Gängen des Alexandra Palace, wie im gigantischen Millennium-Dome, in dem mehrere Tausend „Habenichtse“ untergebracht waren, Aufsicht führten.

In diesem Jahr gab es einige interessante Veranstaltungen, die sich mit Lateinamerika und der Beziehung zur EU beschäftigten. Freitagvormittag fand eine Diskussion unter dem Titel „EU-Lateinamerika – im Zentrum des Sturms“ statt, an dem einige VertreterInnen lateinamerikanischer Organisationen teilnahmen. Zentrale Themen waren die Freihandelsabkommen und die Wirtschafts- und Außenpolitik der EU mit den lateinamerikanischen Ländern, sowie die europäische Entwicklungshilfe. Gérard Karlshausen von der belgischen Organisation CIFCA wies auf die Diskrepanz zwischen einer in den letzten Jahren stark zurückgehenden Entwicklungshilfe für Lateinamerika und steigenden Wirtschaftsexporten hin. Dazu kommt seiner Ansicht nach das Phänomen, dass sich der Charakter der Hilfen immer mehr ändert und als Steigbügelhalter für die Implementierung neoliberaler Wirtschaftspolitik fungiert. Gab es in den 90er Jahren nach den mittelamerikanischen Friedensverträgen noch ein starkes Engagement der EU für zivilgesellschaftliche Entwicklung und Demokratisierung, so wird die EU heute zunehmend als Konkurrent der USA empfunden, der seinen Teil vom Kuchen abbekommen möchte. Ein weiterer wichtiger Punkt in der Diskussion war die Demokratie- und Menschenrechtsklausel in den Freihandelsverträgen, wie in dem der EU mit Mexico, und wie sie sinnvoll zu nutzen sei. Denn alle waren sich darüber im Klaren, dass sie den Charakter der Verträge nicht ändern, jedoch ein Aktionsinstrument dagegen sein könnten. Die VertreterInnen aus Mexico und Kolumbien betonten, wie wichtig eine Solidarität zwischen den BürgerInnen der EU und Lateinamerikas sei. Es wurden Vorschläge gemacht, sich gemeinsam zu organisieren und zu protestieren, wie im Frühjahr auf dem Gipfel der EU mit Lateinamerika im mexicanischen Guadalajara. 

Am Freitagnachmittag ging es um das Thema „Militarisierung in Lateinamerika – Der Plan Kolumbien und darüber hinaus“. Einig waren sich die Redner darin, dass die Militarisierung Lateinamerikas insbesondere von Seiten der USA zunehmend Hand in Hand mit der Wirtschaftspolitik geht. Es ist zu beobachten, dass die USA ihre militärischen Basen und die Stationierung eigener Soldaten in den verschiedensten Regionen Lateinamerikas kontinuierlich ausweiten. Dies geschieht mit den unterschiedlichsten Argumenten, wie der Grenzsicherung (Guatemala), dem Kampf gegen den Drogenhandel (Kolumbien), der Friedenssicherung und Demokratisierung (Haiti). Und wie schon im Seminar zur EU-Wirtschaftspolitik wurde auch hier die zunehmend regressive EU-Außenpolitik kritisiert. Ein venezolanischer Redner wies darauf hin, dass es weitverbreitet sei, das Schlechte nur in den USA zu suchen und die Verantwortung der eigenen Regierung wie anderer internationaler Akteure zu vergessen. Onécimo Hidalgo von CIEPAC in Chiapas/Mexico schloss die Diskussion mit einem kämpferischen Appell, eine gemeinsame Kampagne gegen die Militarisierung Lateinamerikas aufzuziehen und mit einer Stimme und einem Herz Widerstand zu leisten. Denn egal, wie weit sie die Militarisierung vorantreiben, so Onécimo, „niemals werden sie unsere Köpfe und Herzen kontrollieren“. Am Abend fand im Anschluss an diese Veranstaltungen ein Kampagnentreffen mit über 50 Vertretern statt, bei dem über eine gemeinsame Kampagne gegen die europäische Freihandelspolitik diskutiert wurde.

Außerhalb des offiziellen Rahmens des ESF fand in der Middlesex University im Stadtteil Tottenham das „Beyond ESF“, das Treffen autonomer Gruppen, statt. Hier gab es keine Anmeldung und keine Plastikbändchen zur Einlasskontrolle. An der Bar wurde fair gehandelter zapatistischer Kaffee verkauft und eine Volxküche versorgte die Teilnehmer gegen Spende mit Essen. Themen, die diskutiert wurden, waren Autonomie und Kampf, Repression und soziale Kontrolle, 10 Jahre zapatistischer Aufstand, Globale Migration sowie der G8 in Schottland im Juni 2005. In diesem Rahmen gab es auch eine Veranstaltung über die Repression während des Gipfels der lateinamerikanischen Staaten mit der EU im Mai 2004 im mexicanischen Guadalajara. In der vollständig militarisierten und überwachten Stadt fand während des offiziellen Gipfels auch ein Treffen der sozialen Bewegungen und Gewerkschaften statt, das mit einer Demonstration am 28. Mai endete. Ein Film zeigte eindrucksvoll, wie die Polizei und staatliche Provokateure systematisch die Demonstration aufrieben und die anschließende Nacht in der Stadt Jagd auf vermeintliche Demonstranten und Gewalttäter machten. Über einhundert Personen wurden rechtswidrig in Gewahrsam genommen, waren brutalsten Polizeimethoden ausgesetzt und aufgegriffene Ausländer wurden ausgewiesen (siehe Interview in dieser ila). Von Anfang an war auch das „Beyond ESF“ polizeilicher Überwachung ausgesetzt. Vor dem Eingang waren ständig mehrere Busse präsent und Teilnehmer, die das Gelände verließen, wurden gefilmt. 

Schon vor dem Beginn des Forums hatte es Kritik an der Organisation gegeben. Eine Gruppe englischer NRO ging mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit, in dem mangelnde Transparenz bei der Einladung der Hauptredner und die Dominanz einiger Gruppen, wie der britischen Socialist Workers Party (SWP), kritisiert wurde. Nicht zu übersehen war auch die zunehmende Kommerzialisierung des ESF. Selbst für einen Schlafplatz im Millennium-Dome mussten noch 15 Euro berappt werden, was bei vielen zu großem Unmut führte. Auch die große Präsenz privater Securities, die in mindestens einem Fall die Polizei in den Alexandra Palace einließ und Mitglieder des Autonomen Forums nach einer Aktion denunzierte, stimmte nachdenklich. Einer der größten Geldgeber war denn auch der Londoner Bürgermeister Ken Livingston – nach seinem zwischenzeitlichen Ausschluss wieder Mitglied von Blairs Labour-Party –, dessen Rathaus das Forum mit 400 000 Pfund unterstützte. Welche Vorstellung er vom ESF hat, zeigte er bei der elitären Eröffnungsveranstaltung in der alten, viel zu kleinen Southwark Cathedral, wo er mehrere Hundert Menschen vor der Tür im Regen stehen ließ.

Das ESF schloss am Sonntagmorgen mit der Versammlung der sozialen Bewegungen. Dort wurde eine Abschlusserklärung diskutiert und verabschiedet, die eine Arbeitsgruppe während des Forums erstellt hatte. Das Dokument ist der Versuch, die Diversität des Forums und der teilnehmenden Gruppen in eine Erklärung zu packen. Zentrale Elemente sind der Widerstand gegen die Besetzung Iraks und den Krieg gegen den Terror, sowie die israelische Politik in Palästina. Ausdrücklich wird der Bau der „Mauer der Apartheid“ verurteilt und werden politische und ökonomische Sanktionen gegen die israelische Regierung gefordert. Es wird dazu aufgefordert, zu zahlreichen Aktionstagen aufzurufen, wie der Mobilisierung gegen Gewalt an Frauen am 25. November, das Treffen von Schröder, Chirac und Zapatero im Januar in Barcelona, gegen die NATO-Konferenz im Februar in Nizza, den Ministerrat im März in Brüssel und den G8 im Juni in Schottland. Schon am Donnerstagmorgen hatte man in einem Vorbereitungstreffen entschieden, das nächste ESF erst im Frühjahr 2006 in Athen zu organisieren.

Das einzige große Event des ESF, das auch im Zentrum der Stadt Aufmerksamkeit auf sich zog, war die Abschlussdemonstration gegen den Krieg im Irak am Sonntagmittag. Ansonsten hieß es in Central London „Business as usual“. Es gab kaum Impulse des Forums auf das öffentliche Leben. Eine am Freitag geplante Demonstration im Bankenviertel musste kurzfristig abgesagt werden. Bei der Demo am Sonntag zogen fast 70 000 Menschen in einem zum Teil sehr farbenfrohen und kreativen Zug vom Russell Square in Bloomsbury vorbei an der Downing Street zum Trafalgar Square. An der Spitze des Zuges marschierten einträchtig VertreterInnen der muslimischen Gemeinden, AktivistInnen des Forums und der englischen „No War Coalition“. Am Trafalgar Square fand eine Abschlusskundgebung mit Konzert statt. Während auf einer großen Leinwand Kriegsbilder gezeigt wurden, kauten die Redner wieder und wieder das nach drei Tagen englischem ESF abgenutzte Thema US-Imperialismus und dessen Besatzung Iraks durch. Vor dem nächsten Forum in Griechenland wird sich das Organisationskomitee mit einigen kritischen Nachfragen zum Themenspektrum zu beschäftigen haben, wenn das ESF weiterhin die tragende Rolle der europäischen sozialen Bewegung spielen will.